Frankfurter Rundschau, 5.1.2000

Erst 20 000 Tote ließen zwei Erbfeinde zusammenrücken

Die verheerenden Erdbeben haben das Eis zwischen Griechenland und der Türkei gebrochen / FR-Serie (Teil XII)

Von Gerd Höhler (Athen)

Es war ein Jahr im Schatten des Kosovo-Kriegs. Doch nicht nur deshalb hat 1999 die Welt verändert. In dieser Serie halten Redakteure und Korrespondenten der FR einprägsame Augenblicke des Jahres fest.

Angekündigt, so glaube ich mich hernach zu erinnern, hat es sich durch ein fernes, dumpfes Brausen aus der Tiefe. Aber diese Vorwarnung, wenn es sie denn überhaupt gab, dauerte nicht mal eine Sekunde. Dann war das Beben da. Mich überrascht es an diesem Dienstagmittag, dem 7. September, um vier Minuten vor drei an meinem Schreibtisch im sechsten Stock eines Hauses im Athener Stadtzentrum. Wie von einer Riesenfaust angestoßen, gerät das Gebäude plötzlich ins Wanken. Ich tue, was man instinktiv tut, wenn man schon früher Erdbeben erlebt hat: Ich springe auf und suche Schutz unter dem Türrahmen. Immer heftiger wird das Rütteln. Der Rahmen, an den ich mich klammere, beginnt zu knirschen. Ich höre, wie sich in der Küche die Schränke entleeren, Gläser und Teller auf den Boden fallen und zerspringen. Die ersten Bücher fliegen aus den Regalen. Der Monitor auf dem Schreibtisch beginnt zu tanzen. Ein wildes, bösartiges Dröhnen und Tosen kommt aus den Wänden, die in immer heftigere Schwingungen geraten. Das geht nicht gut, schießt es mir durch den Kopf, diesmal nicht. Todesangst packt mich. Das Gebäude, denke ich, hält das nicht aus. Es wird in den nächsten Sekunden einstürzen. Wie die Lagen eines Club-Sandwich werden die Botendecken der einzelnen Stockwerke aufeinanderknallen und alles zwischen sich zermalmen.

Dann ebbt das Rütteln plötzlich ab, ist vorbei. Zwölf Sekunden hat das Beben gedauert, eine Ewigkeit. Der Computermonitor, nach seinem Tanz um 90 Grad gedreht und einen halben Meter seitwärts gerutscht, verlischt, als sei die Vorstellung zu Ende. Der Strom ist ausgefallen. Für eine Sekunde herrscht nach dem Getöse Totenstille. Dann heulen draußen die Alarmanlagen los. Ich stürze aus der Wohnung, laufe die Treppe hinunter und hoffe, dass ich das Freie erreiche, bevor, vielleicht, der nächste Erdstoß kommt, der noch viel heftiger sein könnte. Die Straßen sind voller Menschen, viele von ihnen in Panik, andere nur verängstigt, manche schon wieder erleichtert, aber blass auch sie. Die Häuser ringsherum in der Nachbarschaft stehen noch. Nur etwas Putz und ein paar Fassadenteile sind da und dort herabgestürzt.

Wie es in den anderen Stadtteilen aussah, erfuhren wir erst in den Stunden danach. Dutzende Gebäude waren eingestürzt, 140 Menschen ums Leben gekommen, 80 000 obdachlos geworden. Das schweste Erdbeben, von dem Athen seit Menschengedenken heimgesucht wurde, erreichte freilich nicht annähernd die Dimensionen der Bebenkatastrophe, die drei Wochen zuvor über die Nordwesttürkei hereingebrochen war. Dort starben mindestens 18 000 Menschen, nahezu eine Million wurde obdachlos. Und Mitte November bebte die Erde in der Türkei erneut. Wieder gab es Tote, diesmal fast tausend.

Doch ausgerechnet diese Naturkatastrophen vermochten, was die Politiker in beiden Ländern jahrzehntelang vergeblich versucht oder sogar bewusst vereitelt hatten: Griechen und Türken entdeckten Sympathien füreinander. Das auch von den Medien beiderseits der Ägäis lange kultivierte Image des jeweils "hässlichen" Nachbarn wich Bildern von verzweifelten Menschen, die Hilfe brauchen. Die von den schweren Naturkatastrophen ausgelöste "Erdbeben-Diplomatie" hat inzwischen Früchte getragen. In Helsinki stimmten die Griechen der türkischen Kandidatur für die Europäische Union zu. Mehrere bilaterale Abkommen zwischen den beiden einstigen "Erbfeinden" sind heute unterschriftsreif. Das Eis ist gebrochen. Erstmals seit fast vierzig Jahren eröffnet sich die historische Chance auf eine wirkliche Annäherung, vielleicht sogar auf eine Aussöhnung zwischen Griechen und Türken. Dass es dazu mehrerer Erdbeben und mindestens 20 000 Todesopfer bedurfte, ist eine bittere Ironie.