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S.O.S. Kiez! Unsere Straße verkommt

Die Fenster des kleinen Gemüseladens sind mit Brettern vernagelt. Hier kauft schon lange keiner mehr. Am Straßenrand vergammelt eine kaputte Waschmaschine, eine Ecke weiter steht ein zerrupftes Sofa. Anwohnerin Elsa Kremm, 71, ist entsetzt: "Mein Kiez verwahrlost immer mehr. Bald will hier niemand mehr wohnen." 
Die Senats-Statistik gibt der alten Dame aus dem Wrangelkiez in Kreuzberg Recht: Jährlich wandern hier 372 von 1000 Einwohnern ab. Vor allem deutsche Familien mit Kindern im Grundschulalter verlassen fluchtartig das heruntergekommene Quartier. Wer kann, schafft sich eine neue Heimat auf der grünen Wiese am Stadtrand. 

Das Todesurteil für jeden Stadtteil: Die Arbeitenden und die Familien ziehen weg, die Arbeitslosen und Alten bleiben. Verfallene Häuser, verdreckte Straßen, Bandenkriminalität sind die schmerzlichen Folgen. Immer mehr Berliner Kieze drohen zu "verslumen". 

Doch der Senat ist jetzt endlich aufgewacht, will das Ruder rumreißen. Deshalb hat Stadtentwicklungssenator Peter Strieder (SPD) bei Prof. Hartmut Häußermann, Soziologe an der Humboldt-Uni, ein Gutachten in Auftrag gegeben: In welchen Stadtquartieren sieht es am schlimmsten aus, wo ziehen die meisten Menschen weg? Das Ergebnis: zehn Problem-Kieze (siehe Liste), denen dringend geholfen werden muß. 

Was will Strieder tun? "Wir wollen mit einem gezielten Quartiermanagement Anwohnerinitiativen unterstützen, einen dauerhaften Ansprechpartner im Kiez schaffen, Fördermittel bündeln", so der Senator zur BZ. 

Schon im Februar nehmen die ersten Quartiermanager (Sparrplatz in Wedding, Wrangelkiez in Kreuzberg) ihre Arbeit auf. Jeder von ihnen hat jährlich 300 000 Mark zur Verfügung - kann damit Straßenfeste organisieren, Müll abtransportieren lassen oder Mietrechtsberatungen anbieten. 

Viel Arbeit für die "Kiez-Seelsorger". Die BZ schaute sich in fünf Problem-Ecken um, sprach mit Anwohnern. 

u Wrangelkiez in Kreuzberg: Das Gebiet im alten SO 36 ist mit mehr als 30 Prozent Arbeitslosenquote und einem Ausländeranteil von 45 Prozent das "Armenhaus" Berlins. Bezirksbürgermeister Franz Schulz kapituliert: "Was sollen wir noch machen, ohne Hilfe?" Ursula Linke, Lehrerin an der Grundschule E. O. Plauen: "Der Kiez verliert langsam seine gesunde Mischung. Das letzte deutsche Kind wurde vor drei Monaten aus meiner Klasse genommen." 

u Schillerpromenade in Neukölln: Jeder dritte der 16 000 Einwohner ist arbeitslos, jeder vierte kriegt Stütze. "Hier gibt es mehr Hundehaufen, Dreck und Sperrmüll als irgendwo sonst in Berlin", stöhnt Ottwin Fröde, 80, aus der Leinestraße. Und der Rentner traut sich abends nicht mehr vor die Tür: "Gewalttätige Jugendliche und die vielen Kampfhunde machen mir Angst." 

u Boxhagener Platz in Friedrichshain: Dieses Gebiet gilt als "Verdachtsgebiet". Soll heißen: Es gibt zwar eine negative Entwicklung, aber der Kiez ist noch nicht völlig "umgekippt". Dennoch: "Die Gewerbemieten explodieren, die Läden machen dicht. Auch unser Geschäft ist gefährdet", sagt Kerstin Müller von der Kinderboutique "Marieken". Bedrohlich: Zwischen 1994 und 96 kehrten jährlich 27 Prozent der Familien mit Kindern dem Kiez den Rücken. 

u Sparrplatz in Wedding: Für die Polizei bedeutet dieser Kiez Schwerstarbeit. Hier wurden im vergangenen Jahr 23 138 Funkwagen-Einsätze gefahren (Berliner Durchschnitt: 16 800). "Tagsüber hängen hier viele Alkis rum", klagt Wolfgang Klatt, 62. Seit fast 20 Jahren macht er den Sparrplatz sauber. "Aber gegen den Dreck und Müll kommt hier niemand mehr an." 

u Arnimplatz in Prenzlauer Berg: Schmuck sieht er aus. Viele Häuser sind frisch saniert, der Platz ist neu gestaltet. Trotzdem wollen viele weg. "Die Stimmung brodelt, das eskaliert hier bald", fürchtet Ina Bergmann, 36. Grund: steigende Kriminalität, wachsende Aggressivität. "Für mich kommt die Idee des Quartiermanagements zu spät", sagt sie. "Ich sitz' schon auf gepackten Koffern." 
5.1.1999 

Von F. DIERKS, N. DOLIF, T. HASSE und O. KRÖNING B.Z.