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Que Se Vayan Todos

- Argentinas Popular Uprising -


Ein Augenzeugenbericht des finanziellen Zusammenbruchs und der fortschreitenden Grasswurzelrebellion

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Routine und Rebellion

15. Feb. 2002

"Ihre Flugtickets sind ungültig", sagte die Angestellte mit dick aufgetragenem Lippenstift am Check-in Schalter der Fluglinie Varig im südlichen Brasilien. Ihre Augen wechseln zur nächsten Person in der Schlange. Wir protestieren heftig, da wir bisher keine Probleme hatten mit den Flugtickets. Sie verbleibt unbeeindruckt und ruft die Chefin, die uns erklärt daß Varig nicht mehr die Gegenseitigkeit irgendwelcher Flugtickets von Aerolineas Argentina anerkennt. "Denen kann jetzt nicht vertraut werden", sagt sie uns mit ernstem Gesicht, und zeigt uns die Mitteilung die die neue Verfahrensweise ankündigt. "Wir betrieben keine Geschäfte mehr mit ihnen". Dies ist unsere erste Erfahrung mit den sich ausdehnenden Auswirkungen der argentinischen Finanzkrise.
Am Flugticketschalter von Aerolineas Argentinas ist der Angestellte freundlich und erscheint etwas verlegen. Er bucht uns Tickets für den nächsten Flug nach Buenos Aires. Sein Benehmen ist das eines Mannes der nicht weiß ob er morgen noch einen Job haben wird. Wir betreten das Flugzeug, in der Hoffnung daß die massiven Entlassungen und Sparmaßnahmen nicht die Flugsicherheit, Flugingenieure, Sicherheitsüberprüfungen und andere verwandte Bereiche in Mitleidenschaft gezogen haben. Wir kommen sicher an, finden ein billiges Hotel und mit schläfrigen Augen machen wir uns auf die Kaffeesuche.
In der Ecke des Cafes ist der Fernseher mit gesenkter Lautstärke auf den Cronica Kanal eigestellt - ein ausschlißelich argentinisches Phänomen - 24 Stunden live trash - "Nachrichten", scheinbar uneditiert, mit unglaublicher schlechter und abrupter Kamera-führung, und mit demselben einsamen Reporter der überall in der Stadt zufällig auftaucht. Unsere erste Bekanntschaft mit Cronica sind "live und direkte" Szenen vom Strand, zusammen mit Nahaufnahmen die sich auf Bilder von Beach Volleyballspielen und Sonnenbadenden zoomen. Es findet eine massive soziale Rebellion im Lande statt, und die Nachrichten sind live und direkt vom Strand!
Nach etwa 20 Minuten Aufnahmen vom Strand kehrt der Sender ins Nachrichtenstudio zurück. Zwei "Moderierende" tauchen auf, Puppen mit schockierender pinker Haarfarbe. Dies ist jenseits von absurd, wir sehnen uns nach Nachrichten von der Rebellion, und alles was wir kriegen sind Puppenspiele und Strandszenen. Nach einigen Berichten "live und direkt" vom Training des lokalen Fußballteams werden wir endlich mit Bildern belohnt von Menschen die Kochtöpfe schlagend die Eingangshalle einer Bank stürmen. Wir trinken schnell unseren Kaffee aus, fragen die Kellnerin wo es zum Finanzzentrum geht, hüpfen auf einen Bus und sind in Minutenschnelle dort.
Finanzzentren sehen überall etwa gleich aus, sei es in Stadtzentrum von London, New York, oder Frankfurt, aber hier in Buenos Aires gibt es einen bedeutenden Unterschied - riesige Wellblechschilder schützen viele Bankhauptsitze, insbesondere der internationalen Konzerne, wie Citibank, HSBC, und Lloyds. Weg sind die großen Eingangshallen; die prestigeträchtigen glänzenden Fassaden von Glas und Marmor sind hinter ödem grauem Stahl versteckt, und der einzige Eingang ist durch eine kleine Tür die ins Metall geschnitten wurde. Figuren in Anzügen werden hier hindurchgeleitet mit gesenktem Kopf, sie treten in diese Festungen als sei das Bankgewerbe zu einer geheimen Untergrundaktivität geworden. Der intesive Geruch nasser Farbe hängt in der Luft, frisches Graffiti überzieht das Wellblech und die Mauern mit dem Wort "ladrones", Diebe. Die Aktion kann nicht weit sein. Wir teilen uns auf und suchen in der Umgebung, lauschen nach dem Geräusch von Metall das auf Metall schägt, dem unverwechselbaren Lärm der zur Begleitmusik dieser Rebellion geworden ist, aber wir hören und sehen nichts. Wir scheinen zu spät gekommen zu sein.

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