Kurier (A), 12.1.2000

Mehrjährige Galgenfrist für PKK-Chef Abdullah Öcalan

Ankara könnte heute die Vollstreckung des Todesurteils auf die lange Bank schieben

Er gilt als alter Polit-Fuchs, und als solcher hat er zu Jahresbeginn wieder zugeschlagen. Der türkische Premier Ecevit ließ kurzerhand die 90 Akten-Ordner des zum Tode verurteilten Führers der kurdischen Separatistenorganisation PKK, Abdullah Öcalan, vom Justizministerium in sein Büro transferieren. Das Kalkül: Die Gerichtsunterlagen sollen bei ihm geparkt und nicht ans Parlament weitergeleitet werden. Ohne Akteneinsicht aber kein Votum der Mandatare, ohne Abstimmung keine Exekution Öcalans - die Causa wäre auf die lange Bank geschoben. Ob die Rechnung Ecevits aufgeht, hängt von der heute, Mittwoch, stattfindenden Kabinettssitzung ab. Obwohl der rechtsnationalistische Koalitionspartner, die MHP, immer den Strang für den ehemaligen "Staatsfeind Nummer eins" gefordert hatte, signalisierte ihr Vorsitzender, Devlet Bahceli, zuletzt Kompromissbereitschaft. Man werde den Interessen der Türkei nicht im Weg stehen, sagte er und spielte auf die EU-Ambitionen der Regierung an. Diese könnte sie wohl begraben, wenn Öcalan hingerichtet werden würde.

So erwarten einige Beobachter, dass die Koalition dem Master-Plan des Premiers folgt und die Akten-Ordner solange unter Verschluss hält, bis ein bindendes Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vorliegt (selbst die MHP könnte argumentieren, dass die Exekution nicht aufgehoben, sondern bloß aufgeschoben sei). Das Verfahren, das die Anwälte des PKK-Chefs angestrengt haben, kann freilich Jahre dauern.

"Öcalan ist politisch tot. Ich mache mir Sorgen, dass er politisch wiederbelebt wird, wenn er hingerichtet wird", warb Ecevit für seine Initiative. Eine Vollstreckung des Urteils würde eine Welle der Gewalt auslösen. In diesem Zusammenhang hat der Bruder Abdullah Öcalans, Osman, gedroht: "Wenn unser Vorsitzender hingerichtet wird, ist das für sich genommen ein Befehl. In diesem Fall hat keiner die Lage unter Kontrolle."

Sollte der türkische Premier mit seiner "Verzögerungstaktik" nicht durchdringen, ist das Parlament am Zug. Dort machen die Islamisten und die Konservativen von Ex-Ministerpräsidentin C¸iller Druck, den "Baby-Killer" zu exekutieren. Sollte die Mehrheit der 450 Abgeordneten für eine Vollstreckung des Urteils stimmen, kann Staatspräsident Demirel sein Veto einlegen. Beharren die Mandatare bei einem zweiten Votum auf ihrer Entscheidung, bleibt Öcalan nur noch der "Tod durch den Strang".

Autor: Walter Friedl