Que Se Vayan Todos

Ein AugenzeugInnenbericht des finanziellen Zusammenbruchs und der fortschreitenden Graswurzelrebellion. Veröffentlicht am 1. Mai 2002, fertig übersetzt Anfang Juli 2002. Wegen dem grossen Bedarf an Informationen zum Thema "Aufstand und Alternativen" in Argentinien, veröffentlichen wir hier den AugenzeugInnenbericht "Que se vayan todos"... (Sie sollen alle gehen!)

http://www.indymedia.de/2002/07/25867.shtml

Routine und Rebellion

15. Feb. 2002
"Ihre Flugtickets sind ungültig", sagte die Angestellte mit dick aufgetragenem Lippenstift am Check-in Schalter der Fluglinie Varig im südlichen Brasilien. Ihre Augen wechseln zur nächsten Person in der Schlange. Wir protestieren heftig, da wir bisher keine Probleme hatten mit den Flugtickets. Sie verbleibt unbeeindruckt und ruft die Chefin, die uns erklärt daß Varig nicht mehr Flugtickets von Aerolineas Argentina anerkennt. "Denen kann jetzt nicht vertraut werden", sagt sie uns mit ernstem Gesicht, und zeigt uns die Mitteilung die die neue Verfahrensweise ankündigt. "Wir betreiben keine Geschäfte mehr mit ihnen". Dies ist unsere erste Erfahrung mit den sich ausdehnenden Auswirkungen der argentinischen Finanzkrise.

Am Flugticketschalter von Aerolineas Argentinas ist der Angestellte freundlich und erscheint etwas verlegen. Er bucht uns Tickets für den nächsten Flug nach Buenos Aires. Sein Benehmen ist das eines Mannes der nicht weiß ob er morgen noch einen Job haben wird. Wir betreten das Flugzeug, in der Hoffnung daß die massiven Entlassungen und Sparmaßnahmen nicht die Flugsicherheit, Flugingenieure, Sicherheitsüberprüfungen und andere verwandte Bereiche in Mitleidenschaft gezogen haben. Wir kommen sicher an, finden ein billiges Hotel und mit schläfrigen Augen machen wir uns auf Kaffeesuche.

In der Ecke des Cafes ist der Fernseher mit gesenkter Lautstärke auf den Cronica Kanal eigestellt - ein ausschließlich argentinisches Phänomen - 24 Stunden live trash - "Nachrichten", scheinbar uneditiert, mit unglaublicher schlechter und abrupter Kameraführung, und mit demselben einsamen Reporter der überall in der Stadt zufällig auftaucht. Unsere erste Bekanntschaft mit Cronica sind "live und direkte" Szenen vom Strand, zusammen mit Nahaufnahmen die sich auf Bilder von Beachvolleyballspielen und Sonnenbadenden zoomen. Es findet eine massive soziale Rebellion im Lande statt, und die Nachrichten sind live und direkt vom Strand!

Nach etwa 20 Minuten Aufnahmen vom Strand kehrt der Sender ins Nachrichtenstudio zurück. Zwei "Moderierende" tauchen auf, Puppen mit schockierender pinker Haarfarbe. Dies ist jenseits von absurd, wir sehnen uns nach Nachrichten von der Rebellion, und alles was wir kriegen sind Puppenspiele und Strandszenen. Nach einigen Berichten "live und direkt" vom Training des lokalen Fußballteams werden wir endlich mit Bildern belohnt von Menschen die Kochtöpfe schlagend die Eingangshalle einer Bank stürmen. Wir trinken schnell unseren Kaffee aus, fragen die Kellnerin wo es zum Finanzzentrum geht, hüpfen auf einen Bus und sind in Minutenschnelle dort.

Finanzzentren sehen überall etwa gleich aus, sei es im Stadtzentrum von London, New York, oder Frankfurt, aber hier in Buenos Aires gibt es einen bedeutenden Unterschied - riesige Wellblechschilder schützen viele Bankhauptsitze, insbesondere der internationalen Konzerne, wie Citibank, HSBC und Lloyds. Weg sind die großen Eingangshallen; die prestigeträchtigen glänzenden Fassaden von Glas und Marmor sind hinter ödem grauem Stahl versteckt, und der einzige Eingang ist durch eine kleine Tür die ins Metall geschnitten wurde. Figuren in Anzügen werden hier hindurchgeleitet mit gesenktem Kopf, sie treten in diese Festungen als sei das Bankgewerbe zu einer geheimen Untergrundaktivität geworden. Der intesive Geruch nasser Farbe hängt in der Luft, frisches Graffiti überzieht das Wellblech und die Mauern mit dem Wort "ladrones", Diebe. Die Aktion kann nicht weit sein. Wir teilen uns auf und suchen in der Umgebung, lauschen nach dem Geräusch von Metall das auf Metall schägt, dem unverwechselbaren Lärm der zur Begleitmusik dieser Rebellion geworden ist, aber wir hören und sehen nichts. Wir scheinen zu spät gekommen zu sein.

Ökonomie im freien Fall

Wir sind an einem Freitag angekommen. Jede Freitagnacht seit Mitte Dezember 2001 gab es einen massiven Cacerolazo (Kochtopfdemo) in Buenos Aires. Die Leute versammeln sich im politischen Zentrum der Stadt, dem Plaza de Mayo, und machen einen riesigen Lärm indem sie auf die cacerolas, Töpfe, schlagen. Diese großen cacerolazos sind spontan am 19. December 2001 entstanden, dem Tag an dem der Aufstand ausbrach, nachdem er in den Provinzen während mehreren Jahren geschwelt hatte, und nun ist praktisch jeder Bereich der argentinischen Gesellschaft miteinbezogen.

Argentinien erlitt zweieinhalb Jahre von IWF-gestützten "Marktwirtschaftsreformen", die bedeuteten daß alles privatisiert wurde: Wasser, Telefonleitungen, Postdienste, Eisenbahnen, Strom - einfach alles was ihnen einfiel - sogar der Zoo wurde privatisiert. Als die asiatischen und russischen Märkte 1998 zusammenbrachen, trockneten Auslandsinvestitionen in den sogenannten "emerging markets", den aufstrebenden Ökonomien der Schwellenländer, aus. Argentinien wurde schwer getroffen und verfiel in eine tiefe Rezession, und ausländische Gläubiger verlangten ihr Geld zurück, rechtzeitig.

Gemäß dem Internationalen Währungsfond, IWF, wäre der einzige Weg daß die argentinische Regierung die 132 Milliarden Dollar Schulden zurückbezahlen könnte, von denen einige noch aus der Militärdiktatur stammen, noch mehr Kürzungen bei den Sozialausgaben, insbesondere da viele Menschen aufgehört hatten ihre Steuern zu bezahlen, weil sie die politische Korruption satt hatten. Renten, Erwerbslosengeld, Gesundheit und Bildung wurden massiv gekürzt, und allen Staatsangestellten wurden die Löhne um 13 Prozent gekappt. Es war die selbe alte Leier die in so vielen Ländern der Welt wiederholt wird - in der Welt - wodurch Staaten noch weiter in die tiefere und tiefere Verschuldung gezwungen werden. Der IMF streicht bis zum letzten Hemd die Ökonomien zusammen zum Vorteil von Großbanken und Anleihekonzernen.

Tatsächlich waren es die Kreditmärkte, die unzufrieden waren mit dem langsamen Tempo der Sparpolitik, die sich als noch heftigere Maßnahmeneinforderer erwiesen als der IWF. Im Gegensatz zum IWF, sandten sie keine Verhandlungsdelegationen, sie erhöhten einfach massiv die Zinsen auf ihre Kredite, manchmal von 9 auf 14 Prozent innerhalb von 14 Tagen. Nun, nach vier Jahren Rezession, ist jede fünfte Person in Argentinien erwerbslos, und manche ÖkonomInnen befürchten daß diese Zahl bald verdoppelt sein könnte. 40 Prozent der Bevölkerung lebt nun unter der Armutsgrenze, und täglich wird diese Zahl um weitere 2000 Menschen erhöht. Krankenhäusern fehlt es an Grundversorgung wie Verband und Spritzen, Schulen müssen schließen weil die LehrerInnen nicht bezahlt werden, Kindersterblichkeit und Hunger nehmen zu. Und dies alles passiert in einem Land das früher als eines der reichsten der Welt bekannt war. Während Jahrzehnten wurde Argentinien als große Erfolgsstory des Neoliberalismus unter den "Entwicklungsländern" betrachtet, Musterschüler des "Washington Consensus" und wichtigster Propagandist des Freihandels in der Region. Als die Rezession schlimmer wurde, fielen argentinische Aktien ins Bodenlose, und die ungeliebten Sparmaßnahmen wurden immer fieser. Der Protest verbreitete sich weiter über das Land. Die Zustände spitzten sich im Dezember 2001 zu, als die Regierung, nach dem Strohhalm greifend, sich dazu entschloß, eine komplizierte Neuverhandlung ihrer Schuldenzahlungen vorzunehmen. In der Angst daß das ganze ökonomische Kartenhaus in sich zusammen purzeln könnte, die Währung abgewertet und ihre ganzen lebenslangen Ersparnisse vernichtet werden könnten, geriet die Mittelklasse in Panik und entzog etwa 135 Milliarden Dollar von ihren Bankkonten.

Der unbeliebte Finanzminister Domingo Cavallo fürchtete einen Ansturm auf die Banken und kündete massive Einschränkungen an um die Höhe der Geldmenge einzuschränken, die ArgentinierInnen von ihren Bankkoten beziehen konnten. Bekannt als corralito, beinhalteten diese Maßnahmen eine monatliche Begrenzung von 1000 Dollar an Bargeldauszahlungen zusätzlich zu Einschränkungen auf off-shore Überweisungen. Als all die Facetten der Krise sich miteinander verschränkten, war die Wirtschaft effektiv gelähmt.

Der IWF drehte aufgrund der Einschränkungen im Bankensystem und des Schuldenzahlungsplans durch, da dies ernsthafte Auswirkungen auf ausländische Gläubigerbanken hätte, die 40 Prozent der Schulden Argentiniens innehaben. Sie weigerten sich weiteres Kapital zu leihen, und innerhalb von wenigen Wochen konnte Argentninien die Kreditzinsen nicht mehr tilgen, das erste Mal seit Jahren daß ein Land dies nicht bezahlte. Von diesem Moment an befand sich die Ökonomie in freiem Fall. Am 13. Dezember riefen die großen Gewerkschaften zu einem Generalstreik, der das Land für 24 Stunden zum völligen Stillstand brachte. Sechs Tage später brach die Rebellion der Bevölkerung in den Strassen aus, wo sie bis heute geblieben ist.

Der Kochtopfaufstand

Der 19. Dezember war der Wendepunkt, der Tag an dem die argentinischen Menschen "Es reicht!" sagten. Die Bühne war bereits am Vortag bereitet worden, als Leute anfingen die Läden und Supermärkte zu plündern um ihre Familien ernähren zu können. Präsident Fernando De La Rua geriet in Panik. Vor 12 Jahren hatten ausgedehnte Plünderungen die Regierung zu Fall gebracht, und nun sind Plünderungen im argentinischen kollektiven Gedächtnis mit dem Sturz von Regimen verknüpft. De La Rua erklärte den Ausnahmezustand, hob alle verfassungsmäßigen Rechte auf, und verbot Versammlungen von mehr als drei Personen. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Nicht nur weil er traumatische Erinnerungen an die siebenjährige Militärdiktatur weckte, in der über 30000 Menschen getötet wurden, es bedeutete auch daß der Staat den letzten Rest Würde einer hungrigen und verzweifelten Bevölkerung nahm - ihre Freiheit.

Am Abend des 19. Dezember, telefonierte unser Freund Ezequiel mit seinem Bruder der auf der anderen Seite von Buenos Aires wohnt. Sie tratschten gelassen, als sein Bruder plötzlich sagte: "Halt mal, hörst Du diesen Lärm?" Ezequiel strengte sich an um ein Art metallernes Klopfen durch den Telefonhörer zu hören. "Ja, ich höre etwas in Deinem Stadtteil, aber hier nicht." Sie unterhielten sich weiter, und dann hielt Ezequiel inne, und sagte: "Warte, jetzt höre ich etwas in meiner Nachbarschaft, das selbe Geräusch...". Er rannte zum Fenster.

Leute standen auf ihren Balkonen und schlugen auf Kochtöpfe, kamen heraus auf die Gehsteige Töpfe schlagend; wie ein virulenter Virus der Hoffnung infizierte der cacerolazo, der als Antwort auf den Ausnahmezustand begann, die ganze Stadt. Noch bevor die Fernsehübertragung der Ankündigung des Ausnahmezustandes durch den Präsidenten vorbei war, waren Menschen auf der Straße und setzten sich über das Verbot hinweg. Über eine Million Menschen nahmen in Buenos Aires selbst daran teil, schlugen auf ihre Töpfe und Pfannen und forderten das Ende der neoliberalen Maßnahmen und korrupten Regierungen. In jener Nacht dankte der Finanzminister ab. Während der nächsten 24 Stunden Straßenprotest töteten Zivilpolizisten sieben Demonstrierende in der Stadt, und 15 weitere wurden in den Provinzen ermordet. Der Präsident trat wenig später zurück und wurde per Helikopter aus dem Präsidentenpalast evakuiert.

Innerhalb von vierzehn Tagen fielen vier weitere Regierungen. Argentinien befand sich nun mit hoher Geschwindigkeit auf einem massiven Kollisionskurs, mit den Bedürfnissen und Nöten ihrer Bevölkerungen auf der einen Seite, und den Forderungen des IWF, die gelähmte Regierung und dem Kapitalismus auf der anderen Seite.

Ströme von Musik

15. Februar 2002
Unsere FreundInnen bitten uns, sie für den cacerolazo heute Nacht im Cafe der Volxuni der Mütter vom Plaza de Mayo zu treffen. Der Ort ist ein riesiges soziales Zentrum, genau gegenüber dem Kongreßgebäude, und wird von den bekannten Madres der Verschwundenen geleitet, deren mutige Aktionen die Welt auf die massenweise Verschwundenen während der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 aufmerksam machte.

Umzingelt von Regalen, die vollgestopft mit Büchern, Zeitschriften und Zeitungen sind, die die radikalen sozialen Kämpfe Lateinamerikas dokumentieren, trinken wir das unumgängliche lateinamerikanische Gesundheits- und Freundschaftsgetränk, yerba mate, ein außergewöhnlicher Kräutertee der Energie und mentale Wachheit erhöht und von dem gesagt wird er enthalte alle lebenswichtigen Vitamine. Das warme Getränk wird in einem Kürbisbecher mit silbernem Trinkhalm serviert und wird unter FreundInnen geteilt und weitergegeben. Ein politisches Treffen in Argentinien ohne Mate ist nicht vollständig, und manche von uns wundern sich ob dieser scheinbar unscheinbare Tee mit Zweigen die geheime Zutat hinter dieser inspirierenden Rebellion darstellt.

Die Nacht bricht an, und kurz danach hören wir den sich wiederholenden Rhythmus des Töpfe-und-Pfannen- Schlagens, der über den Platz schwebt. Eine kleine Menge von etwa fünfzig Menschen hat sich in der Straße versammelt - sie sind jung, alt, reich, arm, smart oder verlottert gekleidet, aber alle mit Löffeln, Gabeln und einer Vielzahl von metallenen Gegenständen zum Beschlagen bewaffnet: Kochtöpfe, Deckel, Kannen, Coladosen, Autoteilen, Keksdosen, Eisenstangen, Backblechen, Autoschlüsseln. Der Rhythmus ist ein hoher Ton und monoton, und darüber hinaus singen die Menschen eingängige Lieder anstelle des langweiligem politischen Skandieren von Slogans. Oft fehlt nicht der wichtigste Ruf dieser Bewegung: que se vayan todos, sie sollen alle gehen, gemeint ist die GESAMTE politische Klasse, jedeR PolitikerIn jeder Partei, der Oberste Gerichtshof, der IWF, die Konzerne, die Banken - einfach alle raus damit die Menschen selbst entscheiden können über das Schicksal dieses ökonomisch in der Krise befindlichen Landes.

Unsere Freundin Eva erzählt uns daß die Bewegung etwas an Dynamik verloren hat in den letzten Wochen. Wir geben zu daß wir überrascht sind von der kleinen Menge an Menschen - wir hatten uns die cacerolazos riesig vorgestellt. Aber als wir dies denken, kommen wir an eine Kreuzung. Auf unserer Rechten sehen wir eine weitere Menge, vielleicht zweimal so groß wie unsere, die auf uns zu kommt, winkend und jubelnd. Wir gehen einige Strassenzüge weiter, und an der nächsten Ecke kommt eine weitere Menschenmenge aus der U-Bahn- Station, singend und auf und ab springend als sie sich mit unserer Gruppe vereint, und an der nächsten Kreuzung kommen weitere Menschen auf uns zu.

Wir fingen als fünfzig an, wurden hundert oder mehr, dann zweihundert, fünfhundert, tausend, zweitausend, vielleicht mehr. Ströme von Menschen die ineinander fliessen, größer und größer werden, zu einem riesigen tosenden Fluß werdend als wir uns unserem eingentlichen Ziel, dem Plaza de Mayo, nähern, wo der Präsidentenpalast, das Rosa Haus, steht, geschützt hinter Polizeiketten und Barrikaden.

Die Erhebung der Nachbarschaften

Jede Woche machen die Leute aus allen Ecken von Buenos Aires diese Pilgerfahrt, die für manche bis zu sieben Kilometer lang ist. Sie laufen mit ihren Asambleas Populares, den Nachbarschaftsversammlungen, die in den letzten paar Monaten in über 200 Nachbarschaften der Stadt und der sie umgebenden Provinzen spontan entstanden. Diese Versammlungen werden schnell zu autonomen Zentren gemeinsamer Teilnahme. Die meisten treffen sich wöchentlich (besonders ehrgeizige zweimal pro Woche) und sie treffen sich immer draussen - auf Plätzen, in Parks und sogar in Strassenecken.

Jeden Sonntag gibt es eine Versammlung der Versammlungen, ein alle Nachbarschaften umfassendes Plenum im Park, an dem über 4000 Leute teilnehmen und das oft über 4 Stunden dauert. SprecherInnen aus reichen, armen und Mittelklasse- Gegenden sind anwesend, um über die Arbeit und die Vorschläge der lokalen Versammlungen zu berichten, Ideen auszutauschen und die Strategie für die Stadtweiten Mobilisierungen der nächsten Woche zu besprechen.

Die lokalen Versammlungen sind für fast jeden und jede offen, eine Versammlung jedoch hat BankerInnen und ParteiaktivistInnen ausgeschlossen und einige andere lassen keine Presse zu. An einigen Versammlungen nehmen bis zu 200 Menschen teil, andere sind wesentlich kleiner. Bei einer Versammlung, bei der auch wir waren, nahmen ungefähr 40 Leute teil, angefangen bei zwei Müttern, die auf dem Gehweg ihre Kinder stillten über einen Anwalt im Anzug, einen dürren Hippie in Batik-Klamotten, einen älteren Taxifahrer, einen Fahrradkurier mit Dreadlocks und einen Krankenpflegeschüler. Es war ein ganzer Ausschnitt der argentinischen Gesellschaft, der in einem Kreis auf der Strassenecke im orangen Licht der Strassenlaterne stand, ein nagelneues Megaphon herumreichte und diskutierte, wie die Kontrolle über ihr Leben zurückzuerlangen sei. Hin und wieder fuhr ein Auto vorbei und hupte zur Unterstützung, und all das passierte zwischen acht Uhr und Mitternacht an einem Mittwoch Abend.

Es schien alles so normal und doch war es vielleicht das aussergewöhnlichste, radikale politische Ereignis, dem ich jemals beiwohnte - gewöhnliche Leute diskutieren ernsthaft Selbstorganisierung, verstehen spontan direkte Demokratie und beginnen das in ihren Nachbarschaften umzusetzen. Vervielfache das mit 200 allein in dieser Stadt und Du hast die Entstehung einer unwiderstehlichen öffentlichen Rebellion, eine Graswurzel- Basiserhebung, die zentralisierte politische Macht ablehnt. Wie Roli, ein Buchprüfer der Almagro Versammlung sagte: "die Leute lehnen politische Parteien ab. Um aus dieser Krise herauszukommen ist wirkliche Politik nötig. Diese Treffen gewöhnlicher Leute auf den Strassen sind die fundamentale Form um Politik zu machen."

Ausserhalb der wöchentlichen Treffen, kommen die Versammlungen in kleineren Komitees zusammen von denen jedes einem verschiedenen, lokalen Thema oder Problem gewidmet ist. Komitees für Gesundheit sind häufig - da die Budgets der lokalen Krankenhäuser drastisch gekürzt wurden besteht eine dringende Notwendigkeit Alternativen zum zusammenbrechenden Wohlfahrtssystem zu entwickeln. Einige schlagen vor, dass Leute, die ihr eigenes Haus besitzen ihre Eigentumssteuer zurückhalten und das Geld stattdessen den lokalen Krankenhäusern geben. Viele Versammlungen haben auch alternative Medienkomitees angesichts der weitverbreiteten Kritik an der Darstellung der Rebellion in den Mainstreammedien. Ein grosser Cazerolazo vor ihren Hauptbüros war nötig, sie dazu zu bringen, die Erhebung exakter darzustellen. Wie auch immer, der Geist des Misstrauens jeglicher enormen Einheit an Eigentum gegenüber bleibt gross, und die lokalen Versammlungen fangen an ihre eigenen Nachrichtenblätter zu drucken, Neuigkeiten über lokale Nachrichtensender zu verbreiten und Internetseiten aufzubauen.

Zusätzlich zu den unzähligen Treffen und dem wöchentlichen Cacerolazo, organisieren die Versammlungen auch lokale Strassenparties und Aktionen. In einer Nachbarschaft zum Beispiel, organisierte die Versammlung Posten, um die Behörden davon abzuhalten eine Bäckerei, die die Miete nicht bezahlen konnte, zu schliessen.

Für viele TeilnehmerInnen an den Versammlungen ist es das erste mal in ihrem Leben, dass sie in irgendeiner Form von Basismobilisierung eingebunden sind. Indem ein Raum geschaffen wurde, in dem die Leute den Problemen und Veränderungswünschen anderer zuhören, haben die Versammlungen es den Menschen ermöglicht, zu realisieren, dass ihre persönlichen, täglichen Kämpfe mit den Problemen anderer Leute verbunden sind, und dass eventuell alle Wege zu einer ähnlichen Ursache führen, ob es die Regierung, die Banken, der IWF oder das ganze ökonomische System selbst ist. Ein älterer Ladenbesitzer, dessen Erfahrung für die vieler TeilnehmerInnen steht, sagt: "Nie in meinem ganzen Leben habe ich mich auch nur im geringsten für irgendjemand in meiner Nachbarschaft interessiert. Politik war mir egal. Aber diesmal merkte ich, dass ich genug hatte und dass ich etwas tun musste." Damit radikale Veränderungen möglich sind, muss sich sowohl in unseren Kämpfen, als auch in unseren sozialen Strukturen etwas ändern, und es ist oft das Werkzeug Sprache, durch das die radikalsten Wechsel im Bewusstsein sich ausdrücken. Eine wunderschöne Illustration dafür ist, dass aus den Erfahrungen mit den Versammlungen eine neue Grußform aufkam. Die traditionelle linke Grußform in der lateinamerikanischen Kultur, companero /a, GenossIn, wurde, zugunsten der neuen Form, vecino/a, NachbarIn, abgelehnt. Es ist ein einfacher Trick der Sprache, aber es wird ein grundsätzlicher Wechsel damit ausgedrückt, weg von autoritärer Politik die aufgebaut ist auf Macht und Parteien, hin zu einer partizipatorischen Politik der Menschen und Orte.

Zusammenfliessende Ströme

15. Februar 2002
Der Schwall wütenden Lärms kommt schliesslich auf dem brechend vollen Plaza de Mayo an. Die Ausgänge aller Strassen hin zum Platz sind überfüllt mit Leuten, die der Ankunft der einzelnen Versammlungen zujubeln. Transparent für Transparent zieht vorbei, manche grob gemalt, anderre sorgfältig geschrieben, aber alle enthalten den Namen der Nachbarschaft sowie Ort und Zeit des Treffens.

Der sich wiederholende, metallische Rhythmus füllt die Nacht. Einigen Leuten wird es langweilig auf ihre Töpfe zu schlagen und sie fangen an gegen Laternenmasten und Geländer zu trommeln, andere hämmern auf die Barrikade, die den Platz in zwei Hälften teilt und hinter der eine symbolische Reihe Riotpolizei steht und das Rosa Haus (das Regierungsgebäude) schützt. Immer wieder wird die Hymne der Bewegung gesungen und schwillt über den Lärm der Pfannen, Stimmen schreien: "Sie müssen alle gehen, nicht ein einziger soll bleiben. Duhalde muss zurück in den Schoß seiner Mutter" übersprudelnd gesungen sowohl von älteren Frauen, jugendlichen Punks, arbeitslosen Raffineriearbeitern und Mittelklasse- Bankangestellten.

Kinder sind fleissig damit beschäftigt die Wände mit Grafitti vollzumalen; es bleibt kaum eine Oberfläche in der Stadt, die keine Parole und keinen Slogan des Widerstands trägt. Der Umriss eines Sargs ist gemalt, innen steht das Wort "Politiker"; ein Ministergebäude verkündet: "Meine Pfanne ist nicht kugelsicher"; die geschlossenen Rolläden eines Geschäfts erklären: "Öffentliche Versammlungen - geht raus auf die Strasse und nehmt Euch, was rechtmässig Euch gehört."
Die Leute auf dem Plaza de Mayo sind unglaublich offen, froh mit uns zu reden, erzählen bereitwillig Geschichten, und betonen immer wieder, wie wichtig es ist, dass wir ihren Kampf dokumentieren, und der Welt zeigen. Die Verschiedenheit der Menschenmenge erstaunt uns - es scheint als wäre jede Lebenseinstellung vertreten. Und während wir noch kämpfen, um die Widersprüchlichkeiten, die wir aufnehmen, erfassen zu können, treffen wir Pablo, einen 30jährigen Angestellten der Boston Bank, der uns sagt: "Tagsüber muss ich als Kapitalist arbeiten, aber nachts bin ich ein Sozialist. Ich bin seit einer langen Zeit Sozialist, seit mein Vater verschwunden ist, als ich sechs Jahre alt war." Sein Vater war Soziologiestudent, und nicht sonderlich politisch, wurde aber trotzdem in den Rio Plata geschmissen. Er hinterließ eine 18jährige Frau und seinen 6jährigen Sohn.

Es ist eine besonders schmerzliche Tatsache, dass alle über 30 mit einer Erinnerung an die Diktatur leben, Leute aus ihrer nächsten Familie verloren haben (oder auf jeden Fall Leute kennen, denen das passiert ist). Sie wissen wie schlecht die Zustände sein können, wie das Verschwinden von Leuten dazu dienen kann eine Bevölkerung auf eine Art und Weise zu verschrecken, die wir, mit unseren Gefängnissen und Gerichten als offizielle Abschreckung, uns nicht träumen lassen können. Diese kollektive Erinnerung der Bevölkerung scheint jeden Aspekt dieser Rebellion zu durchdringen. Obwohl die Tradition des Widerstandes mehrfach unterbrochen wurde, scheinen die Leute zutiefst entschlossen eine Bewegung wieder aufzubauen, die bis vor kurzem in Bruchstücken lag, eine Bewegung, die lange Zeit von angstvollen Erinnerungen, die die Zeit noch nicht abgeschwächt hat, eingelullt war, zum einschlafen gebracht von neoliberalen Versprechen und privatisierten Träumen, überzeugt, das, wenn man nicht den "Regeln des Marktes" folgt das Land sicher wieder in die dunklen Tage der Diktatur zurückfällt.

Aber nicht alle sind so mitfühlend. "Es musste ja so kommen" ist ein ständig wiederholter Satz der uruguayischen Nachbarn, "Sie dachten, sie seien Europäer," und tatsächlich fühlt man sich in Buenos Aires weit mehr wie in Paris als in Sao Paolo. Wie auch immer, der scheinbare Erste-Welt-Status war auf Kredite gestützt und wurde durch Darlehen sowie das Nichterkennen der Symptome des bevorstehenden Kollaps erhalten. Auf dem Rückweg erzählt uns ein Chicano Aktivist: "Das ist, was an der Erhebung so wichtig ist. Es ist die Lateinamerikanisierung Argentiniens. Argentinien erinnert sich wo es auf der Karte liegt." Ab und zu, wenn wir die Leute in den Nachbarschaftstreffen oder während eines Cacerolazos, fragten: "Glaubt ihr, die Leute waren in Widerstandsbewegungen in der Vergangenheit?", war die Antwort ein eindeutiges Nein, oft mit dem Nachsatz, das der fast vollständige Verlust einer Generation durch Verschwinden und Exil bedeutete, dass es wenige Leute im Land waren, die von früher schon Erfahrung mit Organisierung hatten. Aussergewöhnlich sich vorzustellen und gegen alles, was wir zu wissen glaubten, war es herauszufinden, dass eine Bevölkerung, mit so wenig Hintergrund, mit so wenig Zusammengehörigkeit, das von einem Ort der Apathie und des Individualismus, verfolgt von Verbrechen und Verzweiflung kommt, so schnell und intuitiv Organisationsformen entwickeln kann, die durchgängig ungehorsam, durchgängig direkt demokratisch und durchgängig utopisch sind. Auch wenn sich diese Szene am Plaza de Mayo sich jeden Freitag wiederholt, der Cacerolazo ist diese Woche besonders. Zum ersten mal beteiligen sich auch die Piqueteros. Sie sind Argetiniens militante Bewegung, die diese Rebellion vor fünf Jahren begann.

Die Macht der Piqueteros

Geboren aus Frustration über die Korruption und die ständigen politischen Kompromisse der offiziellen Gewerkschaften sowie die Unfähigkeit der politischen Parteien sie zu vertreten, entstanden die Piqueteros und Piqueteras (der Name bezieht sich auf ihre Taktik der Strassenblockaden) in den ausgeschlossenen und verarmten Gemeinschaften in der Provinz. Sie sind vor allem arbeitslose ArbeiterInnen, die sich in ihren vorstädtischen Stadtteile autonom organisiert hatten, diese Nachbarschaften sind der Schlüssel zum Gefühl von Ort und Identität vieler ArgentinierInnen. Mit der Forderung nach Arbeit, Lebensmitteln, Bildung und Gesundheitsvorsorge begannen sie direkte Aktionen Mitte der 90er indem sie Autobahnen quer über das Land blockierten. Die Aktion, Warenströme zu blockieren, wurde als Schlüssel um wirtschaftliche Aktivitäten zu unterbrechen gesehen; da sie erwerbslos waren, war die Möglichkeit zu streiken für sie nicht mehr gegeben, durch Strassenblockaden jedoch konnten sie weiterhin einen enorm störenden Effekt auf das wirtschaftliche System erzielen. Einer von ihnen erklärte: "Wir sehen, dass die Art, auf die Kapitalismus operiert, die Zirkulation von Waren ist. Autobahnen zu versperren, ist der Weg den Kapitalisten am meisten weh zu tun. Daher - da wir nichts haben - ist unser Weg, sie die Kosten zahlen zu lassen und zu zeigen, dass wir nicht aufgeben und nicht für ihre Ziele sterben, indem wir ihnen Schwierigkeiten bereiten durch das versperren der langen Verteilungswege."

"Wir blockieren die Strassen. Wir machen diesen Teil der Straße zu unserem: Wir benutzen Holz, Reifen und Benzin zum brennen", ergänzt Alejandro enthusiastisch. Er ist ein junger Piquetero, das schwarzrote Banner der MTD (Bewegung arbeitsloser ArbeiterInnen) um seinen Hals gewickelt trägt er den drei Fuss (90cm) langen Holzknüppel, der zum Symbol dieser Bewegung wurde. "Wir machen es so, weil es der einzige Weg ist, sie zu zwingen uns zu beachten. Stünden wir protestierend auf dem Gehweg würden sie über uns hinwegtrampeln." Diese Taktik hat sich als ausserordentlich erfolgreich erwiesen. Ganze Familien beteiligen sich an den Blockaden und bauen gemeinsame Küchen und Zelte in der Mitte der Straße auf. Viele der TeilnehmerInnen sind jung und über 60 Prozent sind Frauen. In den letzten Jahren hat diese lose verbundene autonome Bewegung es geschafft tausende von zeitlich begrenzten Niedriglohnjobs, Beihilfen für Lebensmittel und andere Zugeständnisse des Staates zu sichern. Die Polizei ist wegen der öffentlichen Unterstützung, die sie bekommen oft nicht in der Lage, die Sperren zu räumen. Die Autobahnen verlaufen oft entlang der Slumviertel an den Rändern der Städte, wo immer die Drohung, dass bei Repression gegen die Piqueteros tausende Leute zur Unterstützung auf die Strasse strömen und weit ernstere Konfrontationen entstehen, besteht.

Im August 2001 schaffte es eine landesweite Mobilisierung von Piqueteros 300 Autobahnen im ganzen Land zu blockieren. Mehr als 100.000 arbeitslose ArbeiterInnen nahmen teil und die Wirtschaft war wirksam lahmgelegt. Tausende wurden verhaftet und fünf Personen getötet aber die Bewegung kam weiter in Schwung und hat mit ihrem Gebrauch nichthierachischer Organisierung von Unten Neuland betreten.

Der Geist von Autonomie und direkter Demokratie, wie er in den städtischen Nachbarschaftsversammlungen existiert, wurde von den Piqueteros bereits vor Jahren praktiziert, da sie ein ähnliches gesundes Misstrauen jeder Exekutivkraft gegenüber hegen. Jede Gemeinde hat ihre eigene, in den Nachbarschaften verankerte, Organisation und alle politischen und strategischen Entscheidungen werden in Piquetero-Versammlungen getroffen. Wenn die Regierung entscheidet, während einer Aktion zu verhandeln, senden die Piqueteros keine Delegierten um die offiziellen Verhandlungsfüher zu treffen, sondern verlangen, dass diese Offiziellen zu den Blockaden kommen, so dass alle Leute gemeinsam ihre Forderungen diskutieren und entscheiden können ob sie bevorstehende Angebote annehmen oder ablehnen. Zu oft haben sie infizierte, gekaufte, korrupte oder anderweitig von der Macht vergiftete Anführer und Delegierte gesehen, so dass sie entschieden, dass der Weg dies zu umgehen radikal horizontale Strukturen seien.

Die primären Forderungen sind in der Regel die Schaffung einiger, auf Zeit staatlich geförderter Jobs. Wenn diese gesichert sind, entscheiden die Piqueteros an Hand des Nutzens und dem Zeitaufwand der Leute bei den Blockaden, wer diese Jobs erhält. Wenn nicht ausreichend Jobs vorhanden sind, arbeiten sie abwechselnd und teilen die Löhne. Im Regelfall folgen andere Forderungen: die Zuteilung von Essensrationen, die Freilassung einiger von hunderten im Knast sitzenden Piqueteros, öffentliche Investitionen in die lokale Infrastruktur, wie Strassen, Gesundheits- und Erziehungswesen. Ein Freund zeigt uns eine Videosequenz von einer engagierten Frau bei der letztwöchigen, von den Piqueteros verübten Firmenblockade. Sie sitzt hinter einer Barrikade aus brennenden Bäumen, und erklärt: "Ja, das hier ist gefährlich, natürlich ist es gefährlich! Aber wir müssen kämpfen; wir können nicht nach hause gehen, weil niemand etwas hat, was er nach hause mitbringen kann... Arbeitsplätze, Essen für unsere Kinder, die Schulen, die jetzt verschwinden, die Krankenhäuser,... Sehen sie, wenn ich hier verletzt werde, und ich gehe in ein Krankenhaus; sie haben nicht einmal die Verbände um mir zu helfen. Wenn wir den Kampf also beenden, werden all diese Dinge verschwinden... wir müssen weiterkämpfen!"

In einigen Teilen Argentiniens haben die Piqueteros quasi-befreite Zonen errichtet, wo ihre Mobilisierunsmöglichkeiten weitaus grösser sind, als alles, was die lokale Regierung an Möglichkeiten hat. In General Mosconi, einer vormals reichen Ölstadt weit im Norden, die heute an einer Arbeitslosenquote von über 40 Prozent leidet, hat die Bewegung die Dinge in die eigenen Hände genommen, und betreibt über 300 Projekte, einschliesslich von Bäckereien, Gärtnereien, Kliniken und Anlagen zur Wasserreinigung.

Was außergewöhnlich ist, ist dass diese radikalen Aktionen, die von einigen der meist ausgegrenzten und verarmten Menschen in Argentinien verübt werden, die dabei äußerst militante Taktiken und Vorstellungen benutzen - brennende Barrikaden, blockierte Strassen, vermummte, mit Knüppeln drohende DemonstrantInnen -, keine anderen Bevölkerungsschichten abgeschreckt haben. Im Gegenteil! Es gibt UnterstützerInnen aus der ganzen Bandbreite der Bewegung.
"Wenn die Leute verärgert werden, reagieren sie mit Blut, Feuer und Schweiss", erklärt ein junger Piquetero, der ein vors Gesicht gebundenes "Punks Not Dead"-T-Schirt als Maske verwendet. "Wir haben sieben GenossInnen auf dem Placa de Mayo verloren. Sie hatten keine politische Überzeugung oder Ideologie. Sie waren einfach junge ArgentinierInnen und waren für die Freiheit. Dann hat die Regierung erkannt, dass die Bevölkerung sie zum Teufel jagen wollte.... Die, die an der Macht sind, sind sehr betrübt, dass sie uns nicht mehr wie früher herumkommandieren können. Jetzt sagen die Leute "es reicht!". Wir haben alle sozialen Klassen, von ArbeiterInnen zu Arbeitslosen zusammengebracht, um zu sagen "genug ist genug!" zusammen mit Menschen, die 100.000 Dollar auf der Bank haben, sie aber nicht abheben können, mit Leuten, die sich kaputtgeschuftet haben, um zu überleben, zusammen mit uns, die wir vielleicht nicht einmal genug zu essen haben. Wir sind alle ArgentinierInnen, alle unter der selben Fahne, und wollen nicht, dass das Ganze noch mal geschieht." Eine junge Piquetera namens Rosa fasst sich etwas genauer: "Wenn Frauen nicht mehr genug Mittel haben, um ihre Kinder zu ernähren, dann wird die Regierung gestürzt, egal was für eine Regierung es ist!"

La Lucha es una sola (Der Kampf ist derselbe)

15. Februar 2002
Heute Nacht genießen wir den Vorzug, die verschiedenen Strömungen dieses Kampfes zu betrachten, als sie auf dem Plaza de Mayo zusammenkommen. Plötzlich gibt es Tumult an der Ecke des Platzes, welcher sich durch die Menge bewegt, da sich alle Augen wendeten, um Zeugen von der Ankunft der Piqueteros und Piqueteras zu werden, heldenhaft, wie wenn eine Befreiungsarmee die Stadt betritt. Maskiert, tätowiert und grimmig, jedeR trägt einen Stock aus Eisen oder Holz mit sich, welche sie zusammenhalten, um eine Absperrkette um sich herum zu bilden. Sie werden, als sie, mit einer kraftvollen, rauen und kämpferischen Energie und Haltung, auf den Platz strömen, mit enormem Jubel begrüßt. Feuerwerk explodiert über der Menge, als die Mütter des Plaza de Mayo nach vorne kommen, um sie zu grüssen, ihre kleinen alten Gesichter, von den weißen Kopftüchern umrahmt, auf welchen die Namen ihrer verschwundenen Kinder stehen. Über der Menge wehen die blauen und weißen Fahnen der Mütter auf der einen Seite und die hölzernen Keulen der Piqueteros und Piqueteras auf der anderen. Umrahmt von ihren Erkennungszeichen umarmen sie sich und die Nacht widerhallt die Gesänge des gesamten Platzes, "Piquete y cacerolazo, la lucha es una sola", Streikposten und Cacerolazo (Kochtopfprotest), der Kampf ist derselbe. Was wir heute Nacht sehen ist ein unglaubliches Zusammenkommen von Unterschieden, ein Zusammentreffen, welches so viele Grenzen zwischen Klassen und Kulturen überschreitet. Es scheint, dass alle sozialen Bereiche, die an dieser Rebellion beteiligt sind, anfangen zusammenzuarbeiten und sich gegenseitig zu unterstützen. Revolutionäre Epochen sind immer Perioden des Zusammentreffens - sie sind Momente, wenn scheinbar getrennte Prozesse zusammenkommen, um eine explosive soziale Krise zu provozieren. Argentinien ist bereits jetzt explosiv - alles könnte geschehen - es ist ein enormes soziales Experiment, dass gut zum ersten großen Massenaufstand gegen Kapitalismus im 21. Jahrhundert werden könnte.

Um vier Uhr am Morgen hat sich der Platz geleert. Die Menge hat sich langsam aufgelöst, die Menschen sind in ihre Kieze zurückgekehrt und die Stadt ist wieder ruhig. Trauben junger Menschen sitzen im Gras, reden, trinken, rauchen - es könnte irgendeine Freitag Nacht sein, in irgendeiner Stadt, nicht aber für die Leute, die den Platz mit den Namen derer beschriften, die im Dezember getötet wurden, oder die kleine Gruppe, die über einer mobilen Textiliendruckpresse kauern und dutzende T-Shirts drucken mit dem simplen Slogan yo decido, ich entscheide.

Politik ohne Parteien

16. Februar 2002
Wir erwachten am nächsten Morgen und hörten, dass der Papst erklärt habe, Argentinien sei in einer "vor-anarchistischen" Situation. Er schien den Fußstapfen von Präsident Duhalde zu folgen, der in der ersten Februarwoche sagte, "Argentinien ist am Rand der Anarchie". Wochen später mischte sich der Finanzminister ein und sagte vor einem internationalen Treffen der Banken: "entweder wir haben Kontinuität oder Anarchie". Lustig, wie mit diesem Wort herumgeschmissen wird, sobald die Macht beginnt sich bedroht zu fühlen.

Es scheint, dass sie die "Anarchie" nutzen, um das ganze Spektrum von Chaos, Zerstörung, Ungehorsam, Nihilismus und den Zusammenbruch von Recht und Ordnung abzudecken. Es ist zweifelhaft, ob sie den Begriff benutzen, um den tatsächlichen Geist des Anarchismus zu beschreiben, der spontan an den Strassenecken, den Parks und den Plätzen von Argentinien erwacht ist: das einfache Verlangen der Menschen ohne Herrschende zu Leben, und frei zu verbleiben, sich selbst zu regieren. Was so erfrischend ist, ist dass sich dieser Geist so spontan entwickelt hat, und dass niemand, außer einigen müden, alten Politikern (und natürlich dem Staat), das Wort Anarchismus verwendet. Das ist vielleicht überraschend, da es zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in Argentinien die weltweit größte anarchistische Bewegung gab. Aber niemand hat mehr den Bedarf nach einem weiteren -ismus aus dem neunzehnten Jahrhundert, einem weiterem Wort, dass Meinung einsperrt und fixiert, einem weiteren Wort, dass einige Menschen in die Klarheit und Bequemlichkeit einer sektenartigen Schublade zwängt, und Andere vor ein Todestribunal, oder ein Schaugericht bringt. Etiketten führen so leicht zu Fundamentalismus, Bezeichnungen bringen unausweichlich Intoleranz hervor, begünstigen Doktrinen, definieren Dogmen, verringern die Möglichkeit von Veränderung.

Von der Rebellion zum Wiederaufbau

Die letzten Jahrzehnte hat es weltweit deutliche Verknüpfungen und Tendenzen des Widerstands gegen den IWF gegeben. Von Indonesien bis Nigeria, von Ecuador bis Marokko haben die Menschen ihrer Verzweiflung und ihrer Wut gegenüber den nüchternen Berechnungen, die ihnen ihre Lebensgrundlagen zerstören, Luft gemacht. Riots sind ausgebrochen, das Militär wird z.T. zur Unterstützung geholt, gelegentlich treten Regierungen zurück, der IWF jedoch hält seine Sparprogramme unvermeidlich weiter aufrecht. Nichts ändert sich, nur Armut und Mißtrauen wachsen.

Im "Buenos Aires Herald" lasen wir einen passenden Artikel über ein neues Computerspiel, das "Playing Minister" (Minister spielen) genannt wird. Darin musst Du den brasilianischen Wirtschaftsminister ersetzen mit dem Auftrag, das Land angesichts auftauchender Marktkrisen, Bankenzusammenbrüche und Währungsabwertung auf einem ruhigen Kurs zu halten. Laut dem Erfinder ist es darauf ausgerichtet, "Deine Fähigkeiten im Zinssätze jonglieren, Inflation kontrollieren, Budgets balancieren und Schulden managen, zu testen". Offensichtlich ist es nicht Teil der Aufgabe beim "Minister spielen" die begleitende Krise der Gesundheitsversorgung und die Aufstände für Lebensmittel zu lösen.

Während eines kurzen Interviews deckte der engagierte Journalist Greg Palast auf, wie nützlich diese Aufstände für den IWF sind. Palast gab ein Gespräch wieder, das er mit Joseph Stiglitz, dem früheren Chefökonom der Weltbank hatte: "... überall wo wir hingehen, in jedem Land in das wir uns schließlich einmischen, zerstören wir die Wirtschaft und es endet in Flammen", sagte Stiglitz, und weil er das in Frage stellte wurde er dafür gefeuert. Auch sagte er, dass sie die Aufstände sogar mit einplanen. Sie wissen, dass wenn sie das Land ausquetschen und seine Wirtschaft zerstören Aufstände in den Strassen entstehen. Und sie sagen, gut, das ist der "IWF-Aufstand". In anderen Worten: weil Du Aufstände hast, verlierst Du. Das ganze Kapital verlässt das Land, was dem IWF die Möglichkeit gibt weitere Bedingungen zu diktieren.

Was der IWF nicht erwartet und sicherlich nicht will, ist dass die Leute die Dinge selber in die Hand nehmen, dass sie von Widerstand zu Wiederaufbau, von der Verzweiflung und der Wut des Aufstands zur Freude Alternativen zu schaffen, wechseln. Als die ökonomische Krise die soziale Fabrik Argentiniens zerreißt und immer mehr Leute an den Rand drückt, wird die Spannung zwischen Hoffnung und Verzweiflung ein nützlicher, kreativer Raum für Veränderung. Zwischen Lachen und Weinen liegt der Raum des Optimismus, der Raum radikaler, sozialer Transformation.

Dieser Geist des Optimismus ist es, der die ArbeiterInnen der Keramikfabrik Zanón befähigt hat, ihre Fabrik, eine der grössten Keramikproduzierenden Lateinamerikas, die letzten sechs Monate zu besetzen und mit erstaunlichen Ergebnissen weiterzubetreiben. Das Unternehmen stoppte die Produktion letztes Jahr, da sie nicht mehr profitabel sei und sie die Gehälter nicht mehr bezahlen könnten. Um nicht zu den langen Reihen argentinischer Arbeitsloser zu stossen, beschlossen die ArbeiterInnen, die Fabrik zu besetzen und die Produktion selbst aufrecht zu halten.

"Wir zeigten, das wir mit zwei Tagen Produktion alle Gehälter der ArbeiterInnen für diesen Monat zahlen konnten", erklärt Godoy, einer der 326 an der Besetzung beteiligten ArbeiteInnen. Wo die Unternehmensprofite tatsächlich lagen, das verdeutlicht die Realität. Die ArbeiterInnen vermarkten die Fliesen zu 60 Prozent des früherern Preises und haben dafür ein Netzwerk junger VerkäuferInnen organisiert, die sie in der Stadt anbieten. José Romero, ein Wartungsarbeiter in der Fabrik ergänzt: "Dieser Kampf hat uns die Augen für viele Sachen geöffnet". Wie so viele in der Bewegung sind sie kritisch gegenüber hierarchischen Strukturen. Godoy fährt fort, "Wir haben keine hauptberuflichen Repräsentanten. Unsere Vertreter arbeiten acht Stunden täglich, wie andere Leute auch, und wir machen die Verbandsarbeiter anschließend. Unsere Entscheidungen werden alle auf öffentlichen Arbeiterversammlungen getroffen, nicht hinter geschlossenen Türen." Fotos der besetzten Fabrik zeigen ArbeiterInnen beim Lachen und Scherzen, wärend sie Ziegeln aus den Öfen holen. In Ursula Le Guins außergewöhnlichem Science Fiction- Roman, "The Dispossessed" (Die Enteigneten), der die vielleicht nahegehenste und berührendste Darstellung einer antiautoritären Gesellschaft in englischer Sprache ist, wird für Arbeit und Spiel das selbe Wort benutzt. Es scheint, dass die Arbeiter von Zanon begonnen haben, diesen Traum wahr werden zu lassen.

Währenddessen ist eine Mine in Rio Turbio besetzt worden, so wie eine Textilfabrik in Buenos Aires, die erst kürzlich ihre Türen für ein Festival zum Internationalen Frauentag geöffnet hatte. Diese von ArbeiterInnen erkämpften Erfolge bilden ein Beispiel für die Fabriken Argentiniens, und können vielleicht als Präzedenzfälle dienen, für die Art und Weise wie in einem "neuen" Argentinien Geschäfte gemacht werden. Ein kurz vor dem Bankrott stehender Fabrikant rief die ArbeiterInnen zusammen, und sagte ihnen, dass, nachdem er ihnen nicht mehr ihre Gehälter zahlen könne, er ihnen statt dessen die in der Fabrik hergestellten Leintücher geben würde, die sie dann entweder verkaufen, oder zu den örtlichen Tauschmärkten mitnehmen könnten, um sie dort gegen andere Waren einzutauschen. Vielleicht war er durch das Beispiel vom Zanon beunruhigt, oder er fängt an zu erkennen, wie wichtig es ist, dass in so ungewöhnlichen Zeiten die Arbeit wie gewöhnlich verrichtet wird.

Öffentliche Wirtschaft

16. Feb. 2002
Es ist in den Tauschmärkten, wo es ein weiters außesgewöhnliches Beispiel für aus der Notwendigkeit geborene Erfindungsgabe gibt, die es den ArgentinierInnen ermöglicht die Krise zu überleben. Wir besuchen die Trouque La Estacion, oder die Station des Umtausches, die zweimal die Woche in einem vierstöckigen Gemeinschaftszentrum in einem Vorort der Stadt stattfindet. Wir werden dort von Anna herumgeführt, einer schüchternen Ingenieurin, die eine dicke Brille trägt. "Die Politiker haben alles von den Leuten gestolen, sie wollen Alle kontrollieren", erklärt sie, "die Leute kommen hier her, weil sie kein Teil des Systems sein wollen."

Das Zentrum ist sehr belebt; wir können uns beinahe nicht durch die fröhliche Masse der Leute bewegen, die durch die Reihen der Tische gehen, und die angebotenen Güter und Dienstleistungen begutachten. Mensch kann hier alles kaufen, beziehungsweise, mensch kann hier alles ertauschen, von Eiern zu Autoaufklebern, Miniröcken zu Gewürzen, von Gurken bis hin zu gehäkelten Klorollenhaltern, solange man die tauscheigene Währung benutzt, kleine bunte Scheine, die etwas wie das Geld bei Monopoly aussehen. Das System ist einfach: Die Leute nehmen die Sachen, die sie anzubieten haben zum Markt, und verkaufen sie gegen Tauschgutscheine. Die VerkäuferInnen können diese wiederum benutzen, um sich die Sachen zu besorgen die sie selber benötigen. Wer nichts einzutauschen hat, sich aber beteiligen möchte, muss Gutscheine gegen Bargeld bei einer Bank erwerben. Aber die meisten Menschen haben etwas, womit sie handeln können wenn sie einfallsreich genug sind. Denn obwohl die Leute einen großen Mangel an Bargeld haben, haben sie einen Überschuss an Einfallsreichtum.

Auf einigen Tischen liegen haufenweise Ziergegenstände, andere dagegen sind zu sauberen Auslagen geordnet. Eine junge Frau sitzt hinter einem Haufen Unterwäsche und liest Nietzsche, während ihre Mutter, die ihr Kind in einer Tuchschlinge trägt, lebhaften Handel mit selbstgemachten Kuchen treibt. Auf einem Tisch drängen sich Frederick Forsyths Erzählungen neben einem argentinischen Hochglanzmagazin und Büchern über den Spanischen Bürgerkrieg. Neben die Treppe gedrängt, unterhält sich eine indigene bolivianische Familie über Kisten mit frischem Gemüse hinweg. Im Obergeschoss bietet ein Arzt mit glänzend weißem Mantel Blutdruckmessungen an, gleichzeitig führt ein Zahnarzt eine Behandlung an einem Paar falscher Zähne vor. Manche Leute lassen sich in einem Raum die Haare schneiden und in anderen werden Maniküre und Tarot- Kartenlesen angeboten. Es gibt Unterricht in technischem Zeichen ebenso wie Beratung für Immigration. Gegentlich gibt die Radiostation von Treque (die durch eine knackende Lautsprecheranlage "sendet") neu dazugekommene Angebote bekannt.

Diese Tauschclubs entstanden 1995 als die Rezension spürbar zu werden begann. Seitdem entwickelten sie sich zu einem ganzen Netzwerk und sind als Nodos bekannt (Knoten oder Konzentrationspunkt). Zur Zeit gibt es mehrere tausend Nodos mit mehr als 2 Millionen TeilnehmerInnen im ganzen Land. Für viele Menschen sind sie zum einzigen Weg, die Wirtschaftskrise zu überleben geworden.

Als wir das Gebäude verlassen, gehen wir an einer Marktverkäuferin, mit der wir nachmittags gesprochen hatten vorbei. Sie winkt uns zum Abschied, in ihren Augen spiegelt sich Niedergeschlagenheit und Enttäuschung, ein scharfer Kontrast zur lebendigen Umgebung um sie herum und ihre Lippen formen still die Worte: "Wir sind hungrig".

Beobachte diesen Raum (Watch This Space)

15. Februar 2002
Als wir zum ersten mal in Buenos Aires gelandet sind, haben wir sofort nach Anzeichen der Revolte gesucht. Gibt es an diesem Flughafen ein anderes Gefühl als auf den übrigen? Sind die Straßen mit Autos oder Menschen verstopft? Wird der Müll noch eingesammelt und die Post ausgetragen? Da wir noch nie in einem Land in der Mitte einer sozialen Massenrebellion gewesen waren, waren wir gespannt inwieweit das alltägliche Leben anders erscheinen würde.

Auf dem Weg in die Stadt, bekamen wir unseren ersten Hinweis. Die langgestreckten, kalten Arme der Highways, die Flughäfen mit Städten verbinden, so ähnlich wie überall auf der Welt, werden immer von langen Reihen grosser Reklametafeln flankiert, die die Konsumpaletten des internationalen Marktes anpreisen - Visa Karten, Mobiltelefone, Hotels, Fluglinien. Dieses war genauso auf dem Abschnitt öden Landes, aber trotzdem war etwas anders.

Über die Hälfte der Tafeln war völlig leer, grosse weisse Rechtecke, wo eigentlich Anbieter oder Angebote gewesen wären. Es war etwas richtig Schönes an ihnen, wie sie da riesig mit ihrer Leere standen, vollgesaugt von den ungesunden Bildern des Konsums, trotzdem verführerisch in ihrer Nichtigkeit, befreit vom Kommerz, angefüllt mit Möglichkeiten. Irgendwie standen sie für die Übergangszeit des Wechsels, der sich in diesem Land gerade vollzieht, sie drückten das Warten aus, das Warten der blanken, weissen Blätter gefüllt zu werden; sie waren der Ort, von dem aus die Gesellschaft anfangen konnte sich etwas anderes vorzustellen, der Ort von dem aus die Menschen anfangen ihre Träume in die Tat umzusetzen.

Ein Nachwort an die globale antikapitalistische Bewegung

"Die Krise Argentiniens stellt sich immer mehr als eine Art ökonomischer Rorschach-Test heraus, sie wird von Ökonomen und Theoretikern aller ideologischen Richtungen benutzt, um ihre Ansichten zu bestätigen", sagt die Financial Times. "Gegner des "Washingtoner Konsens" sagen, Argentiens Erfahrung zeigt die Gefahr den Rezepten des IWF zu folgen. Ünterstützer des freien Markts sagen Argentiniens Erfahrung zeigt das Risiko, [die Wirtschaft] nicht weit genug zu öffnen."

Argentinien könnte sehr wohl beweisen, die Krise zu sein, die den, sich ständig weitenden Riss im neoliberalen Panzer unwiderruflich aufspaltet, ganz besonders dann, wenn sich die Lage auch in anderen Teilen Lateinamerikas entwirrt. Die Vorgänge in Venezuela vor kurzem und die Möglichkeit der Linken die Präsinentschaftswahlen in Brasilien dieses Jahr zu gewinnen, zeigen ein Abweichen vom "Washingtoner Konsens" in grossen Teilen der Region.

Das letzte Jahrzehnt hat eine sich verstärkende Delegitimierung des neoliberalen Modells erlebt, als eine Bewegung der Bewegungen auf allen Kontinenten aufsprang, und die scheinbar nicht aufzuhaltende Expansion des Kapitals heraufbeschwor. Von Chiapas bis Genua, von Seattle bis Porto Alegre, von Bangalore bis Soweto, haben Leute die Straßen besetzt, direkte Aktionen durchgeführt, Modelle der Selbstorganisation praktiziert und einen radikalen Geist von Autonomie, Verschiedenheit und gegenseitiger Abhängigkeit gelebt. Die Bewegungen schienen nicht aufzuhalten, Massenmobilisierungen wurden grösser, verschiedenere Bevölkerungen fanden zusammen und die Weltbank, der IWF, die WTO und der G8 wurden gezwungen sich auf Berggipfeln, von repressiven Regimen beschützt, oder hinter Zäunen, von tausenden Riotpolizisten verteidigt, zu treffen. Sie in der Defensive zu sehen, wie sie ihre Existenz rechtfertigen müssen gab den Bewegungen eine besondere Hoffnung.

Indem das grundlegende Problem als Kapitalismus identifiziert und inspirierende internationale Netzwerke in sehr kurzer Zeit entwickelt wurden, fühlte es sich fast so an als ob sich die Geschichte beschleunigte, als ob wir in der nächsten Phase gewinnen könnten mit dem Prozess des Vorstellens und Aufbauens von Welten jenseits von Gier und Wettkampf. Dann tat die Geschichte, was sie am besten kann, sie überraschte uns alle als am 11. September das World Trade Center einstürtzte und für eine Weile schien sich alles geändert zu haben. Hoffnung war auf einmal durch die Politik der Verzweiflung und der Angst ersetzt. Demonstrationen wurden abgesagt, Gründungen zurückgezogen, innerhalb der Bewegung gab es massenhaft Rückzieher und Distanzierungen. Kommentatoren erklärten Antikapitalismus sofort für tot. Der Herausgeber der Zeitung The Guardian schrieb: "Seit dem 11. September gibt es keinen Appetit auf [Antiglobalisierung], kein Interesse und was wir alle vor ein paar Monaten konsumiert haben scheint jetzt irrelevant." Andere vermuten, dass die Bewegung irgendwie mit den Terroristen verbunden war. Clare Short, Entwicklungsminister des Vereinten Königreichs, stellte fest, dass die Forderungen der Bewegung denen der Al-Qaida sehr ähnlich seien. Der 11. September zwang die AktivistInnen, besonders die im Norden der Welt, zu einer Neubewertung. Er forderte von uns allen tief durchzuatmen, unsere Rhetorik in die Praxis umzusetzen, und strategisch und schnell zu denken. Drei Monate später schien, als Argentinien zusammenbrach und kurz darauf der Kollaps Enrons folgte, die Geschichte ihre erhöhte Geschwindigkeit wiederaufzunehmen. Es schien, dass der Neoliberalismus abseits des, die Welt ablenkenden, blinden, nationalistischen und undefinierten "Kriegs gegen den Terror" seine zersetzende Wirkung entfaltet.

Vielleicht ist es die grösste Herausforderung für die globale Bewegung, zu erkennen, das die erste Runde vorbei ist und dass der zuerst auf ein Gebäude in Seattle gesprühte und zuletzt auf einem brennenden Auto in Genua gesehene Slogan: "We Are Everywhere" (Wir sind überall) tatsächlich wahr sein könnte. Die "Legitimationskrise" wächst fast täglich exponentiell. Körperschaften und Institutionen wie die Weltbank und der G8 versuchen ständig, die wachsende globale Erhebung mit leeren Versprechungen von Umweltnachhaltigkeit und Armutsreduzierung, zu beschwichtigen.

Am 1. Mai 2002 wurde ein neues Buch von Akademikern veröffentlicht, die lamentieren: "Heute gibt es ein antikapitalistisches Dogma, dass mit einer latenten Feindschaft grossen Geschäften gegenüber, einhergeht. Es ist eine gut organisierte Kritik des Kapitalismus." Das Buch argumentiert, dass wir "für Kapitalismus aufstehen" müssen, da er "die beste Sache [ist], die der Welt jemals passierte" und das, "wenn wir die Welt ändern wollen, wir es durch Geschäfte tun sollten" und Kapitalismus als "Held, nicht als Bösewicht" betrachten sollten. Vielleicht würden ihnen ein paar Stunden in den Strassen Argentiniens oder ein Gespräch mit den ehemaligen Angestellten Enrons die wahre Boshaftigkeit und Absurdität des Kapitalismus zeigen.

Mit den Mainstreamkommentatoren, die sich überschlagen zu erklären, dass Kapitalismus gut für uns alle ist und die Welt retten wird, scheint klar zu sein, dass die erste Runde dieser Bewegung ein Sieg war. Laut dem Ökonomen James K. Galbraith war es ein "...fast vollständiger Kollaps der vorherrschenden ökonomischen Theorie". Aber die nächste Runde wird die härteste sein. Es wird heissen, unsere Kritik und unsere Prinzipien auf den Alltag anzuwenden; es wird die Stufe sein, in der wir in unserer direkten Umgebung arbeiten. Eine Stufe, in der der massenhafte Konflikt in den Straßen sich mit dem Schaffen von Alternativen zu Kapitalismus in unserer Nachbarschaft, unseren Dörfern und Städten, unseren Regionen die Waage hält (aber nicht völlig ersetzt ist). Genau das ist es, wobei uns Argentinien einen inspirierenden Weg weiterzukommen zeigen kann. Die Situation in Argentinien enthält viele Elemente der antikapitalistischen Bewegungen: die Praxis direkter Aktion, Sebstorganisierung und direkte Demokratie; der Glaube in die Kraft von Vielfalt, Dezentralisation und Solidarität; das Zusammenkommen grundsätzlich verschiedener sozialer Sektoren; die Ablehnung des Staates, multinationaler Unternehmen und Finanzinstitutionen. Das unglaublichste ist schließlich, dass die Form der Erhebung spontan entstand, sie wurde nicht von AktivistInnen durchgesetzt oder vorgeschlagen, sondern von gewöhnlichen Leuten von Unten geschaffen. Das Ergebnis ist eine wirklich öffentliche Rebellion, die jeden Tag, jede Woche stattfindet und alle möglichen Menschen mit einschliest.

Argentinien ist ein lebendiges Laboratorium des Kampfes geworden, ein Ort, an dem die öffentlichen Politikformen der Zukunft erfunden werden. Angesichts der Armut und des ökonomischen Zusammenbruchs haben die Menschen genug Hoffnung entwickelt, um weiter Widerstand zu leisten und sie haben ausreichend Kreativität zusammengetragen, um mit dem Aufbau von Alternativen gegen die Verzweiflung des Kapitalismus, zu beginnen. Die globalen Bewegungen können viel aus diesem Laboratorium lernen. Es ist auf viele Arten vergleichbar mit den sozialen Revolutionen in Spanien 1936, in Frankreich im Mai 1968 und vor kurzem in Süd-Mexico mit der Erhebung der Zapatistischen Befreiungsarmee (EZLN) 1994 - alles Revolutionen, die damals wie heute, Millionen rund um die Welt inspirierten.

Es war ein Geist innovativer Solidarität, der die Veränderung der Politikformen auslöste und uns auf die erste Stufe dieser neuen Entwicklung der Volksbewegungen führte. Die Zapatistas säten die Samen zur Schaffung einer "Rebellion die zuhört", eine Rebellion, die sich den lokalen und deshalb überall unterschiedlichen Bedürfnissen und Forderungen zuwendet. Und AktivistInnen aus der ganzen Welt antworteten, nicht nur mit traditionellen Formen internationaler Solidarität, wie sie in den 1970er und 1980er Jahren speziell von Zentralamerika- Solidaritätsgruppen praktiziert wurde, sonder auch durch Anwenden des zapatistischen Geistes, durch "Zuhören" zu Hause.

Dieses Netzwerk des Zuhörens fand zwischen vielen verschiedenen Kulturen statt und wurde ein Eckpfeiler in der ersten Runde dieser globalen Bewegung, da es die vielfältigen Differenzen miteinander verwob und eine kraftvolle Fabrik des Kampfes entstand. Die zweite Runde muss diese Netzwerke, die die gegenseitige Inspiration füttern, erhalten, da keine Revolution Erfolg haben kann ohne Hoffnung. Aber die globale antikapitlistische Bewegung braucht auch die Rückversicherung, seine Wünsche und Bestrebungen im Alltag gelebt zu sehen. Die zapatistischen, autonomen Gemeinden in Chiapas sind eine Art Modell, aber fest in der indigenen Kultur verwurzelt, sie sind kleine Enklaven in einem grösserern Staat und nicht in grösserem Umfang übertragbar. Argentinien ist eine komplette Gesellschaft in der Veränderung. Es ist ein Modell, dessen Stattfinden zu Hause sich die Bewegungen, insbesondere die des Nordens, wesentlich leichter vorstellen können.

Wie auch immer, die Bewegung in Argentinien unterliegt der Gefahr der Isolation; ohne die Sicherheit und gegenseitige Inspiration internationaler Solidarität wird sie eine schwere Niederlage erleiden. Die Mainstreammedien haben die Situation seit den Dezemberaufständen im wesentlichen ignoriert und die meisten Leute, die wir trafen hatten das Gefühl, dass die Welt sich ihrer Lage nicht bewusst ist. Einmal sang niemand "die ganze Welt schaut auf Euch", da es natürlich im Interesse der Verteidiger des Kapitalismus ist sicherzustellen, dass wir das was tatsächlich passiert nicht zum zuschauen, nicht zu sehen bekommen. Obwohl weltweit viele AntikapitalistInnnen gesagt haben: "Zum Glück gibt es Argentinien", so wie unsere Hoffnungen in den dunklen Tagen nach dem 11.9. wieder entfacht wurden, haben die meisten Leute in den Strassen Argentiniens keine Ahnung, dass sie so weitverbreiteten Optimismus verursacht haben.

Wenn Chiapas der Ort war, von dem die Samen der ersten Runde dieser Bewegung herwehten, dann könnte Argentinien der Ort sein, an dem sie landen, zu spriessen beginnen und Wurzeln schlagen. Wir müssen kreative Wege finden, die Rebellion dort zu unterstützen und von ihr zu lernen, so wie wir es mit den Zapatistas taten. Einige Solidaritätsaktionen wurden unternommen - die argentinische Botschaft in London wurde besetzt und eine anarchistische Fahne herausgehängt, Cazerolazos fanden statt, von Seattle bis Sao Paolo, von Rom bis Nairobi. Ein Gesang, der sich gegen das Weltwirtschaftsforum richtete, als es sich in New York traf, verkündete: "Sie sind Enron, wir sind Argentinien!" Aber viel mehr könnte getan werden, mehr Geschichten ausgetauscht, mehr Aktionen koordiniert, und mehr Besuche in das Laboratorium könnten unternommen werden.

Ein Witz wird gerade in den Kreisen japanischer Banker erzählt, er lautet: "Was ist der Unterschied zwischen Argentinien und Japan?" "Ungefähr achtzehn Monate." Diese Banker wissen sehr gut, dass es zur ökonomischen Situation Argentiniens auch woanders kommen wird, und dass es unvermeidlich ist, dass das Tauziehen zwischen den Interessen der Menschen und den Forderungen des globalen Kapitals Explosionen auf der ganzen Welt zur Folge haben wird. Ein aktueller Bericht der Weltentwicklungsbewegung dokumentiert 77 verschiedene zivile Unruheherde in 23 Ländern, alle haben mit IWF Protesten zu tun, und alle sind aus dem Jahr 2001. Von Angola über Nepal nach Kolumbien und in die Türkei sind es die gleichen Risse, die in der neoliberalen "Logik" auftauchen, und die Menschen wehren sich. Ein Dutzend Länder drohen, das "nächste Argentinien" zu sein und einige davon sind wohl wesentlich näher an uns dran, als wir es uns jemals vorgestellt haben.
Wir müssen vorbereitet sein, nicht nur darauf Widerstand zu leisten, sondern auch darauf, unsere Gesellschaften wieder aufzubauen, wenn die ökonomische Krise zuschlägt. Falls die öffentliche Rebellion in Argentinien Erfolg hat, könnte das der Welt zeigen, dass die Menschen in der Lage sind ökonomische Krisen zu durchleben und auf der anderen Seite herauszukommen, nicht nur mit dem nackten Überleben, sondern, wegen des Kampfes um neue Wege des Lebens, stärker und glücklicher.
Zur Zeit da diese Zeilen geschrieben werden, gerät die ökonomische Krise in Argentinien weiter außer Kontrolle. Da sie gerichtliche Auseinandersetzungen mit der Regierung gewannen (durch schaffen eines gerichtlichen Präzendenzfalls, der als Querschläger durch die Welt geht), und wieder Zugang zu ihren Ersparnissen auf der Bank haben, heben tausende Anleger ihr Geld von den Banken ab, so schnell sie können. In den letzten Tagen schickte ein Richter ein Polizeikontingent und einen Schlosser zu einer Filiale der HSBC Bank um die Ersparnisse eines Anwärters wiederzuerlangen, gleichzeitig wurden die Tresorräume einer Filiale der Banco Provincia mit Hilfe einer Lötlampe geöffnet. Wegen des, kurz vor dem Zusammenbruch stehenden Bankensystems, entschied die Regierung alle Banken für einen "unbefristeten Urlaub" zu schliessen. Als der IWF es ablehnte, weiteres Geld zu verleihen und der argentinische Kongress einen Gesetzentwurf einbrachte, der vorschlug alle eingefrorenen Erparnisse auf den Banken in Regierungsanleihen zu verwandeln, trat der Wirtschaftsminister zurück. In einer Notpressekonferenz erklärte Duhalde: "Die Banken werden wieder öffnen müssen und Gott weiss, was dann passieren wird. Banken können nicht ständig geschlossen sein. Es wäre absurd an ein kapitalistisches System ohne Banken zu denken."

Es mag absurd sein an ein kapitalistisches System ohne Banken zu denken, aber es ist genauso absurd an das Fortbestehen des gegenwärtigen globalen Systems zu glauben. Vielleicht ist das Realistischste, was man sich am Anfang dieses schon jetzt mit Krieg belasteten Jahrhunderts, vorstellen kann, ein System frei von Kapitalismus, eines ohne Banken, ohne Armut, ohne Verzweiflung, ein System, dessen Währungen Kreativität und Hoffnung sind, ein System, dass Zusammenarbeit statt Wettkamf belohnt, ein System, dass den Willen der Menschen über die Regeln des Markts stellt. Eines Tages werden wir vielleicht zurückschauen auf die Absurdität der Gegenwart und uns erinnern wie wir von den Menschen in Argentinien inspiriert wurden, das Unmögliche zu verlangen und wie sie uns einluden neue Welten zu bauen, die sich von unseren Nachbarschaften aus ausbreiteten.

John Jordan & Jennifer Whitney, Portland, Oregon, 1. Mai 2002

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