nzz, 10.1.2000

Die Christen in der Türkei hoffen auf die EU

Drohende Konfiszierungen von Stiftungseigentum

Die einst sehr zahlreichen Christen der Türkei sind auf ein kleines Häufchen geschrumpft. Obwohl die Diskriminierung gegen Einzelpersonen in den vergangenen Jahren aufgehört hat, machen staatliche Organe den Gemeinden das Leben schwer. Auch heute noch droht der Immobilienbesitz der christlichen Stiftungen - häufig die einzige Einkommensquelle - vom Staat konfisziert zu werden.

paz. Istanbul, Ende Dezember

Vielerorts sind in Istanbul die Spuren christlicher Kultur deutlich sichtbar. Das Symbol des alten Konstantinopel ist die Hagia Sophia, die auf dem Programm jedes Besuchers steht. Doch auch am Taksim-Platz, dem Zentrum des modernen Istanbul, im alten griechischen Quartier Fener, auf der asiatischen Seite in Kadiköy oder auf den Prinzeninseln, die der Stadt vorgelagert im Marmarameer liegen, finden sich zahlreiche Bauten verschiedener christlicher Glaubensrichtungen. Noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Stadt, obwohl bereits 1453 von den Muslimen erobert, mehrheitlich von christlichen Armeniern und Griechen, aber auch von Juden, bevölkert. Heute sind die christlichen Türken eine verschwindend kleine Minderheit. Bei einer Gesamtbevölkerung von rund 65 Millionen machen sie keine 100 000 Personen aus. Besonders stark dezimiert ist die griechische Bevölkerungsgruppe. Während das griechische Konsulat in Istanbul offiziell von 5000 Mitgliedern der Gemeinde spricht, scheint die tatsächliche Zahl einiges niedriger zu liegen. Gewisse Schätzungen gehen von nur noch 1500 Griechen aus.

Ausgeprägtes Misstrauen

Verschiedene Gesprächspartner der griechisch- orthodoxen und der armenisch-orthodoxen Minderheit unterstreichen, dass sie als türkische Bürger gegenwärtig keiner individuellen Diskriminierung auf Grund ihrer Religion ausgesetzt seien. Die Zeiten hätten sich geändert. Die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts, als 12 000 Istanbuler Griechen mit griechischen Pässen die Aufenthaltsbewilligung entzogen und ihr Besitz de facto konfisziert worden war, seien vorbei. Auch die Belästigungen durch den Geheimdienst, die in den frühen achtziger Jahren laut verschiedenen Aussagen gang und gäbe waren, hätten aufgehört. Geblieben ist allerdings ein ausgeprägtes Misstrauen, vor allem unter den Griechen, gegenüber allen Aussenstehenden. Die wenigsten sind bereit, über ihre Lage zu sprechen, und diejenigen, die es wagen, wollen keinesfalls, dass ihre Namen in der Zeitung veröffentlicht werden. In den wenigen an der Einkaufsstrasse Istiklal Caddesi übriggebliebenen griechischen Geschäften gibt sich das türkische Personal wortkarg, und die griechischen Besitzer sind nicht erreichbar.

Das grösste Problem, mit dem die religiösen Minderheiten konfrontiert sind, ist die Rechtsunsicherheit betreffend den Immobilienbesitz ihrer Stiftungen. Der Besitz nichtmuslimischer Religionsgemeinschaften muss seit 1926 als Stiftung organisiert sein. 1936 mussten alle Stiftungen ihren Besitz deklarieren. Trotz einem später erlassenen Verbot haben sich die Stiftungen über die Jahre vielfach zusätzlichen Immobilienbesitz angeeignet - häufig Schenkungen von abwandernden Christen oder Erbschaften. Das Rum- Balikli-Spital der griechischen Gemeinde zum Beispiel erhielt über die Jahre mehr als 100 Gebäude von Personen, die im Spital bis an ihr Lebensende gepflegt wurden. Der Stiftungsrat des Spitals unterstreicht, dass jedes Mal ein türkisches Gericht die Handänderung bestätigte. Trotzdem wurden in den vergangenen zwei Jahren 132 Gebäude vom Staat enteignet. Zur Begründung wurde angeführt, dass sich diese Immobilien nicht auf der Liste von 1936 befänden und daher unrechtmässig erworben worden seien. Die früheren Gerichtsentscheide seien ungültig, die Richter hätten sich geirrt.

Überlebenswichtige Vermögen

Die Enteignungen bringen die betroffenen Stiftungen häufig in finanzielle Nöte. Da die Gemeinden klein und die wenigen verbliebenen Mitglieder meist alt und arm sind, stellen die Immobilien häufig ihre einzige Einkommensquelle dar. Die armenische Üchoran-Kirche ist ein gutes Beispiel, wie der Immobilienbesitz das Gemeindeleben sichert. Die Kirche liegt in einem Hof hinter der touristischen Cicek Pasaji an der Istiklal Caddesi versteckt. Der grösste Teil des Marktes, der die Kirche umgibt, ist im Besitz der Kirchen-Stiftung. Auch eine ganze Gasse mit beliebten Restaurants gehört dazu. Die Stiftung finanziert ihre Angestellten - unter ihnen auch die Priester, die im Unterschied zu den Imams nicht vom Staat bezahlt werden - mit den Mieteinnahmen. Zusätzlich unterhält die Stiftung auch eine Schule mit mehreren hundert Schülern in der Nähe des Taksim-Platzes. Diese macht die Hauptlast der Ausgaben aus, sichert aber mit der Vermittlung der armenischen Sprache und Kultur den Fortbestand der Gemeinschaft.

Verschiedene gutinformierte Quellen gehen davon aus, dass es sich bei den Enteignungen nicht um eine allgemeine Politik des türkischen Staates handelt. Vielmehr scheinen lokale administrative Behörden von Fall zu Fall vorzugehen. Auf der Insel Büyükada zum Beispiel besitzt die Stiftung des griechisch-orthodoxen Patriarchats ein riesiges Holzgebäude, das früher einmal ein Waisenhaus war, heute aber völlig heruntergekommen ist. Das Patriarchat hat Pläne, auf dem Grundstück ein Hotel zu erbauen, das auf Grund der hervorragenden Lage und des Mangels von Übernachtungsmöglichkeiten auf der Insel wohl gute wirtschaftliche Voraussetzungen hätte. Doch das Patriarchat sieht sich mit Enteignungsverfahren konfrontiert. Es scheint, dass auch lokale Investoren die Geschäftsmöglichkeit gewittert haben und das Gelände an sich reissen wollen.

Garantien durch den Lausanner Vertrag

Der Vertrag von Lausanne von 1923 sichert den nichtmuslimischen Minderheiten - der türkische Staat anerkennt als Minorität die Griechen, Armenier und Juden - gewisse Rechte zu. So können die Gemeinden eigene Schulen unterhalten, in denen sie in ihrer Sprache unterrichten dürfen. Die Gesetzgebung der Türkei garantiert diese Rechte allerdings nicht; die Verfassung anerkennt keine Minderheiten. Trotzdem ist in den Köpfen der Türken die Meinung weit verbreitet, dass die nichtmuslimischen Minderheiten einen privilegierten Status geniessen. Die dunklen Kapitel in den Beziehungen zwischen der Türkischen Republik und den Minderheiten sind der Bevölkerung kaum bekannt. Als vor kurzem in einem Fernsehprogramm die Minderheiten zu Wort kamen, schrieb der bekannte und weltoffene politische Kommentator Fehmi Koru, dass er bisher fälschlicherweise geglaubt habe, die Minderheiten seien in einer beneidenswerten Situation. Seine Illusion sei nun zerstört. Die Diskussion wurde erweitert durch einen Spielfilm, der zeigt, wie im Zweiten Weltkrieg die Angehörigen der nichtmuslimischen Minderheiten durch eine völlig willkürlich angewendete Vermögenssteuer in den Ruin getrieben wurden. Jene, die den Betrag nicht bezahlen konnten, mussten ihre Steuerschuld in Arbeitslagern abarbeiten. Heute scheint klar zu sein, dass eines der Ziele dieser Massnahme darin bestand, die Wirtschaft den Nichtmuslimen zu entreissen.

Nachwuchsprobleme

Istanbul ist der Sitz des griechisch-orthodoxen Patriarchen Bartholomäus I., der neben seiner Funktion als lokaler Bischof auch der ökumenische Patriarch und damit der geistliche Führer aller orthodoxen Christen ist. Nach türkischem Recht muss der Patriarch, wie auch alle anderen Priester, die türkische Staatsbürgerschaft besitzen. Bei der geringen Zahl der verbliebenen Griechen wird es aber zunehmend schwierig, Nachwuchs zu finden. Zudem muss ein junger Türke griechischer Herkunft, der Priester werden will, im Ausland studieren, denn das Priesterseminar auf der Insel Chalki (türkisch Heybeliada) ist seit 1971 geschlossen. Trotz verschiedenen Berichten in der türkischen Presse, dass das Seminar als Teil einer türkischen Universität wiedereröffnet werden könnte, ist das Patriarchat von den zuständigen Behörden bisher nicht kontaktiert worden. Das riesige Gebäude auf der Insel ist weiterhin ungenutzt, wird aber von einigen Mönchen in einem Zustand gehalten, dass das Seminar sogleich wiedereröffnet werden könnte. Die Holzböden der langen Gänge sind frisch gebohnert, in den Schlafsälen der Studenten fehlen nur die Kissenbezüge, und die Bibliothek erhält regelmässig Zeitschriften, die auch archiviert werden.

Die Minoritäten als politische Geiseln

Die Situation der griechischen Minderheit in Istanbul widerspiegelte in der Vergangenheit meist den Zustand der griechisch-türkischen Beziehungen. So führte zum Beispiel die Zypernkrise von 1974, als die Türkei mit dem Einmarsch von Truppen auf einen von Athen unterstützten Putsch reagierte, zu einer Auswanderungswelle von Istanbuler Griechen. Von armenischer Seite wird unterstrichen, dass sich die Repressalien allerdings immer auch auf die anderen christlichen Minderheiten ausgewirkt hätten. Griechenland betrachtet sich als Beschützer der Istanbuler Griechen, obwohl diese wenig oder keine persönlichen Beziehungen zu Griechenland haben. Dasselbe gilt für die Türkei und die muslimische Minderheit in der griechischen Region Thrakien. Der Vertrag von Lausanne sichert den Muslimen in Thrakien dieselben Rechte zu wie den Nichtmuslimen in der Türkei. Die Regierungen auf beiden Seiten der Ägäis haben diese Regelung in der Vergangenheit meist aber so ausgelegt, dass sie Unrecht gegenüber ihren Schützlingen sofort mit Unrecht gegenüber der Minorität in ihrem eigenen Land beantworteten. Die Minoritäten waren Geiseln im Kampf zwischen Athen und Ankara.

Auf diesem historischen Hintergrund scheint verständlich, dass mehrere der befragten Armenier und Griechen in Istanbul ihre Hoffnung auf die verbesserten Beziehungen zwischen Griechenland und der Türkei setzen. Zusätzlich hat Ankara am Helsinki-Gipfel der EU Anfang Dezember den Status eines Beitrittskandidaten erhalten. Bis Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden können, müssen aber zahlreiche Reformen, nicht zuletzt im Bereich der Menschenrechte, in Angriff genommen werden. Ein Grieche in Istanbul meint gar, dass die Türkei die Christen in ihrem Land dazu benützen könnte, den Beitrittsprozess zu beschleunigen. Nicht nur werde mit der Republik Zypern ein zweiter griechischer Staat vor der Türkei der EU beitreten, sondern wohl auch orthodoxe Länder wie Rumänien oder Bulgarien. Ankara sollte deshalb den Patriarchen - immerhin ein türkischer Staatsbürger - als Botschafter für seine eigene Sache einsetzen.