junge Welt, 8.1.2000

Einkreisungsfehllogik

In der Welt ist eine neue strategische Lage entstanden.

Von Fritz Teppich

Schliddert die Menschheit im kommenden Jahrtausend an der empfindlichen euro-asiatischen Südflanke unseres Kontinents über Jugoslawien und Tschetschenien Schritt für Schritt Richtung dritter Weltkrieg? Düstere Perspektiven kann jede und jeder von einer ohne besondere Mühe selbst kenntlich gemachten Europakarte ablesen. Dazu schwärze man die Gebiete von Deutschland sowie Italien in den Vorkriegsgrenzen von 1937. Schwarz zu übertuschen sind auch das kriegsvorbereitende, dann angeschlossene Österreich und die niedergewalzte Tschechoslowakei, ebenso die damals achsennah regierte Iberische Halbinsel. Anschließend übermale man knallgelb die nazistisch-faschistischen Eroberungen in den ersten beiden Jahren des Zweiten Weltkrieges bis September 1941, also einschließlich der in den zehn Anfangswochen nach Überfall auf die UdSSR überrannten Sowjetgebiete.

Über die so schwarz-gelb kolorierte Europakarte lege man durchsichtiges Papier, auf dem maßstabentsprechend die Umrisse der heute von Washington nebst NATO-EU beherrschten Staaten eingezeichnet sind. Die Methode bringt Beunruhiges plastisch zutage: Die derzeit erreichten Standorte der Westmächte decken sich weitgehend mit den vormaligen Aufmarsch- und Erstangriffszonen der Hitlerarmee zu Beginn ihres Ostfeldzuges. In Vorbereitung war die Sowjetunion halb eingekreist, wie nun wieder die GUS mit Rußland als Kern.

Dabei darf nicht übersehen werden, was alles an Gebieten des auslaufenden Warschauer Paktes den USA ohne besonderen Einsatz dank Gorbatschow zugeschoben worden war, während das Dritte Reich erst im Laufe von zwei verlustreichen Jahren an verschiedenen Fronten Europas entsprechende Gebiete an sich zu reißen vermocht hatte.

Ist es ein Zufall, daß die nun allein verbleibende Supermacht USA auf eine Ost-Scheidelinie vorgerückt ist, die dem seinerzeitigen Ausgangspunkt des deutschen Ostangriffs entspricht? Planende Militärstrategie kennt keine Zufälle! Sie folgt in solchen Vorbereitungsstadien stets geopolitischer sowie waffenbedingter Logik. Daher lassen sich aus Truppen- und Materialplazierungen in etwa auch die jeweiligen offensiven oder defensiven Absichten ersehen. So auch gegenwärtig. Die Vereinigten Staaten zielen auf Ausschaltung per Unterwerfung. Dank unserer Methode sticht die weitgehende Deckungsgleichheit der seinerzeitigen und heutigen Aufmarschoperationen bildhaft ins Auge: Vom Westen her ist die GUS - wie vor einem halben Jahrhundert die UdSSR - als Objekt imperialer Begierde bereits halb eingekreist. Sie wird als potentielle Gegenmacht eingeschätzt, die vorsorglich ausgeschaltet werden sollte.

Kurz vor Losschlagen gegen die Sowjetunion hatte der deutsche Generalstab, ebenfalls nicht zufällig, zur Absicherung der eigenen Südflanke Jugoslawien auszuschalten versucht. Nun bestimmt dort vergleichbare Strategie das NATO- Engagement. Im Medienzeitalter wird der Angriff allerdings zu angeblicher Menschenrechtsverteidigung ummanipuliert. Antimenschlich und völkerrechtswidrig damals schon die Zerschlagung der CSR, jetzt ähnlich die Jugoslawiens, beginnend mit der Herauslösung Koratiens sowie Sloweniens. Zuletzt, angesichts des unbezähmbaren serbisch- teilnationalistischen Freiheitsdranges, das Kosovo-Abenteuer, dornengekrönt durch die zehnwöchige Luft- und Raketenbombardierung vornehmlich ziviler Objekte. Noch wagte Washington keinen zweiten Einsatz von A-Bomben, die - ein bisher den USA vorbehaltenes Maximalverbrechen - über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen worden waren, immerhin aber Krieg, der auf ähnlich grauenhafter Auslöschungsdoktrin beruht.

Was, wenn nach weitgehender Ausschaltung Jugoslawiens, im weiteren Verlauf der Südflanke, 2 000 Kilometer weiter östlich, Tschetschenien aus der GUS herausgeschossen würde? Tschetschenien ist unter anderem eine Hauptpforte zur Schlüsselregion Kaukasus. Dort herrscht eine teils untereinander zerstrittene Völkervielfalt, unter der Hader zu entfachen durchaus möglich ist. In Georgien zum Beispiele hat der gewiefte NATO-Sympathisant Schewardnadse bereits die Fäden in der Hand. Im Norden des Kaukasus, von dort gut durch ebenes Gelände zu erreichen der schon von NS- Deutschland heiß begehrte Drehpunkt Stalingrad, heute Wolgograd. Im Südwesten in zentraler Position eingriffsbereit die Türkei, im Süden Nahost mit den längst USA-attackierten Staaten Irak und Iran. Besorgniserregender noch, mit Sprung über das kaspische Binnenmeer könnte ein Aggressor längs der traditionellen Seidenstraße bis nach Volkschina vordringen.

In Tschetschenien geht es im Grunde weniger um lokale Anliegen, vielmehr im wesentlichen um für die Offensivstrategie der Vereinigten Staaten, um wichtige Durchmarschpositionen sowohl nach Nord wie nach Ost. Angesichts dieser bedrohlichen Situation für das nördliche Rußland - aber auch für das östliche Volkschina - haben sich kürzlich maßgebende russische Militärs ungewöhnlicherweise öffentlich zu Wort gemeldet, gewarnt: Die Destabilisierung dieser empfindlichen Position würde Gefahren eines allgemeinen Krieges heraufbeschwören! Nicht zuletzt diese für die Unversehrtheit ihres Landes Verantwortlichen mögen dazu beigetragen haben, daß der sichtlich kranke, bisher vom Westen gestützte Jelzin, auf russische Atom- Verteidigungswaffen hinweisen mußte. Er tat das in Peking, wo er deutlich formulierte Rückendeckung für die GUS erhielt.

Mit dieser De-Facto-Allianz der zwei wichtigen Mächte ist eine neue strategische Lage auf unserem Erdball entstanden. Das mit dem Zerfall der UdSSR vor einem Jahrzehnt zu Scherben gegangene Ost-West-Gleichgewicht ist auf veränderte Weise einseitig wiederhergestellt worden. Mit Schwäche auf nicht oder nur bedingt kapitalistischer Seite kann der auf Konzernmacht basierende Westverbund nicht weiter rechnen. Bei entsprechend gutem Willen würde jetzt Gelegenheit bestehen, eine neue West-Ost-Friedensbalance auf die Beine zu stellen. Ermunterung dazu könnte von dem Vorbild kommen, das seine Bewährungsprobe während vier Jahrzehnten Kalten Krieges bestanden hatte.

Napoleon und Hitler sind mit ihren Vorhaben gescheitert, durch Kriege Weltherrschaft zu erzwingen. Beide hinterließen Elend. Kriege zwischen Staaten bleiben für die Völker letzthin ein Unglück. Wie aber solchen furchtbaren Entgleisungen entgegenwirken? Erwiesen ist, daß Kriege sich leider durch Pazifismus nicht vermeiden lassen, nicht unter den Gegebenheiten unserer Zeit. Die kriegerische Abwehr des menschheitsgefährdenden Hitler-Vormarsches war überlebensnotwendig. Immerhin kann Friedenssicherung heute durch gegenseitige Respektierung der Machtbalance erreicht werden. Sie hatte nach 1945 lange einen großen Krieg zu verhindern vermocht. Auseinandergebrochen war sie erst, als im Zuge des Verfalls der UdSSR Washington militärisch ausgreifend, weit vorgeschobene Ausgangspositionen einzunehmen befahl.

Mit der russisch-chinesischen Abwehrproklamation ist weiterem westlichen Unterminieren und Vordringen eine überaus ernstzunehmende Warnungssperre entgegengesetzt worden. Jetzt sind Denkfähigkeit und Vernunft der Herren und Damen in den USA sowie in allen ihnen verbundenen Staaten gefordert. Gäben sie dagegen vor, die neuen strategischen Gegebenheiten zu übersehen, verzichteten sie nicht auf bisherige übergreifende Herrschaftsansprüche, begännen sie nicht zumindest mit Teilrückzügen Signale guten Willens zu geben, würden wir zunehmend Besorgnis erregenden Zeiten entgegen gehen. Ein dritter Weltkrieg, der unweigerlich zum Einsatz heutiger Vernichtungswaffen führen müßte, würde unseren Erdball für Epochen nur noch bedingt bewohnbar hinterlassen. Alle wären Verlierer.

Schlimm, würden Politiker und Generalität in Washington nicht bedenken, daß die Vereinigten Staaten im Vergleich zu China-GUS nur über ein minder großes Territorium verfügen und schon damit verwundbarer sind als die Gegenseite. Das Sternenkriegspotential, auf das sie so sehr pochen, würde kaum das Risiko mindern, denn jeder Innovation wird heute rasch eine entsprechend überlegene Waffen entgegengestellt. Schwerstbombardierungen würden voraussichtlich die schon normalerweise nicht selten auf psychiatrischen Beistand angewiesenen Bessergestellten in Großstädten wie New York, San Francisco, Chicago oder Detroit schwerer treffen als die noch bodenverwurzelten Menschen der GUS. Allerdings würden die aus angegriffenen Gebieten, wo auch immer, herüberwehenden Giftwolken die gesamte Menschheit unsäglich gefährden.

Bleiben angesichts solcher grauenhafter Perspektiven Hoffnungen auf durchgreifende Kriegsverhinderung Illusion? So wie Menschen sind, kann kaum mit großen pazifistischen Mehrheiten gerechnet werden, die bereit wären, sich hingebungsvoll Kriegsentfachungen zu widersetzen.

Dauerhafte Friedenssicherung könnte nur durch ein Bündel fest zu schließender, grundlegender Vereinbarungen erreicht werden. Dazu müßten vorrangig mit gehören: Lückenlos kontrollierte Einstellung der Produktion, ausnahmslos sämtlicher mehr als kleinkalibriger Waffen. Allgemeine, umfassende, genau überwachte Abrüstung und Entmilitarisierung aller Staaten und Einzelgebiete. Unverzügliche Räumung von Stützpunkten jeglicher Art, die Aggressionen dienen könnten, auf eigenen sowie fremden Territorien.

Doch die Hürden, die im Hinblick auf entsprechende Abkommen überwunden werden müßten, sind gigantisch hoch und werden auf absehbare Zeit nicht fortgeräumt werden können. Deswegen gilt es, sich auf Mögliches zu konzentrieren. Also Machtbalance zwischen den Ausschlaggebenden wiederherstellen, diese zumindest temporär friedenssichernd festzurren, um schließlich auf diesem Weg endgültiger Kriegsverhinderung sich schrittweise zu nähern. Würde die Menschheit auf diesem Weg ins dritte Jahrtausend auch nur wenige grundlegende Schritte vorankommen, wäre das eine große Sache.