Der Bund (CH), 13.1.2000

Ankara scheut vor mutigen Schritten zurück

TÜRKEI / Obgleich die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) seit der Verurteilung ihres Chefs Abdullah Öcalan empfindlich geschwächt ist, hat sich bisher die Haltung der Regierung gegenüber den Kurden nicht geändert. Auch die gestern beschlossene Verschiebung seiner Hinrichtung wird sich auf die Minderheit von zwölf Millionen kaum auswirken.

BIRGIT CERHA, NIKOSIA

Die gestrigen Verhandlungen innerhalb der türkischen Regierung über das weitere Vorgehen im Fall des zum Tod verurteilten PKK-Chefs Öcalan sind zur Nagelprobe für das heterogene Koalitionskabinett von Ministerpräsident Ecevit geworden: Der Premier will den Entscheid des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte abwarten, sein rechtsgerichteter Partner MHP (Partei der nationalistischen Bewegung) dringt auf eine rasche Vollstreckung des Todesurteils und möchte den Fall dem Parlament überweisen. Vorerst setzte sich Ecevit durch.

Warten auf ein Zeichen Die MHP beruft sich dabei auf die Haltung grosser Teile Bevölkerung: Diese sind immer noch vom Hass gegen jenen Mann geprägt, den der türkische Staat für den Tod von mehr als 30 000 Menschen verantwortlich macht. Zugleich jedoch warten besonnenere Kräfte auf ein Zeichen Ankaras, das eine neue Strategie gegenüber den zwölf Millionen missachteten Kurden erkennen liesse. Die Ausschaltung Öcalans böte zweifellos einen «historischen Anlass». «Mehr und mehr scheint sich heute für die Herrscher in Ankara, aber auch für die Europäische Union das Problem der Kurden in der Türkei auf die Frage Öcalan zu reduzieren», klagt ein kurdischer Intellektueller. Die EU hatte energisch klargestellt, die Hinrichtung des PKK-Chefs würde die Beziehungen zur Türkei aufs Schwerste belasten. «Was aber», so der Intellektuelle, «wenn Öcalan nicht hingerichtet wird und die Unterdrückung des kurdischen Volkes unvermindert anhält?» Dazu äusserte sich die EU vorerst kaum. Seit der PKK-Chef aus dem Gefängnis im vergangenen Sommer seine Kämpfer zur Aufgabe drängte, haben die gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Armee stark abgenommen. Die Wahl von 37 Bürgermeistern der prokurdischen Partei der Volksdemokratie (Hadep) im April hat auch das psychologische Klima ein wenig verbessert. Freilich stehen die gewählten Gemeindeverwalter unter starkem Druck der Sicherheitskräfte, die ihnen etwa den Verzicht auf öffentliche Auftritte nahe legen. Doch gemeinsam mit der Entscheidung der EU, die Türkei auf die Liste der Aufnahmekandidaten zu setzen, weckte diese Entwicklung unter Kurden ein wenig Hoffnung auf mehr Freiheit.

Vorerst nur Gesten Hinzu kam der bemerkenswerte Entscheid Präsident Demirels, die Hadep-Bürgermeister im Präsidentenpalast zu empfangen. Das positive internationale Echo ermutigte Demirel, sogar eine Abordnung von Menschenrechtsaktivisten aus den Kurdengebieten zu begrüssen. Liberale türkische Medien bemerkten anerkennend, dass der Staatspräsident den Anliegen der Kurden bis zu Ende zuhörte. Doch vorerst beschränken sich neue Initiativen auf solche Gesten, die allzu rasch durch Fakten und Taten der Armee ihre Symbolik verlieren könnten. So nahm man in kurdischen Kreisen bitter die Erklärung Demirels zur Kenntnis, wonach Fernsehen, Radio und Schulunterricht in einer andern Sprache als in der türkischen undenkbar seien. Ihre Kinder in Kurdisch bilden und Informationssendungen in ihrer Muttersprache ausstrahlen zu dürfen - das zählt zu den Hauptanliegen, auf die sich die Kurden heute beschränken. Doch die zivilen und vor allem die militärischen Machthaber wollen davon weiterhin gar nichts wissen. Und die Hoffnung, die neuen Bande zur EU würden den Kurden doch bald Erleichterung und ein wenig mehr Rechte verschaffen, zerstob rasch, als die Armee erneut zahlreiche Hadep-Büros im Kurdengebiet stürmte.

Armee bleibt pickelhart Zugleich zeigen die Militärs nicht die geringsten Anzeichen, die Friedensinitiativen der PKK ernst zu nehmen. Zahlreiche PKK-Kämpfer, die sich mit ihren Waffen den Sicherheitskräften ergaben, wurden festgenommen. Auf Amnestie können sie nicht hoffen. Die unverminderte Härte Ankaras hat Teile der PKK bewogen, Öcalans Waffenstillstandsbefehl nicht mehr zu befolgen. So kommt es nun erneut zu blutigen Zusammenstössen im Kurdengebiet. Unterdessen greifen die Medien immer wieder Überlegungen führender Politiker auf, wie man den Kurden doch ein wenig entgegenkommen könnte. So sprach Premier Ecevit jüngst von der Möglichkeit, den Kriegszustand, der seit 1980 in fünf Kurdenprovinzen herrscht, allmählich aufzuheben. Diese Sonderrechte ermöglichen dem lokalen Gouverneur und seinen Sicherheitskräften weit gehende Repression. Doch bisher wurde auf höchster Ebene kein Entscheid getroffen. Auch die Frage des «Dorfwächter-Systems» hat man noch nicht ernsthaft angepackt. Ecevit setzt sich bereits seit einiger Zeit für die Abschaffung dieses sehr problematischen Systems ein, das in Ostanatolien die Tradition der Feudalherrschaft wiederbelebte und tiefen Hass zwischen die Bevölkerung trieb. 1985 hatte die Armee begonnen, Ankara ergebene Kurden für den Kampf gegen die PKK zu bewaffnen und finanziell zu unterstützen. Seit 1985 stieg die Zahl dieser «Dorfwächter» von 40 auf 67 500 an.

Kurden müssen warten Auch von der dringend nötigen ökonomischen Entwicklung Südostanatoliens wird vorerst nur gesprochen. Ecevit hatte, wie viele seiner Vorgänger, einen Plan erarbeitet. Doch dem Staat fehlt es an Geld, zumal er sich voll auf den Wiederaufbau der vom Erdbeben im vergangenen August zerstörten Regionen konzentriert. Die Kurden müssen weiter warten. Dies ist besonders schmerzlich für die Mehrheit der mehr als zwei Millionen Menschen, die - vor allem von Sicherheitskräften - aus ihren Dörfern verjagt, deren Häuser zerstört, deren Hab und Gut vernichtet wurde und die nun in den Slums der Grossstädte ein elendes Dasein fristen.