Beitrag zur Diskussion um das Motto
"Keine Grenze ist für immer"

Wer von deutscher Seite aus in Richtung Oder/Neiße die Parole "Keine Grenze ist für immer" ausgibt, begeht einen Tabubruch – in unserem Fall jedoch nicht aus reaktionären, sondern allerbesten Motiven: Gegen die mörderische Flüchtlingsabwehr im Rahmen der Festung Europa. Die Oder/Neiße-Grenze ist von Linken zurecht immer als Friedensgrenze verteidigt worden, und das muß auch heute noch getan werden. Doch wer diese Grenze in ihren verschiedenen Funktionen wahrnimmt, für den gibt es keinen Widerspruch zwischen Verteidigung der Friedensgrenze und Bekämpfung des deutschen Grenzregimes, für den ist allerdings auch die Parole "Keine Grenze ist für immer" untragbar.

Zur Flüchtlingsabwehr an der Grenze ist vor und auf dem Camp schon viel gesagt worden. Zur Funktion als Friedensgrenze so gut wie nichts, und deswegen tut ein kleiner Exkurs not:

Zwar wäre nach dem 2. Weltkrieg die französisch-polnische Grenze die einzig wahre Friedensgrenze gewesen, doch leider kam es ja zur Restauration deutscher Staatlichkeit, besser: Staatlichkeiten. Die Ostgebiete des alten Deutschen Reichs fielen an Polen, das Sudetenland ging zurück an die Tschechoslowakei. Während die DDR diese Grenzen im Rahmen der sozialistischen Bruderschaft als "Friedensgrenze" akzeptierte, tat das die BRD nie.

Die aus den ehemaligen Ostgebieten vor der Roten Armee geflohenen oder später von Polen und der Tschechoslowakei ausgewiesenen Deutschen organisierten sich in der BRD als sogenannte Heimatvertriebene in mächtigen Verbänden. "Deutschland in den Grenzen von 1937" war jedoch nicht nur eine Forderung dieser Vertriebenenverbände sondern gesellschaftlich tief verankert. Als Bundeskanzler Brandt in den 70ern eine neue Ostpolitik begann, die auf Entspannung des Ost-West-Konflikts und Akzeptanz der deutschen Ostgrenzen angelegt war, gaben Rechtsradikale die Parole "Brandt an die Wand" aus. Gegen die Ostverträge regte sich breiter gesellschaftlicher Widerstand von Nazis über die Vertriebenenverbände, Bildzeitung, CDU/CSU und Teilen der FDP. "Aber die Vertriebenen sterben doch aus und spielen heute keine Rolle mehr" hört man viele Linken sagen. Das stimmt leider nicht:

Erstens ist der Vertriebenenstatus vererbbar und außerdem gibt es immer mehr Bekenntnis-Vertriebene in den Verbänden. Dadurch kommen so aktive Nazibanden wie die "Junge Landsmannschaft Ostpreußen" aber auch Alternativ-Spinner wie die "Sudetendeutsche Grüne Jugend" zustande. Die Vertriebenenverbände sind zudem in der Ära Kohl finanziell enorm aufgerüstet worden und bestimmen mit ihrem weitverzweigten Institutionennetz und Lobbyisten in allen Parteien (außer der PDS) die Osteuropapolitik der BRD wesentlich mit.

Zweitens haben sich den Vertriebenen seit dem Zusammenbruch der realsozialistischen Staaten unerahnte neue Möglichkeiten eröffnet. Zwar hat die BRD inzwischen die Ostgrenzen anerkannt und ein erneuter deutscher militärischer Ritt nach Osten steht nun wirklich nicht auf der Tagesordnung. Doch die Ostgrenze militärisch zu überwinden ist heutzutage auch völlig unnötig, denn die BRD ist ökonomische Führungsmacht in Europa und die östswehr über die Möglichkeiten der "Regermanisierung Ostpreußens" referierte hatte, gab es einen Skandal, weil Roeder Nazi ist. Übersehen wird dabei, daß das Thema des Vortrags staatlich geförderter Politik der Vertriebeneverbände entspricht.

Drittens erleben die deutschen Vertriebenenverbände im Zeichen des Kosovo-Kriegs ein großes Revival. Den zu Auschwitz-Opfern stilisierten Kosovo-Flüchtlingen wird in Deutschland große Sympathie entgegengebracht, solange sie nicht nach Deutschland kommen. Ihr Schicksal wird mit dem der deutschen Vertriebenen nach 1945 verglichen. Das sogenannte "Recht auf Heimat" dürfe nicht nur für die Kosovo-Albaner gelten sondern sei universales Menschenrecht. Indem sie Menschenrechte und nicht mehr Grenzrevisionen fordern, gelangen die Vertriebenen aus der rechten Schmuddelecke. In der taz, dem Zentralorgan für deutschen Menschenrechtsimperialismus, wurde konsequenterweise schon die Versöhnung der deutschen Linken mit den deutschen Vertriebenen gefeiert.

Viertens sind die Vertriebenenverbände gar nicht das eigentliche Problem. Das Problem sind die spezifisch deutschen Vorstellungen von Volk und eine spezifisch deutsche Großmachtpolitik, die sich bestens ergänzen.

Das Blutsrecht bestimmt seit jeher, wer deutsch ist und zum deutschen Volk gehört. Das führt dazu, daß alle Menschen in Osteuropa, die deutsche Vorfahren haben, ein Anrecht auf die deutsche Staatsangehörigkeit und auf Schutz des deutschen Staates haben. Alle deutschen Staaten bewahrten und schafften sich damit deutsche Minderheiten in osteuropäischen Staaten, über die sie Einfluß und Druck auf diese Staaten ausübten. In Rußland werden seit 1990 sogenannte "Inseln der Hoffnung" für die deutsche Minderheit aufgebaut, der Plan zur Errichtung einer deutschen "Wolgarepublik" scheiterte zum Glück. Seit jeher galten in Deutschland kollektive Volksgruppenrechte oder Minderheitenrechte als Menschenrechte. Mit der Berufung auf diese Menschenrechte der deutschen Minderheit eignete sich Hitler 1938 das Sudetenland an. Im jetzigen Yugoslawienkrieg war es immer wieder die BRD, die sich zum Fürsprecher nationaler Minderheiten machte und die Zerschlagung des Zentralstaats zugunsten Deutschland-freundlicher Kleinstaaten wie Slowenien und Kroatien betrieb.

Doch es muß nicht immer die militärische Grenzverschiebung sein. In Bezug auf Polen und Tschechien, die inzwischen NATO-Mitglieder sind, läuft deutsche Großmachtpolitik heute anders, nämlich über wirtschaftliche Macht. Diese Alternative zur direkten militärischen Großmachtpolitik war in Deutschland immer auch verbunden mit dem Bestreben, Außengrenzen nicht zu verschieben, sondern in gewisser Weise aufzulösen. Paneuropakonzept, Europa der Regionen, Mitteleuropakonzept und Kerneuropa hießen und heißen diese deutschen Projekte, mit denen gerade durch Aufhebung von Grenzen und traditionellen Nationalstaaten deutsche Großmachtinteressen verwirklicht werden sollen. Bei Wegfall der Grenzen würde sich Deutschland als ökonomisch stärkste Macht durchsetzen und außerdem die deutschen Minderheiten als "überlegenes Kulturvolk" in Osteuropa an Macht gewinnen.

Besonders deutlich wird die Folge der Grenzauflösungen in den sogenannten Euro-Regionen. In diesen mittlerweile um fast die ganze BRD herumliegenden grenzüberschreitenden Regionen verliert die Grenze selbst gegenüber EU-innen-Grenzen noch mehr an Bedeutung. Die Erfahrung in diesen Euro-Regionen zeigte, daß der deutsche Einfluß jenseits der Grenze steigt, während die dortige Bevölkerung die ökonomischen Verlierer sind. Nicht zufällig engagieren sich auch die Vertriebenenverbände verstärkt in diesen Euro-Regionen. In Dänemark z.B. protestierten tausende von Menschen mit dänischen Nationalfahnen und einer Menschenkette an der Grenze gegen die Errichtung einer solchen Region.

Es sollte also klar sein, daß ein Kampf gegen nationalstaatliche Grenzen nicht als Selbstzweck verfolgt werden kann. Grenzen müssen immer im historischen und aktuellen Kontext gesehen werden. Unter den gegebenen deutschen Verhältnissen ist die Parole "Keine Grenze ist für immer" genauso naiv und falsch wie die Parole "Nie wieder Krieg". Doch während "Nie wieder Krieg" immerhin unzweideutig friedlich zu verstehen ist, müssen sich Polen und Tschechen von der Parole "Keine Grenze ist für immer" bedroht fühlen.

In der ersten Campzeitung heißt es: "Grenzen sind überkodierte Orte, und so haben auch praktische Interventionen, im Grenzgebiet notwendigerweise einen starken symbolischen Charakter". Wenn Deutsche die Oder/Neiße-Grenze wenn auch mit harmlosen Mitteln angreifen und polnische Grenzbeamte verhöhnen, hat das eben diesen starken symbolischen Charakter. Und bei Symbolik zählen Bilder, nicht gute Absichten. Ein böser Mensch also, wer bei dieser Aktion auch an das berühmte Photo von deutschen Soldaten denken muß, die 1939 unter Gejohle den ersten Schlagbaum einreißen?

Für das Grenzcamp müßte das heißen, sich von mißverständlichen Parolen ("Keine Grenze ist für immer"), wie von mißverständlichen symbolischen Aktionen (Überschreiten der Grenze von West nach Ost mit Verhöhnen polnischer Grenzer) zu verabschieden. Wer das mörderische deutsche Grenzregime gegen Flüchtlinge bekämpft, muß gleichzeitig auch die Oder/Neiße Grenze als symbolische Grenze deutscher Großmachtpolitik verteidigen. Dazwischen müssen wir für uns keinen Widerspruch konstruieren, wohl aber die Grenze in ihrer Widersprüchlichkeit erkennen und sie in unserer Praxis berücksichtigen.

zurück zur
webjournal
startseite