Badische Zeitung, 8.1.2000

BZ-Interview mit dem Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg, Luzius Wildhaber

"Verbesserungen in der Türkei"

STRASSBURG. Der Schweizer Luzius Wildhaber ist seit einem Jahr Präsident des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg. Dieser wacht über die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention. 800 Millionen Bürger von Portugal bis Sibirien können sich in Straßburg über ihre staatlichen Autoritäten beschweren. Mit Wildhaber sprach unser Korrespondent Christian Rath.

BZ: In den letzten Jahren hat die Zahl der Klagen an Ihrem Gericht um rund 25 Prozent pro Jahr zugenommen. Werden die Menschenrechte in Europa immer weniger beachtet?

Wildhaber: Nein. Der Anstieg hat andere Ursachen. So kommen viele zusätzliche Fälle aus den neu beigetretenen Staaten Osteuropas, etwa aus Russland oder Polen. Und infolge der Medienberichte über spektakuläre Verfahren wie die Klage von Herrn Öcalan gegen die Türkei oder diejenige von Herrn Krenz gegen die Bundesrepublik Deutschland wird der Gerichtshof auch immer bekannter.

BZ: Würden Sie also lieber im Verborgenen wirken?

Wildhaber: Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Natürlich ist es gut, wenn die Menschen in Europa von unserer Arbeit erfahren, nur wird sie dabei nicht einfacher.

BZ: Seit gut einem Jahr besteht der Straßburger Gerichtshof aus Vollzeitrichtern. Haben sich die Verfahren dadurch nicht erheblich beschleunigt?

Wildhaber: Früher mußten die Kläger bis zu sechs Jahre auf eine endgültige Entscheidung warten, weil es noch ein Vorprüfungsverfahren gab. Wir haben uns nun vorgenommen, jeden Fall in zwei bis drei Jahren abzuschließen. Aber es wäre frivol, Versprechungen zu machen, solange wir jedes Jahr einen derartigen Zuwachs an Klagen haben.

BZ: Sie bräuchten also mehr Personal?

Wildhaber: Ja. Im Vergleich zum deutschen Bundesverfassungsgericht haben wir deutlich zuwenig Mitarbeiter, dabei sind unsere Fälle eher noch schwieriger. So müssen Teams aus Richtern und Mitarbeitern immer wieder in die beklagten Staaten reisen, um dort Beweise zu erheben.

BZ: Sie denken dabei vor allem an die Türkei?

Wildhaber: In einer erheblichen Zahl von Fällen aus der Türkei fehlte es an einer angemessenen Untersuchung auf nationaler Ebene. Den Beschwerdeführern stand daher keine wirksame nationale Beschwerde zur Verfügung. Die Folge ist, dass die Beschwerdeführer sich direkt nach Strassburg wenden, dass der Gerichtshof selbst den Sachverhalt aufklären muss und so unser Mechanismus seine Subsidiarität verliert.

BZ: Die Türkei ist ja in den letzten zwei bis drei Jahren mehrmals in Straßburg wegen Menschenrechtsverletzungen und Folter verurteilt worden. Haben Sie den Eindruck, solche Urteile bewirken ein Umdenken?

Wildhaber: Ja, in der Türkei gibt es Verbesserungen und unsere Urteile haben auch zu innenpolitischen Diskussionen geführt. Dies wird allerdings für uns nicht so schnell sichtbar, weil wir hier in Straßburg immer noch Fälle aus den schwierigen Jahren 1993 bis 1995 abarbeiten.

BZ: Könnte eigentlich auch ein Tschetschene den russischen Staat wegen seiner Kriegsführung um Grosny verklagen?

Wildhaber: Theoretisch wäre das möglich, denn Tschetschenien ist Teil der russischen Föderation. Bisher liegen uns aber keine entsprechenden Klagen vor.

BZ: Welche Urteile hatten aus Ihrer Sicht im vergangenen Jahr die größte Bedeutung?

Wildhaber: Drei Entscheidungen könnte man hervorheben. So mußte Großbritannien nach einem Straßburger Urteil seine Armee für Homosexuelle öffnen. Sodann hat der Gerichtshof in einem französischen Fall die polizeiliche Misshandlung eines Drogenhändlers als Folter qualifiziert. Europapolitisch wichtig war schließlich, dass der Gerichtshof den Ausschluss der Bewohner von Gibraltar bei der Wahl des Europäischen Parlaments gerügt hat.

BZ: Vor ihrer Wahl zum Präsidenten des Gerichtshofes waren sie hier schon sieben Jahre als einfacher Richter tätig. Sehnen sie sich manchmal nach dieser Zeit zurück?

Wildhaber: Nein, überhaupt nicht. Gerade jetzt ist es besonders reizvoll, Präsident dieses Gerichts zu sein. Mit der Aufwertung zum Vollzeitgericht muß vieles neu ausbalanciert werden. Und mit den osteuropäischen Richtern kommen neue Rechtstraditionen hinzu.

BZ: Führt die Zusammenarbeit von westund osteuropäischen Richtern zu Problemen?

Wildhaber: Nein, es gibt keinerlei Clanbildung. Wer hier ist, ist bereit, an den gleichen Werten zu arbeiten. Ich hatte mir das schwieriger vorgestellt.

BZ: Vor allem in Frankreich gab es Befürchtungen, dass die Mitarbeit osteuropäischer Richter zu einer Verwässerung der Menschenrechtsstandards führen könnte.

Wildhaber: Bisher sind die Verfechter dieser These jeden Beleg schuldig geblieben.

BZ: Bringen Sie als Schweizer ein spezielles Verständnis der Menschenrechte in ihre Arbeit ein?

Wildhaber: Wir Schweizer sind sicher besonders sensibel für Multikulturalismus und den Schutz von Minderheiten. Aber es ist nicht meine Aufgabe als Richter, Europa zu verschweizern.

BZ: Gibt es in Europa so etwas wie ein menschenrechtliches Musterland?

Wildhaber: Nein, kein Staat ist im Hinblick auf die Achtung der Menschenrechte perfekt. Das kann man auch nicht erwarten. Entscheidend ist aber, dass mit dem notwendigen Ethos und moralischen Ernst versucht wird, die Situation zu verbessern.