Wohlfahrtsstaat, Sicherheitsmythen und die Grenze

Grenzcamp als Plattform symbolischer Politik

Folgende fünf Thesen weisen einen Zusammenhang zwischen der neoliberalen Politik des Sozialstaatsabbaus mit dem herrschenden Grenzregime auf. Dieser Konnex soll einen Aspekt der Reichweite des Grenzcamps als Plattform symbolischer Politik darstellen.

1. Der neoliberalistische Wohlfahrtsabbau produziert ein Bedürfnis nach Sicherheitsfiktionen.

Die neoliberal motivierte "Verschlankung" des Wohlfahrtsstaats hat neben realen ökonomischen Folgen auch symbolische. Die Abschaffung bzw. Einschränkung des Rechts auf gesellschaftliche Teilhabe und auf Absicherung der materiellen Existenzbedingungen hat tiefe Löcher in die Kontinuitäts- und Sicherheitserwartungen großer Teile der Bevölkerung gerissen. Angst vor gesellschaftlicher Exklusion wird damit zu einer instrumentalisierbaren Ressource.
In Wohlfahrtsgesellschaften gibt es, zumindest gemäß ihrer expliziten Moralökonomie, ein Recht auf ein Minimum an gesellschaftlicher Teilhabe. Im Zuge des Sozialstaatsabbaus und der begleitenden diskursiven Strategie der Verleumdung von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern wurde den europäischen Bevölkerungen in unterschiedlicher Schärfe dieses Recht symbolisch und ganz erheblich auch legal aberkannt. Wer heute aus dem Raster fällt, ist auf die Gnade des Staates angewiesen oder muß sich alternative solidarische Netzwerke organisieren. Die massenhaft verbreitete biographische Verunsicherung verleiht Sicherheitsfiktionen Attraktivität.

2. "Sicherheit" ist ein Ersatzangebot des Staates.

Der Staat hat im vergangenen Jahrzehnt ein Ersatzangebot für das massenhafte Bedürfnis nach Sicherheiten bereitgestellt, das freilich durch die Verknappung wohlfahrtsstaatlicher Sicherheiten erst erzeugt wurde. Sogenannte "innere Sicherheit" fungiert als abgespeckte und zugleich pervertierte Form von Bürger- und Menschenrechten. Die Gewährleistung des grundlegenden Rechts, ein "würdiges" Leben führen zu können, wird weiter abgeschafft, um nur noch die blanke körperliche Unversehrtheit anzubieten. Für diesen schlechten Ersatz wird erst dadurch Akzeptanz geschaffen, daß "innere Sicherheit" zum phantasmatischen Bild einer totalen Sicherheit aufgeblasen wird, eine Sicherheit, die jeden Eingriff staatlicher Behörden rechtfertigt. Die These lautet also, daß das Phantasma einer totalen Sicherheit der Bevölkerung als tatsächlich billiger Ersatz für die Möglichkeit eines guten Lebens angeboten wird.

3. Das Konzept Sicherheit ist mythisch verfasst.

Damit dieser Etikettenschwindel nicht auffliegt, wird das neoliberale Sicherheitsversprechen in einen Mythos gekleidet, der allseits bekannte Inhalte transportiert: Das Volk ist gesund, wird aber durch äußere Gefahren durch soziale Erreger bedroht, die das Land zu überschwemmen oder den Volkskörper zu infizieren drohen, womit dann MigrantInnen, Kriminalisierte, Illegalisierte und radikale KritikerInnen gemeint sind. Der Mythos funktioniert, indem der positive Gehalt des Schutzes der körperlichen Unversehrtheit angezapft wird, um den ebenso paranoiden wie politökonomisch motivierten Visionen der Kontrollgesellschaft Attraktivität zu verleihen. Ohne diesen Mythos könnten kontrollgesellschaftliche Repressionsinstrumente wie Schleierfahndung, zero tolerance, der Lauschangriff und abgeschottete Grenzen weniger Begeisterung verbuchen.

4. "Grenze" als Abgrenzung und Ausgrenzung ist Grundlage des Sicherheitsmythos

Das Konzept "Grenze" ist das symbolische Herzstück des Sicherheitsmythos. Die Grenze hält als schützende Hand von oben Gefahren ab oder elimiert sie durch operative Eingriffe. Als symbolisches Konstrukt verstanden impliziert "Grenze" sowohl Ab-grenzung nach außen als auch Aus-grenzung als quasi-medizinische Bekämpfung angeblicher eingedrungener Gefahren. Die territoriale Grenze ist symbolisch übercodiert, sie ist zugleich reales Gebiet und Zeichenträger für die Sicherheitsfiktionen. Solange die symbolische Ordnung des Sicherheitsmythos nicht gestört wird, bleibt Rassismus für die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung konstitutiv. Der Rassismus ist notwendig zur Stabilisierung ordnungspolitischer Sicherheitsfiktionen und zur Legitimierung einer repressiven politischen Ökonomie. Gerade die Übercodierung, der Sinnüberschuß des Zeichenträgers "Grenze" erlaubt die Destruktion des Mythos, indem seine Historizität und damit seine inneren Widersprüche aufgedeckt werden.

5. Sauberkeit ist eine notwendige Stütze des Sicherheitsmythos.

Der Mythos Sicherheit ist auf die symbolische Sauberkeit seiner rostigen Instrumente angewiesen.
Wenn wir aufdecken, wie "dreckig", weil offiziell legal, aber kulturell - hoffentlich - illegitim die Zwangsmassnahmen des Grenzregimes und der allgemeinen Sicherheitspolitik sind, wenn das Bewerkstelligen sogenannter Sicherheit als dreckiges Geschäft beim Namen genannt wird, kann die Glaubwürdigkeit und suggestive Kraft des Sicherheitsmythos unterminiert werden. Gelingt dies, verliert einerseits die Illegalisierung von Menschen die legitimatorische Grundlage, andererseits verlieren Denunziantentum und Sicherheitsdenken gegenüber zivilgesellschaftlicher Solidarität massiv an Attraktivität.

Hack the Borderline!

Boris Traue

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