Frankfurter Rundschau, 6.1.2000

"Ja, das Video läuft wesentlich schneller"

Die Nato-Bombardierung eines Personenzugs wurde mit verfälschten Filmen und missverständlichen Worten gerechtfertigt / Ein Protokoll

Von Arnd Festerling (Frankfurt a. M.)

Ein Computer der US Air Force hat zwei Videos des Bombenangriffs auf einen Zug während des Kosovo-Kriegs beim Überspielen gekürzt. Die Nato benutzte diese zu schnell laufenden Videos, um zu beweisen, dass die Bombardierung des Zuges wegen dessen schnellen Erscheinens ein unvermeidbarer Unfall war. Bei dem Angriff starben mindestens 14 Menschen.

Was geschah: Am 12. April 1999, kurz vor 12 Uhr mittags klinkte eine F 15 E "Strike Eagle" der US Air Force über Jugoslawien eine der beiden unter den Flügeln montierten videogesteuerten AGM-130 aus. Der Waffensystemoffizier (WSO) lenkte die raketengetriebene Bombe mit einem kleinen Steuerknüppel zu der einige Kilometer entfernten Eisenbahnbrücke nahe der Ortschaft Grdelicka. Den Flug des 1300 Kilogramm schweren Geschosses überwachte er auf einem kleinen Monitor; dort sah er Bilder, die eine in der Spitze der AGM-130 montierte Videokamera aufnahm. Zur gleichen Zeit näherte sich der Personenzug Nr. 393 einigermaßen fahrplanmäßig der Brücke. Bombe und Zug kamen gleichzeitig in der Mitte der Brücke an. Niemand weiß, wie viele der 14 Menschen, die in dem Zug starben, in diesem Moment ihr Leben verloren. Denn das Flugzeug kehrte noch einmal zurück und schoss die zweite Bombe vom gleichen Typ ab. Auch diese traf die inzwischen von Rauch verhüllte Brücke. Auch diese traf den Zug, ausgerechnet da, wo kein Rauch war, ausgerechnet da, wo ein beim ersten Angriff nicht beschädigter Personenwaggon stand. Aus den Protokollen der Nato: "Wir tun alles was wir können, um Kollateralschäden zu vermeiden", sagte der Nato-Oberkommandierende US-General Wesley Clark am nächsten Morgen, dem 13. April, auf der täglichen Nato-Pressekonferenz in Brüssel. "Kollateralschäden" war die Bezeichnung für Schäden an Leib oder Leben, die Unbeteiligte bei Luftangriffen davontrugen. Der "Pilot", sagte Clark weiter, habe alle Hände voll zu tun gehabt, die Raketenbombe ins Ziel zu bringen.

Was die Nato nicht sagte: Der Pilot einer F 15 E hat überhaupt nichts mit der Lenkung der Waffe zu tun. Eben weil diese einige Aufmerksamkeit erfordert, gibt es an Bord des zweisitzigen "Taktischen Luftüberlegenheits-Kampfflugzeuges F 15 E" den Waffensystemoffizier, der sich ausschließlich mit der Steuerung der Raketenbombe beschäftigt. Vielleicht aber hatte sich Clark auch nur versprochen, denn er sagte auch, er habe persönlich mit dem "team" auf der US-Basis im italienischen Aviano geredet, das "direkt an der Operation beteiligt" war. Andererseits kommt niemand vom Fach auf die Idee, einen Waffensystemoffizier "Pilot" zu nennen, er ist nämlich keiner. Der Armeegeneral Clark tat es dennoch laufend und erweckte so den Eindruck, dass dieser Pilot alle Hände voll zu tun gehabt habe: das Flugzeug fliegen und die Bombe lenken. Der Zuhörer, der nicht weiß, dass der Angriff von einer F 15 E geflogen wurde und der sich in der Waffentechnik mutmaßlich schlechter auskennt als ein US-General, ist jedenfalls versucht zu glauben, dass es sich um einen einzigen Insassen des Fliegers handelt, der Bombe und Maschine zugleich steuern musste.

Aus den Protokollen der Nato: Am Ende der Pressekonferenz zeigte Clark den Journalisten zwei Videofilme, die von Kameras in den Nasen der beiden Raketenbomben aufgenommen worden sind (Sie stehen noch heute auf den Nato-Seiten im Internet zum Herunterladen unter www.nato.int/kosovo/video.htm). Weiter von "dem Piloten" sprechend wies er darauf hin, wie schnell der Zug ins Bild kam ("in weniger als einer Sekunde", sagte Clark) und beschrieb andererseits die Mühe, die der "Pilot" beim Steuern der Bombe hatte: Er habe zwei Fadenkreuze "zusammenbringen müssen".

Was die Nato nicht sagte: Clark gibt den Vorgang unrichtig wieder, denn der Waffensystemoffizier (WSO) muss die Fadenkreuze nicht zusammenbringen, das tut die Elektronik. Ein Fadenkreuz bezeichnet den Punkt, wo der Offizier die Bombe hinsteuert, das andere zeigt an, wo die Bombe hinfliegt. Es richtet sich automatisch nach dem Zielkreuz aus, das der WSO vorgibt.

Aus den Protokollen der Nato: Auf dem ersten Video sieht der Betrachter den extrem unruhigen Flug der Raketenbombe zur Brücke, man kann auf einer Straße rechts im Bild ein Auto fahren sehen, und dann kommt auf der Bahnlinie von links ein Personenzug schnell ins Bild gefahren. Etwas rechts der Brückenmitte trifft die Bombe den Zug, die letzten Bilder des Videos zeigen die Fenster eines Eisenbahnwaggons hinter den Metallverstrebungen der Brückenkonstruktion.

Was die Nato nicht sagte: Bei genauerer Betrachtung des Films fallen zwei Dinge auf. Erstens fehlt die Statusanzeige. Auf allen anderen von der Nato veröffentlichten Bombenvideos laufen am Bildrand technische Informationen für den WSO mit, darunter eine Uhr, die Sekunden zählt, mutmaßlich die seit dem Abschuss verstrichene Zeit. Gerade diese Statusanzeige fehlt auf den beiden Bombenvideos komplett; mit der Uhr fehlt aber auch der Beweis dafür, dass das Video in "Echtzeit" läuft. Außerdem fällt der "ruckelnde", "hektische" und wenig gleichmäßige Flug der eigentlich recht "trägen" Raketenbombe auf.

Da der Zug europäische Normwagen zieht, lässt sich einigermaßen genau errechnen, wie schnell er ist. Dazu wird ein Wegpunkt genommen und geschaut, wieviel Einzelbilder ein Waggon braucht, um diesen Punkt zu passieren. Das Video läuft im mpeg-Format, in der US-üblichen Bildrate von standardisierten 29,97 Bildern pro Sekunde. Laut Video vergehen von dem Moment, wo der Zug deutlich ins Sichtfeld kommt bis zum Einschlag der Bombe 2,3 Sekunden. Der Zug wäre dann etwa 300 Stundenkilometer schnell gefahren. Nimmt man als Grundlage für die Berechnungen an, der Zug sei etwa 100 Stundenkilometer gefahren (was angesichts des alten Schienennetzes in Serbien vermutlich wesentlich zu hoch gegriffen ist), dann läuft das Video mindestens dreimal schneller als in Echtzeit. Dann hätte der WSO mindestens 6,9 Sekunden Zeit für eine Reaktion gehabt statt der dargestellten 2,3 Sekunden - die Clark überdies als "weniger als eine Sekunde" beschreibt.

Die Nato hat also einen Videofilm vorgeführt, der in seiner entscheidenden Aussage, den Zeitablauf des Bombenangriffs objektiv wiederzugeben, absolut untauglich ist. Der Oberbefehlshaber der Nato in Europa hat der Öffentlichkeit anhand dieses untauglichen Videos und einer missverständlichen Wortwahl erklärt, der Angriff auf den Zug sei wegen des gedrängten Zeitablaufs letztlich unvermeidlich gewesen.

Der zweite Film, der von der zweiten Bombe aus aufgenommen wurde, ist in der gleichen Weise verfälscht. Auf ihm ist der Zug aber nicht mehr in Bewegung.

Das sagt die Nato heute: Der politische Teil der Nato in Brüssel sagt, dieser Fall ginge vor allem den militärischen Teil der Nato etwas an und verweist an Shape, das oberste Hauptquartier der alliierten Streitkräfte Europa im belgischen Mons, dessen Chef Wesley Clark war.

Das sagt Shape heute: Ein Sprecher von Shape erklärt: "Ja, das Video läuft wesentlich schneller." Dafür gebe es eine Erklärung: Die "Raffung" sei bei der technischen Transformation der Bilder von unterschiedlichen Formaten auf mpeg passiert. Die Statusanzeigen - und damit die Uhr - fehlten, weil der Film aus dem Begleitflugzeug (Wingman) der angreifenden Maschine stammt und nicht aus ihr selbst. Warum das so sei, wisse man bei Shape auch nicht. Ohnehin, erklärt der Sprecher des Oberkommandos, habe man erst später erfahren, dass das Video schneller laufe. Man habe das Material so veröffentlicht, wie es von der US Air Force zur Verfügung gestellt worden sei. Weitere Erklärungen habe die Air Force nicht gegeben. Insgesamt, das gibt Shape zu, sei der Vorgang durchaus "unüblich".

Das sagt die US Air Force heute: Ein Sprecher des Hauptquartiers der US Air Force in Europa in Ramstein spricht von einem unvorhersehbaren und bedauerlichen Hardwarefehler. Dieser sei aufgetreten, als das 8-mm-Band aus der Maschine in der von der Firma Sun Microsystems gekauften Hardware ausnahmsweise direkt ins mpeg-Format übertragen worden sei, ohne einen üblichen Zwischenschritt mit einer Übertragung in ein spezifisches Sun-mpeg-Format zu vollziehen. Das habe man gemacht, um der Öffentlichkeit möglichst schnell ein Band das Angriffs vorführen zu können, sagt der Air-Force-Sprecher, und: "Unseren Leuten ist nicht bewusst gewesen, dass da Veränderungen auftreten." Im übrigen sei die Raffung bei Proben erneut aufgetreten, wenn ein Videoband direkt umgearbeitet werde. Die Firma Sun Microsystems habe nicht mitgeteilt, wo das Problem in der Hardware liege.

Warum ausgerechnet das Band des "Wingman" ohne Uhr genommen worden sei, lasse sich nicht mehr herausfinden, es sei jedenfalls das einzig vorhandene. Dass es sich um das einzige veröffentlichte Bombenvideo ohne Statusanzeigen handele, sei möglich. Es zeige aber auch im Original, so die US-Luftwaffe, dass alles viel zu schnell gegangen sei, um den schrecklichen Unfall noch zu verhindern.