Neue Züricher Zeitung 1.1.2000

Der 25. Ramadan 1420 oder der 23. Tevet 5760

Erwartungen auf eine Zeitenwende trotz abweichenden Zeitrechnungen im Nahen Osten

Im Vorderen Orient steht der Wechsel zum Jahr 2000 nach christlichem Kalender anderen, jüdischen und muslimischen, Daten gegenüber, die kein besonderes Ereignis markieren. Trotzdem erhoffen sich viele vom westlichen Datumswechsel auch eine Zeitenwende.

vk. Limassol, 31. Dezember

Die Muslime schreiben am 1. Januar 2000 den 25. Ramadan 1420, die Iraner den 11. Dey 1378 und die Juden den 23. Tevet im Jahre 5760 seit der biblischen Erschaffung der Welt. Trotzdem sind die Menschen der verschiedenen nahöstlichen Kulturkreise nicht immun gegen jene Bespiegelungen des Seelenabgrunds, welche die alte Welt bei der Datumsrundung ergriffen haben.

Spannung vor der Leilat ul-Kadr

Die genauen Vorstellungen davon, was vielerorts als der Anbruch eines neuen Jahrtausends begangen wird, beschränken sich für breite Kreise auf die Fernsehbilder von Glitzerfestlichkeiten an den diversen Nabeln der grossen weiten Welt und auf den diffusen Aberglauben an einen mysteriösen Virus mit weitreichendem Störpotential. Der religiöse Hintergrund der chiliastischen Weltenbrände und Wiedergeburten ist nur sehr wenigen vertraut. Wer im Orient mit dem Westen Geschäfte macht, macht im Computer und auf den Rechnungen ohne weiteres Nachdenken den Datumswechsel nach westlicher Zählung mit. Das Leben der muslimischen Gläubigen ist derzeit ohnehin in den arabischen Ländern, in Iran und der Türkei überall gleich von den Ritualen des Fastenmonats Ramadan bestimmt: Enthaltsamkeit in allen Dingen vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung, Festlichkeiten und überschäumende Lebensfreude während der Nacht und allgemein Besinnung auf das bessere Selbst. Etwas Besonderes gab es in der Nacht auf den 25. Ramadan nicht zu feiern. Die Leilat ul-Kadr, die Nacht des Schicksals, da Gott dem Propheten Mohammed die erste Offenbarung eröffnete, steht erst am 27. Ramadan bevor.

Der muslimische Kalender rechnet ab der Hijra im Jahr 622 nach Christus, als der Prophet aus der ihm anfänglich nicht gewogenen Stadt Mekka nach Medina floh. Man zählte seither 1420 Mondjahre à 354 Tage. Der Jahresbeginn verschiebt sich somit immer gegenüber dem Sonnenjahr und dem Kreislauf der Natur; ein Jahresanfang am 1. Januar wäre also reiner Zufall. Die iranische Zeitrechnung hat hingegen, obwohl sie sich muslimisch versteht, einen fixen Jahresbeginn am Nowruz oder 21. März. Dieser Kalender nimmt alte arische Traditionen des Sonnenjahres und seiner Monatsnamen auf. Islamisch am iranischen Kalender ist der Bezug auf die Hijra, wie ihn ein Parlamentsbeschluss im Jahre 1925 verfügte. Weil aber in den um elf Tage längeren Sonnenjahren gezählt wird, schreibt man erst das Jahr 1378. Dieser Kalender bestimmt das öffentliche Leben, die Feiertage und das Geschäftsjahr der Islamischen Republik; die muslimischen Feste richten sich jedoch wie in den anderen Ländern nach dem Mondjahr. Regelmässig beginnt aber der Ramadan einen Tag später als etwa in Marokko, weil dafür die Sichtung der ersten Mondsichel im Fastenmonat durch die lokale Geistlichkeit den Ausschlag gibt.

In Israel gilt neben dem Gregorianischen der jüdische Kalender. Obwohl das Geschäftsjahr der Regierung am 1. Januar beginnt, datiert die Verwaltung jedes offizielle Schreiben zuerst nach jüdischer Zählung. Danach liegt der Anfang des Jahres, Rosch Haschanah, nahe bei der Herbstgleiche, am 30. September. Weil die jüdische Geschichte auf Grund der Thora den Anspruch erhebt, den ganzen Weg bis direkt zu Gottes Schöpfung zurückzusteigen, zählt der entsprechende Kalender seit der Erschaffung der Welt bis heute genau 5760 Jahre.

Die nachgeborenen christlichen Geschichtsschreiber kannten bereits Zweifel am Schöpfungsdatum und waren überdies mit Zeitrechnungen nach den Amtsjahren römischer Kaiser und lokaler Herrscher konfrontiert. Aus ihrem Glauben an Christus schufen sie die Zeitrechnung seit der Geburt des Erlösers. Von dem ersten so abgestützten Festkalender aus dem Jahr 525 bis zur allgemeinen Übernahme dieser Tradition dauerte es dann noch über 1000 Jahre. Die muslimischen Chronisten, welche die Suprematie von Jesus, eines unter vielen koranischen «Propheten», nicht hinnehmen konnten, verwarfen ihrerseits das jüdische Schöpfungsdatum; sie hielten sich an einen historisch bestimmten Merkpunkt in der Laufbahn des Propheten. Spätere revolutionäre Regime, etwa die französische Republik 1793 oder Ghadhafis Jamahiriya nach 1969, führten ohne dauerhaften Erfolg eigene Zeitrechnungen ein, um den Angelpunkt der Zeiten endlich von geistlichen Einflüssen zu befreien.

Der unaufhaltsame westliche Einfluss

Alle Länder des Nahen Ostens sind, ungeachtet ihrer eigenständigen Zeithorizonte, vom westlichen Datumswechsel erfasst worden. Die einen wehrten ab, wie etwa Saudiarabien durch das strikte Verbot öffentlicher Feiern, andere übertrafen sich mit eigenen Beiträgen - wie Libanon oder Ägypten. Kein wacher Politiker konnte die Augen vor dem verbreiteten Empfinden einer Wendezeit verschliessen: Das im täglichen Überlebenskampf aufgeriebene Volk erwartet im Stillen eine Zeitenwende, welche die tieferen Wunder des Daseins eröffnet und für einmal nicht auf Kosten des einfachen Mannes geht. Ausgerechnet im muslimisch dominierten Westteil von Beirut überbieten sich die grossen Hotels mit aufwendigen Neujahrsessen. Kairo schüttelte für die Silvesternacht die muslimische Biederkeit ab und rankte sich mit einer internationalen Musik-, Theater- und Lasershow über «die Träume der Sonne» zum Weltwunder seiner Pyramiden empor - und zugleich ins Rampenlicht der weltweiten Fernsehketten. Jene Ideologen, welche durch autoritäre Verfügungen den Millenniumstaumel zu vertuschen suchten, haben sich nicht getäuscht: Er belegt auf seine eigene Art den alles durchdringenden, normierenden Einfluss westlicher Zeitrechnung, westlicher Zivilisation, Marktwirtschaft und Lebensart. Deshalb ist in den nahöstlichen Entwicklungsländern eben nicht radikale Veränderung, sondern Kontinuität zu erwarten, eine andauernde Konfrontation mit den Einflüssen der dominanten Industriestaaten.