Tages-Anzeiger (CH), 7.1.2000

Der "Terrorist" ist immer der andere

Für den israelischen Schriftsteller und Friedenspolitiker Uri Avnery haben die Probleme der Palästinenser und der Kurden viel gemeinsam. Aus eigener Erfahrung weiss er, wie ein junger Idealist zum "Terroristen" wird.

Von Uri Avnery

Im Februar 1970 sagte Golda Meir, die damalige israelische Ministerpräsidentin: "So etwas wie ein palästinensisches Volk gibt es nicht." Dreiundzwanzig Jahre später unterzeichnete ein anderer israelischer Ministerpräsident, Yitzhak Rabin, zusammen mit Yassir Arafat, dem Präsidenten der Palästinensischen Befreiungsorganisation, ein Abkommen, in dem das palästinensische Volk anerkannt wird und die Modalitäten der Selbstverwaltung der Palästinenser festgelegt sind. Einer Selbstverwaltung, die sehr wohl eine blosse Übergangsphase sein und zur Schaffung eines Palästinenserstaats führen könnte.

Wenn Millionen sich als Volk fühlen In diesen 23 Jahren floss viel Blut, kamen in einem Volksaufstand (der Intifada) mehr als tausend Palästinenser ums Leben, wurden Tausende von Palästinensern - mit oder ohne Prozess - ins Gefängnis gebracht, wandte man alle möglichen politischen Tricks an. Israel löste 1982 im Libanon einen richtiggehenden Krieg aus, um die Palästinenser zu vertreiben. Der "Erzterrorist" Arafat wurde von einem Ort zum andern gehetzt. Man übte in grossem Massstab Gegenterror aus und ermordete mehrere Palästinenserführer. Umsonst. Es nützte alles nichts.

Ich erinnere mich an eine Parlamentsdebatte, bei der Golda Meir einmal mehr ihren Refrain von der Nichtexistenz des palästinensischen Volkes wiederholte. Ich sagte zu ihr: "Vielleicht haben Sie Recht. Vielleicht sind die Palästinenser im Unrecht, wenn sie glauben, dass sie ein Volk seien. Aber wenn Millionen von Menschen irrtümlicherweise meinen, ein Volk zu sein, und wenn sie sich verhalten, als ob sie ein Volk wären, und kämpfen, als ob sie ein Volk wären - nun, dann sind sie ein Volk."

Dasselbe sage ich auch zu meinen türkischen Freunden: Wenn Millionen von Menschen glauben, dass sie Kurden seien, Angehörige des kurdischen Volkes - nun, dann gibt es ein kurdisches Volk.

Ich wohnte mehreren Massenveranstaltungen von Kurden in Europa bei. Ich hörte und sah ihnen zu, als sie ihre Sprache sprachen, ihre Lieder sangen, ihre Landestracht trugen, ihre Slogans skandierten und Bilder von Öcalan schwenkten, und ich begreife offen gestanden nicht recht, wie ein einigermassen vernünftiger Mensch bestreiten kann, dass ein kurdisches Volk existiert, intensiv existiert.

Es ist keiner Regierung je gelungen, ein Problem durch das Leugnen seiner Existenz zu lösen. Das Leugnen macht die Dinge stets schlimmer. Wenn man die Dinge so sieht, wie sie sind, hat man den ersten Schritt in Richtung auf eine Lösung getan, wie immer diese auch aussehen möge.

Aus Zorn "Terrorist" geworden . . . Eine persönliche Bemerkung: Als ich fünfzehn Jahre alt war, trat ich der extremistischen jüdischen Untergrundbewegung Irgun bei, um gegen die britische Kolonialverwaltung des damaligen Palästina zu kämpfen. Ich kann mich genau erinnern, weshalb ich dies tat. Kurz zuvor hatten die Briten zum ersten Mal einen jüdischen "Terroristen" hingerichtet. Ich war so entsetzt und zornig, dass ich mir spontan sagte, es sei die Pflicht jedes anständigen jungen Menschen, sich freiwillig zu melden, um an die Stelle des gehängten Mannes zu treten. So wurde ich selbst ein "Terrorist".

Eine solche Reaktion ist völlig normal. Die türkischen Behörden werden bei ihrer Entscheidung über das Schicksal von Abdullah Öcalan gut daran tun, dies in Betracht zu ziehen. Es wäre ein riesengrosser Fehler, ihn hinzurichten. Durch seine Hinrichtung würden die Kurden in allen Teilen Kurdistans geeint und Tausende von neuen Freiwilligen veranlasst, der PKK beizutreten. Es käme zu einem Blutvergiessen von unabsehbarem Ausmass.

Eine andere Szene aus der Knesset kommt mir in den Sinn: Nach einem besonders folgenschweren palästinensischen Angriff auf Israeli plädierte Menachem Begin, der ehemalige Führer der Irgun (der später ebenfalls Ministerpräsident werden sollte), für die Hinrichtung von palästinensischen "Terroristen". Ich unterbrach ihn: "Herr Begin, Sie sollten doch besser als alle andern wissen, dass eine Untergrundbewegung nur umso stärker wird, wenn man Märtyrer schafft!" Begin sah mich erstaunt an und sagte: "Vergleichen Sie unsere heldenhaften Freiheitskämpfer mit diesen niederträchtigen Terroristen?"

Hier kommen wir zu einem weiteren wichtigen Punkt. Was unterscheidet einen Freiheitskämpfer von einem Terroristen? Ich kenne nur eine brauchbare Definition: Wenn sie auf meiner Seite stehen, sind sie Freiheitskämpfer, wenn sie auf der anderen Seite stehen, sind sie Terroristen.

...und aus Vernunft Friedensaktivist Obwohl in den Jahren des bewaffneten Kampfes zwischen Israel und den palästinensischen Guerillaorganisationen viele Gräueltaten begangen wurden, fand keine einzige Hinrichtung statt. Die Armeeführung hatte ihren Anklageinstanzen sogar befohlen, jeweils gar nicht erst die Todesstrafe zu beantragen. Die Befehlshaber von Armee und Sicherheitskräften waren klug genug, um einzusehen, dass ein Todesurteil nur den "Terroristen" nützt.

Als es sich Mitte der Vierzigerjahre zeigte, dass die Briten unser Land verlassen würden, rückte in Palästina der Konflikt zwischen Juden und Palästinensern in den Mittelpunkt. Und ich wurde zum Friedensaktivisten.

Meine Einstellung war von der Vernunft diktiert. Ich akzeptierte die Gegebenheit, dass in diesem Palästina, das die Juden Eretz Israel nennen, heute zwei verschiedene Nationen leben - die jüdisch-israelische und die arabisch-palästinensische. Wenn wir "Lösungen" wie gegenseitige Vernichtung, ethnische Säuberung und brutale Unterdrückung ablehnen, gibt es nur eine Alternative: Wir müssen nebeneinander leben, und zwar entweder in zwei unabhängigen Staaten oder in einem einzigen Staat, in dem alle die gleichen Rechte besitzen. In der speziellen Situation des israelisch-palästinensischen Konflikts gab (und gebe) ich der Lösung des Nebeneinanders von zwei Staaten den Vorzug.

Ich befürworte diese Lösung schon seit dem israelisch-palästinensischen Krieg von 1948, in dem ich als Soldat in einer Kommandoeinheit kämpfte und verwundet wurde. Am Anfang sah man meine Ideen einfach als verrückt an. In der Folge sah man sie als Hochverrat an. Heute werden sie von der überwiegenden Mehrheit sowohl der Israeli wie auch der Palästinenser als unvermeidlich akzeptiert. Es gibt noch immer ungelöste Probleme - Grenzziehung, Status von Jerusalem, Flüchtlinge, Siedlungen, Sicherheit -, aber das wichtigste Problem ist gelöst worden. Die israelische Friedensbewegung hat den Kampf um die Volksmeinung gewonnen.

Wie ist es dazu gekommen? Es haben selbstverständlich viele Faktoren mitgespielt. Der Konflikt hat sich zu lange hingezogen, und beide Völker sind seiner überdrüssig geworden. Überall auf der Welt herrscht ein neuer Geist. Israeli und Palästinenser schauen nach vorn, statt sich an überholte Arten von Nationalismus zu klammern.

Kontakte mit dem Feind Diese verschiedenen Faktoren hätten jedoch den Wandel nicht herbeizuführen vermocht, wenn der unermüdliche Kampf der israelischen Friedensaktivisten nicht gewesen wäre. Obwohl wir auf verlorenem Posten zu stehen schienen, begnügten wir uns nicht damit, für die Menschenrechte zu kämpfen, sondern wir stellten darüber hinaus auch Kontakte her zu gleich gesinnten Leuten der anderen Seite.

Bereits in der Zeit, da dies nach dem israelischen Recht noch ein Verbrechen war, trafen wir öffentlich mit Führern der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) zusammen, um über Möglichkeiten für eine friedliche Lösung zu diskutieren. Ich selbst begab mich während des Libanonkriegs von 1982 auf die andere Seite der Front und diskutierte im belagerten Beirut mit Yassir Arafat - der in jenem Zeitpunkt von israelischen Agenten, die ihn töten wollten, gesucht wurde. Obwohl einige Leute erklärten, man müsse mir wegen Hochverrats den Prozess machen, wurde ich nicht angeklagt. Hingegen ermordeten palästinensische Extremisten zwei der mutigen Palästinenserführer, die in der Anfangsphase des Krieges mit mir zusammengetroffen waren, zwei ehemalige "Terroristen".

Nach meiner Ansicht spielten die Zusammenarbeit zwischen den israelischen und den palästinensischen Friedensaktivisten und die ständig zahlreicher werdenden persönlichen Kontakte zwischen ihnen eine entscheidende Rolle. Dieses Zusammenwirken ebnete den Weg für den offiziellen Friedensprozess, der nun im Gang ist. Deshalb rate ich meinen türkischen und kurdischen Freunden: Arbeitet zusammen, sooft sich eine Möglichkeit dazu ergibt, gebt ein Beispiel, beweist, dass ihr zusammenkommen und über Lösungen diskutieren könnt.

Frieden für Türken und Kurden Am Ende ist der Frieden stets der einzige Weg. Türken und Kurden werden auf diese oder jene Art zusammenleben, weil heute keine andere Lösung toleriert werden kann. Es geht somit nur noch darum, ob dies durch die Macht der Vernunft zu Stande kommt oder erst nach weiteren Runden von Gewalt und Blutvergiessen, nach denen die beiden Seiten sich eben auf die Lösung, die schon heute möglich ist, einigen werden.

Sowohl um der Türken wie der Kurden willen hoffe ich, dass die Vernunft siegen wird.