Stuttgarter Nachrichten 4.1.2000

Ecevit zieht im Fall Öcalan die Notbremse

Angehörige der Opfer: keine Gnade

Der türkische Premier stemmt sich gegen Hinrichtung des PKK-Chefs

Ankara - Die Türkei hat zu Neujahr gute Vorsätze gefasst: ¸¸In einem Jahr eine gute Demokratie, in drei Jahren eine gute Wirtschaft'', so fasste eine Zeitung das optimistische Programm von Ministerpräsident Bülent Ecevit zusammen.

Von unserer Korrespondentin

SUSANNE GÜSTEN, Ankara

Nach der Aufmunterung durch die Europäische Union, die das Land im Dezember zum Beitrittskandidaten ernannte, will der Regierungschef die Todesstrafe abschaffen, der Folter ein Ende machen und eine Lanze für die Meinungsfreiheit brechen. Alles notwendige Reformen für die Annäherung an Europa, doch die Widerstände sind selbst in Ecevits Regierungskoalition stark. Die erste Kraftprobe mit dem rechtsextremen Bündnispartner MHP kommt voraussichtlich schon in dieser Woche, wenn die Koalition entscheiden muss, ob PKK-Chef Abdullah Öcalan nun hingerichtet wird oder nicht.

Die Frage drängt, denn das von einem Staatssicherheitsgericht verhängte Todesurteil gegen den Rebellenchef wurde kurz vor Neujahr rechtskräftig, nachdem der Berufungsgerichtshof den Spruch im November bestätigt hatte und der Generalstaatsanwalt am 30. Dezember einen letzten Revisionsantrag verwarf. Theoretisch steht zwischen Öcalan und dem Galgen nun nur noch das Parlament, das jedes Todesurteil in Gesetzesrang erheben muss, bevor es vollstreckt werden kann. In der Praxis kann die Hinrichtung jedoch von mehreren Instanzen aufgehalten werden, die die Akte auf ihrem Weg ins Parlamentsplenum durchläuft. Am Montag wurden die 90 Aktenordner des Falles Öcalan vom Justizministerium an das Ministerpräsidentenamt überstellt - und da sollen sie nach dem Willen des Regierungschefs auch erst einmal bleiben.

Über den Fall Öcalan kann Ecevit allerdings nicht alleine entscheiden, regiert er doch mit einer Drei-Parteien-Koalition, die als zweitstärksten Partner die rechtsextreme Partei des Nationalen Aufbruchs (MHP) einschließt. Weil der Fall diese Koalition auf die Zerreißprobe stellt, hatte sich die Regierung bisher um eine Entscheidung herumgedrückt. Ecevit und der Juniorpartner in der Koalition, Mesut Yilmaz, sind sich einig, dass die Türkei ihre Beziehungen zur Europa nicht durch eine Vollstreckung des Todesurteils gefährden darf; die MHP hat ihrer Klientel dagegen versprochen, die Hinrichtung des Rebellenchefs zu erzwingen.

Als der Europäische Menschenrechtsgerichtshof vor einem Monat darum bat, die Vollstreckung auszusetzen, bis das Straßburger Verfahren abgeschlossen ist, musste Ankara daher passen: Nach ergebnislosen Krisenberatungen vertagte die Koalition die Entscheidung.

Nun ist der innertürkische Rechtsweg aber endgültig ausgeschöpft, und der Druck auf das Regierungsbündnis steigt. Premier Ecevit konnte die Koalitionskrise gerade noch über Silvester vertagen. ¸¸Gleich nach Neujahr'' werde es aber eine Entscheidung geben, versprach er; der Krisengipfel soll nun an einem vorläufig noch geheimen Termin in dieser Woche stattfinden.

Auf das Ergebnis warten nicht nur Freunde und Feinde des PKK-Chefs gespannt - denn die Entscheidung über den Fall Öcalan dürfte zum Gradmesser für den Einfluss der Rechsextremen geraten und damit zur Vorentscheidung darüber, ob Ecevit sich mit seinem Reformprogramm durchsetzen kann.

Für einen Sieg Ecevits bei diesem Tauziehen spricht, dass sich Staatspräsident Süleyman Demirel schon mehrfach dafür ausgesprochen hat, dem Straßburger Ersuchen zu entsprechen und die Hinrichtung auszusetzen. Die Mütter von gefallenen türkischen Soldaten - hier bei einer Demonstration nach dem Richterspruch im Juni 1999 - drängen auf Härte gegenüber Öcalan.