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Vom langsamen Verfall einer Bummelmeile im Kiez

An der Boxhagener Straße müssen immer mehr Geschäfte aufgeben

Von Andrea Puppe

Friedrichshain. Gerda Ruhland steht vor dem leeren Schaufenster an der Boxhagener Straße 29 und schüttelt den Kopf. "Das kann doch nicht wahr sein. Ich kannte die Drogerie von Marion Keil schon, als ihre Eltern noch das Geschäft geführt haben", sagt die alte Dame. Heute müssen Marion und Wolfgang Keil die 1924 vom Großvater in Kreuzberg gegründete Drogerie aufgeben.

"Das Familienunternehmen hat Inflation, Nazi-Zeit und 40 Jahre Sozialismus überstanden. Jetzt, in der Marktwirtschaft, ist Schluß", sagt Wolfgang Keil bitter. 200 000 Mark haben die beiden seit 1990 in den Laden investiert, ihn um ein Fotogeschäft und den Zeitungsverkauf erweitert. "Vier Mitarbeiter konnten wir beschäftigen. Seit 1990 hatten wir keinen Urlaub", erzählt die Drogistin. 1995 gingen dann die Umsätze zurück. "Im März '95 hatten wir noch ein Plus von 591 Mark, im September ein Minus von 33 174 Mark und im Dezember 90 961 Mark Miese", rechnet Wolfgang Keil vor. Der Fleischer hat dichtgemacht, die Post geschlossen - wer heute in der Boxhagener Straße einkauft, dem vergeht die Lust am Bummeln. Viele Läden stehen leer, in den Fenstern hängen Schilder: "zu vermieten".

Auch an der Drogerie Keil hängt ein Plakat: "Dank der klugen Wirtschaftspolitik von Senat und Bezirksamt müssen wir nach 73 Jahren schließen." Ein Einkaufszentrum nach dem anderen mache auf - obwohl die Menschen immer weniger Geld hätten, kritisiert Keil. "Da sollten die Politiker steuernd eingreifen und neue Einkaufszentren zurückstellen, bis sich die Kaufkraft entsprechend entwickelt hat." Er verstehe nicht, warum die Planer nicht Einkaufsstraßen fördern - als stadttypisches Gegenstück zu den Zentren "auf der grünen Wiese".

"Die Boxhagener liegt mitten im Sanierungsgebiet Warschauer Straße. Dort leben viele einkommensschwache Familien und ältere Menschen", sagt Martina Kubisch, Sprecherin der Wohnbaugesellschaft Friedrichshain (WBF). "Wer es sich leisten kann, zieht weg, und die verbleibende Kaufkraft kommt großen Einkaufszentren zu Gute." Kleine Läden hätten nur in der Nähe dieser Zentren eine Chance, weiß Wolfram Kaune vom Gewerbeförderverein Friedrichshain.

"Wir haben auch schon mal einen Schwatz mit unserer Kundschaft gehalten, brachten auch Waren kostenlos ins Haus", sagt Marion Keil. Besonders ältere Kunden, die in den vergangenen Tagen unzählige Blumensträuße vorbeibrachten, werden die persönliche Einkaufs-Atmosphäre im Kiez vermissen.

MOPO 1.10.97