Neue Züricher Zeitung, 13.1.2000

Grabenkämpfe um iranische Parlamentsanwärter

Breitseite des Wächterrats gegen Reformer

Die iranischen Konservativen suchen mit Hilfe des Wächterrats eine bedeutende Zahl von Reformern von den kommenden Parlamentswahlen auszuschliessen. Ihre Breitseite verschont aber die führenden Anhänger Präsident Khatamis. Durch Rekurse und hinter den politischen Kulissen tobt ein Ringen zur Vermeidung der Ausschlüsse.

vk. Limassol, 12. Januar

Wenn ein Beweis für die Belagerungsstimmung der iranischen Konservativen vonnöten war, so bietet ihn die jüngste Herabsetzung der Prozenthürden für die kommende Parlamentswahl im Februar. Wo zuvor mindestens 30 Prozent der Stimmen in einem Wahlkreis für einen Sieg im ersten Durchgang erforderlich waren, genügen nach dem revidierten Wahlgesetz 25 Prozent. Damit hat die konservative Mehrheit im ausgehenden Majlis (Parlament) deutlich gemacht, dass sie für die Kandidaten aus ihrem Lager merklich tiefere Stimmenanteile erwartet, weil die Volksgunst noch immer den Reformern Khatamis und dem politischen Zentrum Rafsanjanis hold ist. In den vergangenen Monaten hatten vorausblickende Konservative bereits mit Hilfe der Justiz die Kandidatenliste von Zentristen und Reformern gesäubert. In formal korrekten Gerichtsverfahren waren zunächst der Teheraner Oberbürgermeister Karbasji und später der ehemalige Innenminister Nuri zu Gefängnisstrafen verurteilt worden. Die letzte, erwartete Breitseite wurde am Montag abgeschossen, als Vertreter des Wächterrats ihre Empfehlungen für den Ausschluss «unislamischer Kandidaten» ausgaben; wie per Zufall war kein einziger Konservativer davon betroffen.

Auswahlkriterien mit Schlagseite

Das Bild nach der Ausforstung des Kandidatenfeldes ist unklar, wie iranische Politiker es lieben, weil der Bescheid der Zensoren nicht auf einmal, sondern an jeden einzelnen Anwärter ergeht. Zudem haben bisher erst die lokalen Überwachungsausschüsse ihre Empfehlungen an den zentralen Wächterrat ausgesprochen; die Betroffenen können bereits gegen diese Verfügung angehen. Den endgültigen Beschluss fällt der Rat in seiner Session ab Ende Januar. Nach einer Mitteilung der Teheraner Provinzverwaltung sind 71 von 985 Anwärtern im ganzen Distrikt disqualifiziert worden; dazu kommen noch 41, die bereits durch das Innenministerium in einer Selektion nach säkularem Recht abgewiesen wurden, also total 112 Ausschlüsse. Die sonst verfügbaren Teilresultate, die auf Erklärungen politischer Parteien zurückgehen, werden in der iranischen Presse widersprüchlich ausgelegt. «Mehr als 90 Kandidaten der Khordad-Front (Khatamis Reformer- Allianz) ausgeschlossen» meldete am Mittwoch die Zeitung «Bayan»; «die meisten Reformanhänger bestätigt» hiess es gleichentags im «Iran daily». Viele sahen auch einen Fortschritt darin, dass bisher knapp zehn Prozent der 6860 Anwärter disqualifiziert sind, während es bei den letzten Wahlen 1996 noch 35 Prozent waren.

Schärfere Konturen zeichnen sich erst ab, wenn man das Feld von der anderen Seite her ansieht. So haben die Zensoren bei ihrer islamischen Charakterprüfung, nach den Presseberichten zu schliessen, an keinem einzigen Konservativen Anstoss genommen, und ebensowenig an den zentristischen «Dienstleitern für den Aufbau», der ursprünglichen Partei des früheren Staatschefs Rafsanjani. Der ehemalige Präsident kandidiert heute als Parteiloser. Auf der anderen Seite hingegen kam schon der prominenteste Reformer und nach Khatami wohl populärste Politiker, Abdallah Nuri, wegen seiner Haftstrafe auf die schwarze Liste. Weiter reihten die Sittenwächter sämtliche reformerischen Medienleute auf: aus der «Beteiligungsfront» Abbas Abdi und Hamidreza Jalaipur, weiter Mohammad Mussavi-Khoeiniha und Latif Safari, den linken Studentenführer Heshmatollah Tabarzadeh und andere mehr. Die anderen führenden Politiker des linken Khordad-Lagers blieben freilich ungeschoren: Khatamis Bruder Mohammed-Reza von der «Front», Mehdi Karrubi und der ehemalige Innenminister Mohtashemi von der «Union kämpferischer Geistlicher» (Ruhaniun) sowie der linksradikale Behzad Nabavi von den «Mujahedin der islamischen Revolution». Ganz ausgeschlossen sind offenbar auch die «Freiheitsbewegung» von Ibrahim Yazdi und die Nationalisten der Mosaddegh-Strömung. Der Rest der schwarzen Schafe sind angeblich Schah- Anhänger, Drogensüchtige und Kriminelle.

Verwirrende Fronten

Nach widersprüchlichen Berichten soll der Wächterrat auch zwischen einem und 30 der heutigen Parlamentsmitglieder die Kandidatur für die Wiederwahl verwehren. Weiter liessen seine Organe 80 jener Kandidaten zu, welche das Innenministerium abgewehrt hatte. Ein Mitglied des Wächterrats machte darauf aufmerksam, dass der Rat schliesslich auch, entgegen den Empfehlungen seiner Lokalvertreter, Bewerbungen annehmen oder abweisen kann. Gewiss ist somit lediglich, dass ein erbittertes Ringen um die Majlis-Wahlen im Gange ist, weil die Konservativen ihre legislative Sperrposition gegen Khatamis Reformen nicht aufgeben wollen. Zweifellos zieht der Präsident hinter den Kulissen alle Fäden, um die Intrigen der Gegner abzuwehren; eine prominente Intervention zum offenen Beweis seines Einflusses ist freilich bisher ausgeblieben.