Frankfurter Rundschau, 3.1.2000

Türkei schiebt AKW-Pläne erneut auf

Ecevit: Noch Gespräche nötig / Kernkraftwerk soll in erdbebengefährdetem Gebiet entstehen

Von Gerd Höhler (Athen)

Die umstrittenen türkischen Atomkraftwerkspläne stoßen auf immer neue Schwierigkeiten. Kontrovers ist das Projekt vor allem wegen Erdbebenrisiken.

Pläne zum Einstieg in die Kernkraft schmiedet man in der Türkei seit fast drei Jahrzehnten, aber die Verwirklichung verzögerte sich immer wieder. Das jetzt diskutierte Projekt nahe der südtürkischen Ortschaft Akkuyu wurde bereits dreimal ausgeschrieben, zuletzt 1997. Eine eigentlich bereits am 15. Oktober 1999 ablaufende Frist zur Auftragsvergabe verlängerte die türkische Regierung auf den 31. Dezember 1999. Doch kurz vor Ablauf wurde der Termin um einen weiteren Monat hinausgeschoben. Man müsse sich noch "mit einigen Regierungsbehörden detaillierter beraten", erklärte Ministerpräsident Bülent Ecevit jetzt. Worum es dabei geht, sagte der Premier nicht. Um den Auftrag bewerben sich die britische Westinghouse Electric, die kanadische AECL und das deutsch-französische Konsortium Nuclear Power International (NPI), dem auf deutscher Seite unter anderen Firmen Siemens und Hochtief angehören. Die Unternehmen müssen dem neuerlichen Aufschub zustimmen. Andernfalls könnte auch diese dritte Ausschreibung platzen. Am Freitag traf die Führung der türkischen Elektrizitätswerke TEAS mit den Vertretern der drei Anbieter zusammen. Die müssen sich nun nicht nur mit ihren Unternehmensleitungen und den Konsortialpartnern, sondern auch mit ihren Banken abstimmen.

Das Atomkraftwerk soll eine Leistung von 1400 oder, alternativ, 2900 Megawatt haben und zwischen 4,7 und 8,8 Milliarden Mark kosten. Es könnte 2007 ans Netz gehen. Ankara rechtfertigt das Vorhaben mit der wachsenden Energielücke. 1999 betrug der Stromverbrauch rund 117 Milliarden Kilowattstunden, die eigene Kraftwerkskapazität liegt jedoch nur bei 115 Milliarden. Die Türkei muss immer mehr Strom aus Iran, Georgien und Bulgarien importieren.

Türkische und ausländische Umweltschutzgruppen aber laufen Sturm gegen das AKW-Projekt. Sie fürchten unabsehbare Risiken einer nuklearen Katastrophe, weil das Kraftwerk in einer durch Erdbeben gefährdeten Region erbaut werden soll. Nur 20 Kilometer vom geplanten Standort entfernt verläuft eine Erdbebenspalte, der Ecemis-Graben. Während die türkische Atomenergie-Behörde TAEK den Standort bei Akkuyu als "geeignet" genehmigte, warnen prominente Wissenschaftler vor dem Projekt. Ohne weitere geologische Studien sei es "unverantwortlich, wenn nicht gar kriminell", an dem Vorhaben festzuhalten, meint der Geologie-Professor Atilla Ulug.

Nach den jüngsten Erdbebenkatastrophen in der Türkei haben auch die Bürgerproteste gegen das geplante Atomkraftwerk wieder zugenommen. Die Experten der Umweltschutzorganisation Greenpeace lassen überdies das Argument der Regierung, der Bau des Kraftwerks sei wegen der Energielücke unumgänglich, nicht gelten. Nach Greepeace-Berechnungen wird der geplante Atommeiler nur etwa drei Prozent zur Stromversorgung des Landes beisteuern. Mit einer Modernisierung des Leitungsnetzes und besserer Wartung der bestehenden Kraftwerke ließen sich jedoch bis zu 25 Prozent einsparen; überdies, so rechnet Greenpeace vor, nutze die Türkei das vorhandene Potential an Wasserkraft erst zu 30 Prozent, von anderen erneuerbaren Energiequellen wie Wind und Sonne ganz zu schweigen.