Frankfurter Rundschau, 12.1.2000

"Ein toter Öcalan kann der Türkei gefährlich werden"

Premier Ecevit will den PKK-Führer nicht am Galgen sehen, doch eben das fordert sein Vize

Von Gerd Höhler (Ankara)

Nicht zuletzt der Festnahme des PKK-Chefs Abdullah Öcalan verdankte der türkische Premier Bülent Ecevit seinen Wahlsieg im April vergangenen Jahres. Doch jetzt könnte der Streit um das Schicksal des "Staatsfeindes Nr. 1" Ecevits Koalition in Gefahr bringen.

Das Ende Mai auf der Gefängnisinsel Imrali gegen Öcalan gesprochene Todesurteil ist seit Anfang Januar rechtskräftig. Damit liegt die Entscheidung, ob der PKK-Chef hingerichtet wird, beim Parlament. Billigt es die Vollstreckung des Urteils, wäre das die erste Exekution in der Türkei seit mehr als 15 Jahren. Am heutigen Mittwoch wollen sich die Vorsitzenden der drei Koalitionsparteien treffen, um über die Linie der Regierung abzustimmen. Streit zeichnet sich bereits ab. Während Premier Ecevit, ein erklärter Gegner der Todesstrafe, gegen eine Hinrichtung argumentiert, drängt sein Vizepremier Devlet Bahceli, der Vorsitzende der rechtsradikalen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), darauf, Öcalan so rasch wie möglich aufzuhängen. Der Konflikt könnte den Bestand der Koalition gefährden. Wie Agenturen berichteten, deutete Bahceli am Dienstag in der Zeitung Sabah allerdings an, die Regierung werde die Entscheidung über das Schicksal Öcalan möglicherweise weiter aufschieben, um die Koalition zu retten.

Ein lebendiger Öcalan, so Ecevit vor der Presse, sei ungefährlich; ein toter Öcalan aber könne dem Land großen Schaden zufügen. Politisch sei der PKK-Chef ohnehin tot, "aber ich fürchte, eine Hinrichtung würde ihn wieder auferstehen lassen", warnte der Premier. "Emotionslos", so Ecevit, müsse man nun entscheiden, was im Interesse des Staates sei.

Ecevit weiß, dass eine Vollstreckung des Todesurteils die eben erst angebahnten engeren Bindungen seines Landes an die EU auf Jahre hinaus schwer belasten würde. Entscheiden muss die Regierung vor allem, ob sie sich dem Appell des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte fügen will, die Hinrichtung so lange auszusetzen, bis in Straßburg über die dort anhängige Beschwerde der Öcalan-Anwälte entschieden ist. Das dürfte mindestens 18 Monate dauern. Bis dahin könnten sich die Emotionen gelegt haben; überdies hätte man die Chance, inzwischen die Todesstrafe abzuschaffen.

Doch selbst wenn es zu dieser Gesetzesänderung kommt, soll Öcalan vorher hängen, fordern prominente Politiker der rechtsextremen MHP. Öcalan, so erklärte Parteichef Bahceli vergangene Woche, sei ein Terrorist, der das Land in ein Blutbad gestürzt habe; dafür sei er "im Namen des türkischen Volkes von einem unabhängigen Gericht zum Tode verurteilt" worden.

In die Diskussion um sein Schicksal schaltete sich jetzt auch Öcalan ein. In einer über seine Anwälte verbreiteten Erklärung beklagt er, dass die Diskussion sich auf die Frage beschränke, ob man ihn hängen solle oder nicht. Vom Kurdenproblem rede niemand. Mahnende Worte kamen auch vom PKK-Führungsrat. Es gehe nun darum, alles zu vermeiden, was den Friedensprozess gefährden könne, hieß es in einer Erklärung, die die Zeitung Özgür Bakis veröffentlichte.