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Friedrichshain: Aufbruch im Wohnzimmer

Zitty Thema von Hilmar Schmundt

Ost-Berlins Schmuddelkiez blüht auf: Cocktailbars und Hanfläden auf der einen Seite der Warschauer Brücke, riesige Amüsierspeicher auf der anderen. Gemeinsam ist ihnen nur eins: die Sofaecke.

Karel Duba fingert die letzten Krümel aus der Drum-Packung. „Schreib auf keinen Fall, daß das ein Club oder ein Wohnzimmer ist,“ sagt er, dreht sich eine und zündet sie an der Kerze an, die hinter dem Porzellan-Hirschgeweih steht, umringt von der Tyrannosaurus-Kollektion, zwischen Bierflaschen und, ach ja, zwei Plattenspielern. „Das hier ist eine – Galerie.“

Nicht, daß man von der Galerie viel sehen würde im schummrigen, blümchentapezierten Wohnzimmer. An der Decke dreht eine rote Glitzerkugel träge ihre Kreise, an den Wänden hängen Kerzenständer zwischen kitschigen Alpenmotiven und kleinen, buntbemalten Rot-Kreuz-Koffern. Die Friedrichshainer Dubar verheißt erste Hilfe für Freizeitgestreßte, soll gleichzeitig Avantgarde sein und Ruhepol für eine Szene, die nach Jahren der Hausbesetzungen, des Technofiebers und des Hauptstadtwahns den General-Chillout zelebriert. „Dada war ja im Prinzip auch eine Wohnzimmerbewegung“, sagt Duba, „bis die in die großen Galerien umgezogen sind. Auch bei Fluxus war das so...“ Unter seinem acrylroten Pullover lugt ein bunter Hemdkragen hervor. Es klopft an der Tür. Olaf, der im Sessel versinkend den Türsitzer spielt, öffnet einen Spaltbreit und läßt eine junge Frau im Omamantel herein. DJ Duba will heute abend lieber plaudern als auflegen, schließlich hat er Gäste. Er streift sich eine braune Strähne hinters Ohr, greift mit der anderen Hand in eine alte Blechkiste und fischt eine Platte vom Flohmarkt heraus. Er geht nach dem Aussehen des Covers, die Namen will er sich nicht merken. Er läßt die Platte durchlaufen. Eine halbe Stunde Elektrobeat – eine halbe Stunde Ruhe zum Reden. Zimmerleise, denn die Nachbarn wollen schlafen.DJ Duba ist nicht allein: In der Simon-Dach-Straße und am Boxhagener Platz ist endlich, acht Jahre nach dem kurzen Sommer der Besetzer-Anarchie, die Saison des Vergnügens angebrochen: Platten- und Hanfläden, Kneipen und Bioläden entstehen und mit ihnen eine neue Szene mit einer spröden Mischung aus Vorstadt-Provinzialität und urbaner Abgeklärtheit.

„Friedrichshain is the last frontier“, sagt Kate McLaughlin. Der Kunstedelstein in ihrer Nase funkelt, wenn sie lacht. Im Kiez ist sie bekannt als „die Texanerin“. Am Saint-Patrick’s-Day vor einem Jahr eröffnete sie neben der Dubar ihren Second-Handladen Seven Sisters, vollgestopft mit Lederjacken und schrillen Fummeln, mitgebracht von Familienbesuchen daheim in Texas. „Ich habe wirklich sieben Schwestern“, erläutert sie den Namen ihres Ladens, „und fünf Brüder.“ You got it: irischer Abstammung, Familie erzkatholisch. Sie liebt den bunten Mix von Leuten im Kiez, schwärmt von den Omas, die sie liebevoll „little birds“ nennt. „I even know the policeman, he sometimes stops by to have a coffee...“ – sagt’s, und sprintet mit ihren klobigen Rockerstiefeln auf den Gehsteig, um einen der unzähligen schwarzen Hunde zu verscheuchen, der am Kleiderständer sein Bein heben will. Entsteht hier das neue Mitte oder eine Oranienstraße Ost?

„Kreuzberger kommen hier wenig her“, sagt Kai Häbich mit dem rotgefärbten Irokesenschnitt, „das sind alles Leute von hier.“ Was immer das heißt: Seine kehligen Vokalen erzählen von seinem ersten Leben in Schwaben, bevor er in der Hemp Galaxy landete, einem Mikrokosmos, vollgepackt mit Dünger, Samen und Thermometern, der nur um eines kreist: die Hanfzucht daheim. Berlins beeindruckendste Auswahl an Wasserpfeifen stapelt sich im Schaufenster und verkündet eine total highe Society. Doch die Konkurrenz schläft nicht: Im Januar und in Sichtweite hat Stonedware eröffnet, ein Kiffer-und Comicladen „für Heimbedarf“, mit „sozialen Bongs zu sozialen Preisen.“

Das Schankwirtschaftswunder
Neben der beschaulichen Simon-Dach-Szene sowie einzelnen Ausgeh-Ecken am Ostkreuz und in der Knorrpromenade hat sich ein zweites Amüsierviertel auf der anderen Seite der S-Bahn Warschauer Straße entwickelt: das ehemalige Niemandsland an der Oberbaumbrücke mit ihrem Bezirkswappen. Seit der Brückenöffnung 1994 strömen Heerscharen von Pendlern morgens zur U1 gen Westen, abends zurück nach Hause. Und nachts schieben sie sich, geschminkt und gebodybuildet, in einer Autolawine zurück ins Angestelltenparadies an der Brücke – in den westlichsten Teil des Ostens.

Aber niemand weiß, wie es zum bescheidenen Wirtschaftswunder Friedrichshainiensis kam. Vielleicht, weil sich die Zahl der Rückübertragungsbescheide diesen Winter verdoppelt hat, denn geklärte Besitzverhältnisse beschleunigen die Vermietung. Vielleicht, weil es wenig Grün im Bezirk gibt, weshalb viele Familien ins Umland flüchten und junge Leute einziehen in die leeren Wohungen mit Außenklo für drei bis vier Mark pro Quadratmeter. Vielleicht, weil die Bugwelle der Subkulturindustrie, die im Uhrzeigersinn durch die Innenstadt geschwappt ist, nun wieder dort anlangt, wo sie begann: am Rande Kreuzbergs. Nur beim Bürgermeister scheint der Aufbruch im Wohnzimmer und das Medieninteresse noch nicht angekommen zu sein.

Friedrichshain müsse sein Schmuddelimage loswerden, hatte Bezirkschef Helios Mendiburu (SPD) feierlich erklärt anläßlich der Einweihung der Rathaus-Passage vor drei Jahren (s. Zitty 24/95). Heute sitzt er im dritten Stock – das einzige Bezirksamt, das in einer Shoppingmall residiert. Zumindest das Rathaus ist seit dem Umzug vorbildlich unschmuddelig, um nicht zu sagen: steril. Geht es auch mit dem Bezirk bergauf? „Nein, leider nicht“, sagt Mendiburu mit heiserer Kettenraucherstimme. Im Sozialatlas rangiere Friedrichshain an drittletzter Stelle, Schlußlicht ist Kreuzberg. Das paßt doch zusammen? „Bei der geplanten Zusammenlegung sind Kreuzberg und Friedrichshain die Bauernopfer. Das regt mich auf! Wir sind doch nur durch dieselben Probleme verbunden. Und über eine einzige Brücke.“ Aber gerade im weiteren Umkreis der Oberbaumbrücke entsteht doch so etwas wie das neue Mitte? „Naja, viele Szenekneipen sind neu dazugekommen.“ Aber? „Die haben kein Geld für Schallschutz. Daher haben sich die Ruhestörungsanzeigen um zwanzig Prozent erhöht.“ Aber allein im Januar wurden atemberaubende 176 Gewerbe angemeldet, sechzehn davon in der Gastronomie? „Ja, viele haben den Sprung in die Existenzgründung gemacht. Aber die Zahl der Abmeldungen beträgt neunzig Prozent der Anmeldungen. Die Kneipen gehen oft nur eine Weile. Dann ist es wieder aus.“ Das ist ja erschreckend. „Ja.“

Amüsiermonolith im Niemandsland
„Willste auch einen blasen?“ fragt der Clown und setzt sich auf den Tresen. Er pustet einen roten, wurstförmigen Luftballon auf. „Bißchen klein“, sagt Silke T. und kichert. Sie hat sich herausgeputzt in Nadelstreifen-Kostüm und Pumps. Denn heute steigt die Frauentagsparty im Speicher an der Oberbaumbrücke. Mit Men Strip Show, Buffet und Sekt, für Frauen Eintritt frei. Mit einem Handgriff dreht der Clown zwei kleine Lufthoden ans Ende der Wurst. Silke kichert. Der Clown macht im Handumdrehen aus dem Phallus einen Dackel und stellt ihn vor sie hin. Sein Clownärmel rutscht hoch, ein Goldkettchen funkelt. Der Dackel kippt um. „Zum Stehen mußt du ihn schon selber bringen“, sagt er. Sie lacht. Mit dem Auto ist sie aus Lichtenberg in den Speicher gekommen, der auf halbem Wege zu ihrem Arbeitsplatz liegt, einer Wirtschaftsagentur in Wilmersdorf.

Wie ein Bollwerk bewacht der Amüsiermonolith-Speicher die Brücke. Aber drinnen ist es urst gemütlich, Disneyland-Style: Jede schummrige Ecke ist vollgerümpelt mit Papierpalmen, einem Plastikwasserfall und sogar einem 58er Chevvy. Ein Wohnzimmer der Superlative, drei Diskos und eine Bar auf vier Stockwerken. Freitags und sonnabends parken die Autos, viele mit Spoiler und Brandenburger Kennzeichen, die halbe Eastside-Galery entlang. Im Sommer kommt ein Fitness-Zentrum dazu sowie eine Freiluftterrasse. Auch der Schwulenclub „Die Busche“ gegenüber ist gut besucht, ebenso wie das gruftige NonTox. Nur das in Neon tiefgekühlte Crazyland, das seit dem Nikolaustag unter den U-Bahnbögen kauert, liegt verwaist, mit seiner amerikanischen Speisekarte und der hochgerüsteten Spielhölle. Diagnose: akuter Kerzenmangel und finales Sofadefizit.

„Gut, ihr Lieben“, sagt Uwe-Karsten Reuter, ein steifer Tanzlehrer in Bundfaltenhose und Hosenträgern, „jetzt kommen wir zum gemütlichen Teil: die letzten drei Tangos...“. Leiernder Singsang tönt durch den Raum, mischt sich mit dem Scharren der Ledersohlen und dringt bis in den Hinterhof des Fabrikgeländes in der Kopernikusstraße, wo im Oktober das „Kopernikus 23“ eröffnete – ein „Zentrum für Erlebnislernen“, das Erlebnishungrige aus dem tiefsten Westen zieht. Tango in Friedrichshain? Auch der Lehrer ist aus Westberlin, aus Tiergarten.

Das Veranstaltungsprogramm des Kopernikus bietet fast alles, von Aikido bis „Einführung in die Soziologie Teil 1“. Die Nachbarn dagegen mieten die Räume hauptsächlich für private Familienfeiern. Andere werfen nachts die Scheiben ein. Wahrscheinlich Anschläge der Kreuzberger Volxbefreiungsfront „Klasse Gegen Klasse“ (KGK), die Graffiti in der Nachbarschaft hinterlassen hat: „Szenewixer raus!“. Stein um Stein wachsen die Bezirke zusammen.„Wieso schick?“ fragt Nico besorgt, wirft seinen schwarzen Pferdeschwanz zurück und zündet sich eine Dunhill an. Nico wer? „Einfach Nico, so nennen mich alle hier.“ Seit einem Jahr schon baut er sein Restaurant 100Wasser gegenüber Karel Dubas Dubar aus. Eine Empore ist mit Teppichen und Sitzkissen ausgelegt: „Das ist meine Herkunft, der Orient, Ostanatolien“, erläutert Nico. In Friedrichshain habe er erstmalig eine Heimat gefunden. Und Friedensreich Hundertwassers dunkelbunte Farben, an die die schwammgetupfte Wandfarbe erinnern soll, versprachen ihm heilsame Ruhe, als er rastlos als Filmkopierer und Kellner pendelte zwischen Dresden, Neukölln, Marienfelde und dem Dönerladen seines Vaters in der Mainzer Straße. Nicos Speisekarte bietet nicht türkische, sondern italienische und französische Küche. Aber bitte: „Es soll nicht schick sein! Sondern warm.“

Flucht aus der Döner-Nische
Immer mehr feine Lokale werden eröffnet, viele von türkischstämmigen Friedrichshainern, die der Döner-Nische ihrer Eltern entfliehen wollen. Der Ausländeranteil in der Rigaer- und Boxhagener Straße liegt bei 27 Prozent, höher als etwa am Kreuzberger Moritzplatz. Der türkische Barmann aus Neukölln im Café-Restaurant Intimes, direkt neben dem 78 Jahre alten Kino, ist stolz, daß auch „Handelsreisende mit Schlips und Anzug“ herfinden. Und als sei das kein Widerspruch, liegt eine Unterschriftensammlung auf seinem Tresen: „Verhindert den Ausverkauf des Kiezes und die Abschaffung selbstgestalteter Lebensräume!“ Denn seit das Eckhaus im Winter privatisiert wurde, ist das Kino mit seinem Einheitspreis von sieben Mark von einer Luxussanierung bedroht. Im Sommer macht ein Türke gegenüber eine Cocktailbar auf, im amerikanischen Stil der Twenties. Hundert Meter weiter ein Wein- und Käseladen. „Das ist alles so traurig hier“, sagt DJ Duba. „Ich kann dieses Szene-Getue nicht leiden.“ Seit elf ist das Bier alle. Egal, es geht ihm um mehr: das Weniger. „Die renovieren doch erst mal für ein Heidengeld und bezahlen dann teuer, um es wieder auf alt zu machen. Aber das klappt nicht! Hier ist doch nicht der Wasserturm!“ Hat denn der bescheidene Aufbruch in den öffentlichen Wohnzimmern ringsum gar keine Chance, gibt es gar keine Herausforderungen mehr? Doch, sagt Duba: in eines der demnächst leerstehenden Dienstleistungszentren zu ziehen, in die Oberbaum City zum Beispiel oder den Treptower. Um dort sterile Büros in Wohnzimmer zu verwandeln. Eine zutiefst friedrichshaineske Vorstellung.

Fotos: Rolf Schulten

Zitty Berlin März/98