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Que Se Vayan Todos

- Argentinas Popular Uprising -


Ein Augenzeugenbericht des finanziellen Zusammenbruchs und der fortschreitenden Grasswurzelrebellion

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Zusammenfliessende Ströme

15. Februar 2002
Der Schwall wütenden Lärms kommt schliesslich auf dem brechend vollen Plaza de Mayo an. Die Ausgänge aller Strassen hin zum Platz sind überfüllt mit Leuten, die der Ankunft der einzelnen Versammlungen zujubeln. Transparent für Transparent zieht vorbei, manche grob gemalt, anderre sorgfältig geschrieben, aber alle enthalten den Namen der Nachbarschaft sowie Ort und Zeit des Treffens.
Der sich wiederholende, metallische Rhythmus füllt die Nacht. Einigen Leuten wird es langweilig auf ihre Töpfe zu schlagen und sie fangen an gegen Laternenmasten und Geländer zu trommeln, andere hämmern auf die Barrikade, die den Platz in zwei Hälften teilt und hinter der eine symbolische Reihe Riotpolizei steht und das Rosa Haus (das Regierungsgebäude) schützt. Immer wieder wird die Hymne der Bewegung gesungen und schwillt über den Lärm der Pfannen, Stimmen schreien: "Sie müssen alle gehen, nicht ein einziger soll bleiben. Duhalde muss zurück in den Schoß seiner Mutter" übersprudelnd gesungen sowohl von älteren Frauen, jugendlichen Punks, arbeitslosen Raffineriearbeitern und Mittelklasse- Bankangestellten.
Kinder sind fleissig damit beschäftigt die Wände mit Grafitti vollzumalen; es bleibt kaum eine Oberfläche in der Stadt, die keine Parole und keinen Slogan des Widerstands trägt. Der Umriss eines Sargs ist gemalt, innen steht das Wort "Politiker"; ein Ministergebäude verkündet: "Meine Pfanne ist nicht kugelsicher"; die geschlossenen Rolläden eines Geschäfts erklären: "Öffentliche Versammlungen - geht raus auf die Strasse und nehmt Euch, was rechtmässig Euch gehört."
Die Leute auf dem Plaza de Mayo sind unglaublich offen, froh mit uns zu reden, erzählen bereitwillig Geschichten, und betonen immer wieder, wie wichig es ist, dass wir ihren Kampf dokumentieren, und der Welt zeigen. Die Verschiedenheit der Menschen-menge erstaunt uns - es scheint als wäre jede Lebenseinstellung vertreten. Und während wir noch kämpfen, um die Widersprüch-lichkeiten, die wir aufnehmen, erfassen zu können, treffen wir Pablo, einen 30jährigen Angestellten der Bank Bostonder, der uns sagt: "Tagsüber muss ich als Kapitalist arbeiten, aber nachts bin ich ein Sozialist. Ich bin seit einer langen Zeit Sozialist, seit mein Vater verschwunden ist, als ich sechs Jahre alt war." Sein Vater war Soziologiestudent, und nicht sonderlich politisch, wurde aber trotzdem in den Rio Plata geschmissen. Er hinterließ eine 18jährige Frau und seinen 6jährigen Sohn.
Es ist eine besonders schmerzliche Tatsache, dass alle über 30 mit einer Erinnerung an die Diktatur leben, Leute aus ihrer nächsten Familie verloren haben (oder auf jeden Fall Leute kennen, denen das passiert ist). Sie wissen wie schlecht die Zustände sein können, wie das Verschwinden von Leuten dazu dienen kann eine Bevölkerung auf eine Art und Weise zu verschrecken, die wir, mit unseren Gefängnissen und Gerichten als offizielle Abschreckung, uns nicht träumen lassen können. Diese kollektive Erinnerung der Bevölkerung scheint jeden Aspekt dieser Rebellion zu durchdringen. Obwohl die Tradition des Widerstandes mehrfach unterbrochen wurde, scheinen die Leute zutiefst entschlossen eine Bewegung wieder aufzubauen, die bis vor kurzem in Bruchstücken lag, eine Bewegung, die lange Zeit von angstvollen Erinnerungen, die die Zeit noch nicht abgeschwächt hat, eingelullt war, zum einschlafen gebracht von neoliberalen Versprechen und privatisierten Träumen, überzeugt, das, wenn man nicht den "Regeln des Marktes" folgt das Land sicher wieder in die dunklen Tage der Diktatur zurückfällt.
Aber nicht alle sind so mitfühlend. "Es musste ja so kommen" ist ein ständig wiederholter Satz der uruguayischen Nachbarn, "Sie dachten, sie seien Europäer," und tatsächlich fühlt man sich in Buenos Aires weit mehr wie in Paris als in Sao Paolo. Wie auch immer, der scheinbare Erste-Welt-Status war auf Kredite gestützt und wurde durch Darlehen sowie das Nichterkennen der Symptome des bevorstehenden Kollaps erhalten. Auf dem Rückweg erzählt uns ein Aktivist aus Chicao: "Das ist, was an der Erhebung so wichtig ist. Es ist die Lateinamerikanisierung Argentiniens. Argentinien erinnert sich wo es auf der Karte liegt." Ab und zu, wenn wir die Leute in den Nachbarschaftstreffen oder während eines Cacerolazos, fragten: "Glaubt ihr, die Leute waren in Widerstandsbewegungen in der Vergangenheit?", war die Antwort ein eindeutiges Nein, oft mit dem Nachsatz, das der fast vollständige Verlust einer Generation durch Verschwinden und Exil bedeutete, dass es wenige Leute im Land waren, die von früher schon Erfahrung mit Organisierung hatten. Aussergewöhnlich sich vorzustellen und gegen alles, was wir zu wissen glaubten, war es herauszufinden, dass ein Volk, mit so wenig Hintergrund, mit so wenig Zusammengehörigkeit, das von einem Ort der Apathie und des Individualismus, verfolgt von Verbrechen und Verzweiflung kommt, so schnell und intuitiv Organisations-formen entwickeln kann, die durchgängig ungehorsam, durch-gängig direkt demokratisch und durchgängig utopisch sind. Auch wenn sich diese Szene am Plaza de Mayo sich jeden Freitag wiederholt, der Cacerolazo ist diese Woche besonders. Zum ersten mal beteiligen sich auch die Piqueteros. Sie sind Argetiniens militante Bewegung, die diese Rebellion vor fünf Jahren begann.

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