Mut zur Lücke in Lückendorf

Am Mittwoch, den 11. August, fand ab 18 Uhr in dem Luftkurort Lückendorf durch etwa 63 AntirassistInnen und Autonome die erste Demonstration nach dem Ende des zweiten Weltkrieges statt. Was war der Anlaß für diese Aktion? Im Frühjahr des letzten Jahres dieses Jahrtausends war von den CamporganisatorInnen von einem Schäfer eine wunderschöne Wiese gepachtet worden. Kurz vor dem beabsichtigten Campbeginn setzten durch ungenannte Quellen Hetze und Mobbing gegen den Verpächter in der Gemeinde ein, an der sich schnell auch die lokale NPD mit einer Postwurfsendung unter dem nun wirklich unsinnigen Motto: "Linke Chaoten machen sich (...) (auf) den nationalen Weg nach Lückendorf" beteiligte. Der Verpächter wurde schließlich so massiv bedroht, daß er den Mietvertrag mit den Grenzcampern wieder zurückziehen wollte. Eingebettet war das alles in eine diffuse Mehrheitsstimmung der Gemeindebewohner, die sich nur zu willig in der ganzen Auseinandersetzung in eine Art zwanglosen Zwangs des rechten Konsens' in der Region einfügt. Klar, daß da dem Anliegen von AntirassistInnen kein größeres Gehör geschenkt wurde. Zwar war es schließlich das Landratsamt, das dem Camp die Ausnahmegenehmigung verweigerte, die nötig gewesen wäre, um auf dem Feld des Schäfers zu zelten, aber es ist nicht zuviel der Unterstellung der weit überwiegenden Mehrheit der Lückendorfer zu attestieren, wie erleichtert sie über dieses Verbot waren. Eine unmittelbar im Vorfeld des Campauftaktes anberaumte Gemeinderatssitzung zu der vier CamporganistorInnen eingeladen waren, endete mit zum Teil lautstarken Beschimpfungen der Antiras von einigen Gemeinderatsmitgliedern und Ortsansässigen. Einer riet: "Macht doch das Camp bei den Amis an der mexikanischen Grenze. Die würden euch alle erschießen." Einem anderen schwante, daß es Lückendorf "mit lauter Fanatikern" zu tun bekäme. In anbetracht der vorgefundenen Streitkultur wurde den vier Gästen immer unklarer, wen er eigentlich meinte... Zugunsten der vier CamporganisatorInnen soll aber darauf hingewiesen werden, daß sie diesen Beschimpfungen im Großen und Ganzen in diplomatischer Weise begegneten, z.T. aber auch in direkter wie zurecht erregter Widerrede.

Bekanntlich wurde in der Zwischenzeit von dem "Keine Grenze ist für immer"-Camp durch politischen Druck und Verhandeln ein anderes Gelände, nunmehr in der Nähe von Zittau, gefunden. Denkt mensch lediglich in einfachen Bahnen, dann hätte das damit doch eigentlich sein scheinbar gutes wie harmonisches Bewenden haben können. Aber da blieb doch bei einigen CampbewohnerInnen das eigentümlich schale Gefühl, daß sich aus der Sicht des dummen Teiles der Lückendorfer EinwohnerInnen manifeste Borniertheit, Aggressivität und Fremdenfeindlichkeit insoweit gelohnt haben könnte, als daß mensch sich mit Erfolg die Antiras hat vom Hals halten können. Und das fanden die CampbewohnerInnen nun wieder, und das in einem durchaus politischen Sinne, überhaupt nicht richtig: Die Praxis von Antirapolitik muß doch mindestens heißen, dafür zu sorgen, daß Fremdenfeindlichkeit erstens häßlich ist und sich zweitens nicht lohnen soll. So einfach ist das manchmal. Vor diesem Hintergrund entstand die Idee für eine öffentliche Manifestation in der Gemeinde. Und sie verfolgte das Minimalziel durch eine mehrstündige Präsenz in diesem Ort dem idiotischen Teil der Bevölkerung mindestens soviel Futter für deren eigene Anti-Chaoten-Obsesszionen bereit zu stellen, daß ihnen schon allein davon schlecht werden möge.

So versammelte sich in dem 550-Einwohnerdorf hinter einem Transparent mit der Aufschrift: "Gleiche Rechte für alle / Keine Sondergesetze für Ausländer" ein etwa mittelgroßer Pulk von jugendlich und zum Teil durch die Kleidung etwas arm aussehenden CampbewohnerInnen, die auch noch zwei lautstarke Megaphone mitgebracht hatten. Abgerundet wurde dieses zunächst etwas skuril anmutende Ensemble durch eine Begleitung von zunächst 10 mit Helm, Knüppel und Pistolen bewaffneten BGS-BeamtInnen, die sich mit dem "Keine Grenze ist für immer"-Pulk gleichfalls auf den Weg durch die Gemeinde machten. Insgesamt dauerte diese Demonstration etwa zwei Stunden, führte kreuz und quer an den sehr zerstreut liegenden Anwesen der Gemeinde vorbei und überwand sogar eine langanhaltende 18%-Steigung. An alle anliegenden Häuser wurde die "Kein Mensch ist illegal"- Campzeitung verteilt. Auch die Gaststätte "Kirchhofstübl" wurde von fünf Antiras aufgesucht und die im Wirtssaal sitzenden vier Kneipengäste wurden darüber informiert, daß es besser ist unsere Campzeitung als die BILD-Zeitung zu lesen. Den Kneipengästen blieb in dieser Situation vielleicht auch im Angesicht ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit nichts anderes übrig, als sich dem Anliegen dieser Demonstration gegenüber aufgeschlossen und lächelnd zu zeigen. Insgesamt konnten im Verlaufe dieses Marsches im wirklich idyllisch geformten Zittauer Gebirge ungefähr dreißig BewohnerInnen angetroffen und in direkter Weise mündlich oder mit Megaphonansprachen über den Anlaß dieser Demonstration informiert werden. Dabei antwortete ein freundlicher Einwohner auf die Frage, ob es sich bei dieser Demonstration um die erste in diesem Ort handeln würde, deshalb mit "Ja", weil mensch doch erst vor kurzen eine neue Straße gepflastert bekommen habe. Im Verlauf der Manifestation wurde durch die beiden Megaphonisten auch die Heterogenität in dem Pulk der DemonstrationsteilnehmerInnen selbst deutlich. Skandierte der eine die Parole: "Lückendorf - Rassistennest - wir wünschen euch die Beulenpest", so teilte der andere Megaphonist die Merksätze: "Entschuldigen Sie, wir stören sie gerade, und wenn sie sich von uns gestört fühlen, dann sind sie auch gemeint!" mit. Die in diesen Megaphonbeiträgen aufscheinenden unterschiedlichen politischen Perspektiven der Antiras und Autonomen im Umgang und im Verhältnis zu der örtlichen Bevölkerung trübte jedoch keineswegs die allseitig geteilte gute Laune und führten auch nicht zu einer Spaltung innerhalb der Demonstration.

Abschließend ist noch von zwei Höhepunkten und einem Tiefpunkt im Rahmen der Demonstration zu berichten: Kurz vor Beginn der 18%-Steigung führte der Marsch die DemonstratonsteilnehmerInnen an einem Tiefkühlkosteiswagen vorbei. Der lohnabhängig beschäftigt arbeitende Proletarier hatte schon beabsichtigt in den wohlverdienten Feierabend zu gehen. Unter der Parole: "Wir wollen Eis!" entstand urplötzlich eine Situation, in der der Proletarier ein wenig eingeschüchtert nickte. Dadurch waren wiederum die DemonstrationsteilnehmerInnen insoweit irritiert, als daß sie anfingen, sich nun ihrerseits etwas ungläubig bei dem Tiefkühlosteiswagenverkäufer anzustellen, um auch für sie etwas ungeplant wie unerwartet ein industriell gefertigtes Speiseeis käuflich zu erwerben. Während dieser ca. 10 minütigen Aktion war die Einkaufsschlange beim Tiefkühlkosteiswagenverkäufer von einer zwischenzeitlich auf dreißig BGS-Beamte angewachsene Schar von Staatshütern umstellt. Nachdem das Eis verzehrt worden war, wurde die Demonstartion vom dem Pulk der CampteilnehmerInnen gemeinsam mit den BGS-Beamten unter der Parole: "Wir haben Eis, und ihr keins" weiter entschlossen fortgesetzt. Wenn auch als Kritik an dieser Aktion festzuhalten ist, daß durch das käufliche Erwerben des Speiseeises von den Demonstrantistas die bürgerliche Rechts- und Eigentumsordnung eher bestätigt und gerade nicht überwunden werden konnte, so soll doch nicht der durchaus als äußerst subversiv einzuschätzende Aspekt der Tätigkeit des Tiefkühlkosteiswagenverkäufers unterschlagen werden: Schließlich schenkte dieser den Demonstrantistas am Schluß nicht nur einen ganzen Packen Eis, sondern hatte zuvor auch den Verkauf trotz der besonderen Bedingungen der staatlichen Repression durchgeführt. Die Arbeiterklasse ist und bliebt auch für die Zukunft der Menschheit unberechenbar!

Als zweiter Höhepunkt der Demonstration kann die fulminante Abschlußkundgebung vor dem für eine Westmark in Betrieb zu setzenden Wasserfall beim Fremdenverkehrsbüro im Ort gewertet werden. In einer mustergültigen Aufstellung nahmen die Demonstrantistas davor Platz und Stellung. In einer leidenschaftlichen Abschlußrede wies ein Redner darauf hin, daß diese Demonstration zwar nur "ein kleiner Schritt im Rahmen der Kampagne "Kein mensch ist illegal" sein konnte, sie aber dennoch "ein großer Schritt für die Menschheit" gewesen sei. Und allemal heiße "kein Mensch ist illegal" immer auch: "Kein Störer ist illegal!" In dem Augenblick als er darauf hinwies, daß noch "Fluten kommen werden" wurde der erste Wasserfall in Betrieb gesetzt. Die immer wieder durch heftigen Beifall unterbrochene Rede endete mit der Vision, daß wir für Zeiten kämpfen, in denen sich alle Demonstrantistas "wie die Fische im Wasser tummeln und glücklich sein werden." In diesem ungeheuer ergreifenden Moment waren alle Wasserfontänen am Lückendorfer Wasserfall mit maximaler Schubkraft in Betrieb. Für alle, die diesen Moment erleben durften, wird das für den Rest ihres Lebens ein unvergeßliches Erlebnis bleiben.

Als Tiefpunkt der Antiramanifestation in Lückendorf muß zum Schluß die in jeder Hinsicht ungerechtfertigte Personalienfestellung von fast allen Demonstrantistas durch die zusätzlich zu den bewaffneten BGS-Beamten hinzugezogene Einheit der sächsischen Landespolizei bewertet werden. Es bleibt in diesem Zusammenhang nur zu hoffen, daß die aufgenommenen Daten schon bald ihre Ruhestätte in einem gelöschten Datengrab finden werden.

Tommi Calucci

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