Neue Züricher Zeitung, 6.1.2000

Völkerrecht und Anwendung von Militärgewalt

Ein Nachtrag zu den Nato-Angriffen in Serbien

Von Astrid Epiney*

Die Luftoffensive der Nato gegen Serbien hat nach Meinung der Verfasserin die Grundprinzipien des modernen Völkerrechts, das auf dem Verbot der einseitigen Gewaltausübung beruht, erschüttert. Sie stellt die Frage, ob es einen «Fortschritt» des Völkerrechts und einen besseren Schutz der Menschenrechte bedeutet, wenn das Gewaltmonopol des Uno-Sicherheitsrates als Ordnungsprinzip der Staatenwelt aufgegeben wird. Darauf, wie repräsentativ der Sicherheitsrat wirklich ist, geht sie bei ihren hauptsächlich formalen Abwägungen allerdings nicht ein.

Das Gewaltverbot dürfte seit Ende des Zweiten Weltkrieges zu dem gesicherten Stand des zwingenden Völkergewohnheitsrechts gehören. Zudem bindet es die fast alle Staaten umfassenden Mitglieder der Vereinten Nationen auf der Grundlage von Art. 2 Ziff. 4 der Satzung der Vereinten Nationen. Durchbrechungen dieses Verbots sind nach dem System der Satzung nur in zwei Fällen möglich, entweder unter den Voraussetzungen des Selbstverteidigungsrechts (Art. 51) oder aber im Falle eines entsprechenden Beschlusses des Uno-Sicherheitsrates nach Art. 39 ff.

Der Grundsatz des Gewaltverbots

Trotz diesem aus rechtlicher Sicht an sich klaren System kamen und kommen Verstösse gegen das völkerrechtliche Gewaltverbot relativ häufig vor, ohne dass einer der genannten Rechtfertigungsgründe vorlag beziehungsweise vorliegt. Allerdings dürften diese Durchbrechungen des Gewaltverbots bisher nicht dazu geführt haben, dass dieses seinen Charakter als (zwingendes) Völkerrecht verloren hätte: Denn zunächst wurde bisher die grundsätzlich Geltung des Gewaltverbots nicht in Frage gestellt; vielmehr bemühte man sich um die Begründung der Verstösse auf der Grundlage geltenden Völkerrechts. Sodann reicht es zur Aufhebung eines völkergewohnheitsrechtlichen Satzes nicht aus, wenn einmal oder auch mehrere Male dagegen verstossen wurde; dies gilt erst recht für zwingendes Völkergewohnheitsrecht. Schliesslich waren die Durchbrechungen des Gewaltverbots bisher in der Regel von relativ heftigen Protesten eines grossen Teils der Staatengemeinschaft begleitet, was jedenfalls auf das Fehlen einer Opinio iuris für eine Änderung des bestehenden Völkerrechts schliessen lässt.

Durch den Einsatz der Nato im Kosovo-Konflikt dürfte aus völkerrechtlicher Sicht allerdings eine neue Dimension hinzutreten: Denn der zweifellos von keinem der beiden genannten Rechtfertigungsgründe getragene Einsatz der Nato fand die Unterstützung einer grossen Anzahl von Staaten, während die protestierenden Staaten - insbesondere Russland - insgesamt eindeutig in der Minderheit blieben und zudem eher Zurückhaltung übten. Auch die Uno hielt sich mit Bewertungen der Situation auffallend bedeckt. Vor diesem Hintergrund fragt es sich, ob diese Entwicklungen Ausdruck einer «gewandelten Wertordnung» in dem Sinn sind, dass es nunmehr eben keinen Numerus clausus mehr der Rechtfertigungsgründe für einen Verstoss gegen das völkerrechtliche Gewaltverbot gibt, sondern auch weitere Durchbrechungen - ggf. unter bestimmten Voraussetzungen - möglich sind. Vertreten wird dies gerade in der deutschsprachigen Völkerrechtslehre immer häufiger.

Es ist aber schwierig vorauszusagen, in welche Richtung sich Reichweite und Aussagegehalt des völkerrechtlichen Gewaltverbots nach dem Kosovo-Konflikt entwickeln werden. Es ist aber erheblichen Zweifeln unterworfen, ob auf der Grundlage des geltenden Völkerrechts schon davon ausgegangen werden kann, dass (militärische) «humanitäre Interventionen» ausserhalb des Rahmens der Charta der Vereinten Nationen gerechtfertigt werden können. Ursprünglich war die Satzung in dieser Beziehung zweifellos abschliessend; die Voraussetzungen für eine gewohnheitsrechtliche Änderung dürften aber zumindest im derzeitigen Zeitpunkt nicht vorliegen: Immerhin haben doch mehrere Staaten gegen die Nato-Einsätze in Serbien protestiert, so dass eine Änderung der Grundsätze der Charta durch eine nachfolgende abweichende Praxis der Mitglieder wohl nicht vorliegen dürfte.

Dies machten im übrigen nicht einmal die Nato und ihre Mitgliedstaaten allgemein geltend: Die sich auf den (bevorstehenden) Nato-Einsatz beziehende Erklärung des damaligen Nato-Generalsekretärs Solana hob den Ausnahmecharakter der Massnahme hervor und blieb in bezug auf die allgemeine Rechtfertigung militärischer Aktionen ausserhalb der in der Uno-Charta vorgesehenen Möglichkeiten sehr zurückhaltend. Der deutsche Aussenminister Fischer wies in einer Rede vor dem Bundestag ebenfalls darauf hin, dass mit dem Einsatzbeschluss der Nato gerade kein neues Rechtsinstrument geschaffen und das Gewaltmonopol des Sicherheitsrates nicht allgemein in Frage gestellt werden sollte. Auch die jüngsten Entwicklungen gehen nicht in diese Richtung: Im Zusammenhang mit der Krise in Osttimor wurde ein militärisches Eingreifen von vornherein nur unter der Voraussetzung des Einverständnisses der indonesischen Regierung erwogen.

Krieg als Fortsetzung der Politik

Nicht zu verkennen wären im übrigen auch die Folgen einer allgemeinen Anerkennung der Berechtigung zur «humanitären Intervention»: Letztlich bedeutete dies die Aufgabe des Monopols des Sicherheitsrates, militärische Sanktionsmassnahmen anzuordnen, und die grundsätzliche Anerkennung des Rechts jedes Staates, im Falle der Verletzung bestimmter völkerrechtlicher Grundsätze auch militärisch einzugreifen. Damit würde Krieg als Fortsetzung der Politik (wieder) anerkannt werden und einer der Hauptpfeiler des internationalen Systems der Sicherheit, das Gewaltmonopol des Sicherheitsrates, de facto aufgehoben werden.

Der Sprengstoff (im wörtlichen Sinn), der hierin für die internationalen Beziehungen läge, dürfte kaum zu überschätzen sein. Es wäre wohl nur eine Frage der Zeit, bis sich in verschiedenen Regionen entsprechende (Macht-)Strukturen herausgebildet haben und überall auf der Welt Staaten zu «humanitären Interventionen» bereit sind. Dass dabei immer «gute Absichten» verfolgt würden, ist wohl zu bezweifeln. Vielmehr würde doch die Gefahr der Ingangsetzung von Gewaltspiralen beschworen werden. Zumindest aus völkerrechtlicher Sicht ist es im übrigen in diesem Zusammenhang wenig überzeugend, darauf hinzuweisen, dass der Sicherheitsrat in kritischen Situationen häufig entscheidungsunfähig sei, würden doch gewisse Ständige Mitglieder ihr Vetorecht «missbrauchen». Denn das System der Charta dürfte ja gerade auf dem Bestreben beruhen zu verhindern, dass Zwangsmassnahmen gegen den ausdrücklichen Willen bestimmter wichtiger Mitglieder der Staatengemeinschaft ergriffen werden können. Dann aber kann die Wahrnehmung dieses von der Charta zugestandenen Rechts keinen «Missbrauch» im Rechtssinn darstellen. Dies ändert freilich nichts daran, dass der Sicherheitsrat bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben zur Wahrung des Weltfriedens in zahlreichen Fällen gerade im Gefolge des Vetorechts der Ständigen Mitglieder versagt; insofern gibt es durchaus gute Gründe für eine Reform des Gremiums. Aus solchen Mängeln im System und einem bestehenden Reformbedarf aber ein einseitiges Eingriffsrecht der Staaten zu folgern, sozusagen als «Ersatzvornahme», ist jedoch weder zwingend, noch trägt es dem in der Charta angelegten System Rechnung.

«Ersatzvornahme»

Insgesamt sind vor diesem Hintergrund die Bestrebungen zur allgemeinen Anerkennung des «Rechts» auf eine humanitäre Intervention mit Skepsis zu beurteilen. Allenfalls könnte man in Erwägung ziehen, den Staaten in den Fällen eine Befugnis zur «Ersatzvornahme» zuzugestehen, in denen der Sicherheitsrat «versagt», weil er auf eine offensichtliche und gravierende Notsituation in bezug auf die Wahrung des Weltfriedens - seine Hauptaufgabe auf der Grundlage der Charta (Art. 24, 25) - nicht reagiert, sondern handlungsunfähig ist und damit seinen Pflichten nicht nachkommt. Dies liefe letztlich auf eine Art «extrakonstitutionelles Notrecht» hinaus, das jedenfalls an die Voraussetzungen der Entscheidungsunfähigkeit des Sicherheitsrates, des Vorliegens einer imminenten und grossen Gefahr für den Weltfrieden beziehungsweise für fundamentale Menschenrechte und an das Verhältnismässigkeitsprinzip gebunden wäre.

Allerdings unterscheidet sich die Situation in Kosovo kaum von derjenigen in anderen Staaten - man denke etwa an Indonesien, an die Türkei oder an gewisse Regionen Indiens (Kaschmir) -, so dass zumindest eine «Ausnahmesituation» nicht vorlag. Auch gravierende Verletzungen der Menschenrechte kommen (leider) nur allzu häufig vor; eine sich darauf gründende Berechtigung zum einseitigen Eingreifen mit Waffengewalt würde militärischen Aggressionen Tor und Tür öffnen, und es ist zu bezweifeln, dass auf diese Weise der Schutz der Menschenrechte - um den es ja eigentlich geht oder gehen soll - tatsächlich insgesamt effektiver sichergestellt werden könnte. Darüber hinaus darf in bezug auf die Situation in Kosovo auch danach gefragt werden, ob denn die Luftangriffe der Nato die Menschenrechtssituation der betroffenen Bevölkerung - die man ja schützen wollte - tatsächlich verbessert haben.

«Fortschritt» des Völkerrechts?

Mit diesen skeptischen Bemerkungen sollen nicht etwa die Menschenrechtsverletzungen in Kosovo in irgendeiner Form verharmlost werden; es ist aber nicht zu verkennen, dass der Eingriff der Nato - und dies, selbst wenn man ihn in diesem Einzelfall als unvermeidlich einstuft und ihm damit in der Sache nicht grundsätzlich abgeneigt gegenübersteht - die Grundprinzipien des modernen Völkerrechts, das auf dem Verbot der einseitigen Gewaltausübung beruht, erschüttert und letztlich wieder die Figur des «gerechten Krieges» einführt, wenn auch mit anderem Inhalt als im klassischen Völkerrecht. Vielleicht wird die Entwicklung ja auch tatsächlich in diese Richtung gehen; die Frage, die sich aber insbesondere für die die völkerrechtliche Praxis prägenden Staaten stellt, ist diejenige, ob es tatsächlich insgesamt einen «Fortschritt» des Völkerrechts und einen besseren Schutz der Menschenrechte bedeuten kann, wenn das Gewaltmonopol des Sicherheitsrates als fundamentales Ordnungsprinzip der internationalen Gemeinschaft aufgegeben wird. Es steht vielmehr zu befürchten, dass auf diese Weise der einseitigen Gewaltanwendung kaum noch effektiv Grenzen gesetzt werden und der Schutz der Menschenrechte nicht unbedingt davon profitiert.

* Die Autorin ist Professorin am Institut für Europarecht an der Universität Freiburg.