Neue Züricher Zeitung, 7.1.2000

Ruf nach Lockerung des Embargos gegen Bagdad

Saddam Hussein trachtet weiterhin nach Zeitgewinn

Die katastrophalen Auswirkungen der Uno-Sanktionen auf Gesundheit und Wohlergehen der Iraker werden auch in Amerika zunehmend wahrgenommen. Humanitäre Gruppen und Kongressmitglieder fordern eine Aufhebung der Wirtschaftssanktionen bei gleichzeitiger Verschärfung des militärischen Embargos. Präsident Saddam Hussein spielt weiter auf Zeit.

vk. Limassol, 6. Januar

Der Gedanke, dass die katastrophalen Auswirkungen des gegen den Irak verhängten Uno- Embargos nach bald zehn Jahren nicht mehr tragbar sind und dass der Uno-Sicherheitsrat einseitig Konsequenzen aus dieser Lage ziehen sollte, gewinnt immer mehr Anhänger. Ein Verbesserungsvorschlag zielt darauf ab, die Einfuhrverbote im zivilen Bereich abzuschaffen und nur das Rüstungsembargo - in verschärfter Form - aufrechtzuerhalten. Darauf zielt eine Initiative, die zurzeit im amerikanischen Kongress vorbereitet wird. Auch die amerikanische Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) rief die Uno erneut auf, die Importbeschränkungen für zivile Güter sofort und ohne Bedingungen weitestgehend aufzuheben. Das geht auf die Einsicht zurück, dass Bagdad die in der neuen Resolution 1284 geforderte Rüstungskontrolle offensichtlich nicht zulassen will. Die Entschliessung 1284 bietet die Möglichkeit einer Suspendierung der Sanktionen, aber unter der Auflage, dass Bagdad neue internationale Abrüstungsexperten akzeptiert.

Humanitäre Zwangslage

HRW stellt sich auf den Standpunkt, dass eine Revision der Einfuhrkontrollen durch ein Expertenteam des Sicherheitsrats aus humanitären Gründen empfohlen worden sei; deshalb müsse der Rat endlich entschieden den unerwünschten Nebeneffekt der Kontrollen bekämpfen. HRW legt eine Studie über das nun zweieinhalbjährige Uno-Programm «Erdöl gegen Lebensmittel» vor, welche die unzureichende Wirksamkeit des Embargos belegt. Zwar ermöglichte das Programm den bisherigen Import von Hilfsgütern im Wert von 9,5 Milliarden Dollar, was die einer Hungersnot ähnlichen Zustände von 1995 dauerhaft verbesserte. Aber im Urteil von HRW und des 1999 eingesetzten Uno-Expertenteams bleibt die humanitäre Situation im Irak so lange bedrohlich, als ein dauerhafter Aufschwung der irakischen Wirtschaft ausbleibt. Ein solcher sei durch humanitäre Massnahmen allein nicht zu erzielen. Der IKRK-Vertreter in Bagdad urteilte im Mai 1999, der Lebensstandard nehme weiterhin stetig ab; humanitäre Hilfe allein könne niemals die Bedürfnisse des Landes decken.

«Sogar beim reichlichen Mittelzufluss für das Uno-Programm im Jahr 1999 hielten die lebensbedrohenden Missstände im Irak an», schrieb HRW in einem Aufruf an den Präsidenten des Uno-Sicherheitsrats. «Wir sind völlig einverstanden mit der These, dass die irakische Regierung zum Teil selbst daran schuld ist. Doch die skrupellose Manipulation der Uno-Sanktionen durch die Iraker ist ein Bestandteil der Realität, die der Uno-Sicherheitsrat in Betracht ziehen muss. Anstatt einfach Bagdad die Schuld für alles zuzuschieben, wie die USA es zu tun pflegen, muss der Rat seinen Anteil der Verantwortung übernehmen. Dem Regime den Zugang zu Deviseneinkünften zu verwehren ist eines, aber wer zu diesem Zweck die ganze Wirtschaft abwürgt, bürdet den einfachen Irakern den grössten Teil der Last auf.» Das ist genau der Effekt, den der irakische Präsident Saddam Hussein durch die Umbiegung des Embargos zu einem Erpressungsinstrument gegen den Westen erhoffte. Deshalb wird er wohl die Wiederaufnahme einer aktiven Rüstungskontrolle auf irakischem Boden nicht akzeptieren, sondern vielmehr weiter auf den Zahn der Zeit setzen.

Möglichkeiten zur Improvisation erschöpft

Die HRW-Studie erklärt besonders eindrücklich die Folgen eines Langzeit-Embargos. Die wirtschaftliche Belagerung des Iraks habe direkt zur allgemeinen Verarmung eines Grossteils der Bevölkerung beigetragen. Besonders übel ist die Verhinderung einer nachhaltigen Instandstellung der Infrastruktur. Die alliierten Bombenangriffe im Kuwait-Krieg von 1991 zerstörten vor allem die Elektrizitätsversorgung; damit wurden alle davon abhängigen Sektoren langfristig beeinträchtigt: Wasser- und Abwassernetz, Gesundheitsversorgung, landwirtschaftliche Bewässerung. Mangels eingeführter Ersatzteile reparierten die irakischen Ingenieure behelfsmässig, was sie konnten, und bauten dazu Teile aus anderen Anlagen aus. Doch nach neun Jahren sind auch diese improvisierten Möglichkeiten ausgeschöpft.

Dazu kommt ein bedrohlicher Verlust an intellektueller Substanz, teils durch Auswanderung zahlloser Fachkräfte, teils auch durch den fehlenden Import von wissenschaftlichen Zeitschriften und Büchern. Unter der Einwirkung all dieser Faktoren versagen immer neue Teile der irakischen Infrastruktur, Verkehr und Transport, Fernmeldewesen, Erziehung und andere staatliche Dienstleistungen. Damit wird auch das Überleben der Iraker zusehends schwieriger. Das Schreckensbild ist abgerundet durch die bekannten Kennzahlen über Verdoppelung der Kindersterblichkeit, Verbreitung von Infektionskrankheiten, Mangelernährung.

HRW hebt auch die Missbräuche mit der durch die Resolution 1284 theoretisch überholten Importkontrolle durch das Uno-Sanktionskomitee hervor. So klagte selbst der Exekutivdirektor des Uno-Programms für den Irak am 17. November, dass damals, meist auf Intervention der Amerikaner hin, 602 irakische Einfuhrverträge im Gesamtwert von über einer Milliarde Dollar blockiert gewesen seien. Das jüngste Beispiel dazu lieferte am Mittwoch die irakische Presse. Danach hatte der amerikanische Vertreter im Sanktionskomitee den Ankauf von 15 französischen Stieren zwecks Zuchtveredelung durch den Irak blockiert, weil er einen Missbrauch der Tiere in B- oder C-Waffentests argwöhnte. «Wir ermuntern den Sicherheitsrat», schreibt HRW, «das heutige Embargo durch eine Regelung zu ersetzen, die direkt die Fähigkeit des irakischen Regimes zur Einfuhr von militärischen Materialien hemmt. Die Regelung sollte im breiten Rahmen zivile Importe und zivile Finanztransaktionen freigeben.» HRW ruft schliesslich nach der Bildung eines internationalen Gerichtshofs für irakische Menschenrechtsverstösse, wie ihn auch die irakische Exilopposition und Mitglieder der Administration Clinton manchmal fordern. Die Gruppe erinnert daran, dass unter anderem sie selbst solides Belastungsmaterial über Verbrechen hoher irakischer Beamter im Jahre 1988 gesammelt hat. Damals waren über 2000 kurdische Dörfer vernichtet und die Einwohner vertrieben oder deportiert worden. Weiter kämen die Verbrechen während der irakischen Besetzung Kuwaits 1990/91 in Betracht, dann die massive Vertreibung der Marschlandbewohner im Südirak und die Austrocknung der ganzen Gegend, schliesslich Kampagnen zur «Entlastung» der Gefängnisse durch die Exekution von über 2500 Häftlingen.