Aus CONTRASTE Nr. 185:

DRESDEN: ARBEITEN UND TROTZDEM LEBEN

"Eine Mittelform zwischen Bill Gates und Mutter Theresa finden"

"Beatus ille qui procul negotiis!" Was müssen das für Zeiten gewesen sein, als Horaz eine seiner Episoden mit solch vorkapitalistischen Ketzereien einleiten konnte? Glücklich, wer fern von Geschäften ... Heute ist man landläufig so weit heruntergekommen, jede nicht dem Tanz ums Goldene Kalb verschriebene Stunde als verlorene anzusehen. Die höchste Auszeichnung besteht darin, dabei mittanzen zu dürfen. Arbeit nicht mehr als Selbstverwirklichung, sondern um ihrer selbst willen, glücklich schon, wer überhaupt eine hat. Mit dem Jahr 1989 verschwand auch die Frage nach der Aneignung der Arbeitsergebnisse aus dem Bewußtsein.

Michael Bartsch, (SAX, Dresden) - Heute hechelt jeder für sich nach dem Almosen, das ihm über die bloße Existenz hinaus vielleicht noch etwas Sozialprestige sichert. Bereit, jeden Preis an Lebenszeit und Idealverlusten dafür zu zahlen, denn sprungbereit lauert das stehende Millionenheer der Arbeitslosen als Disziplinierungsmittel gegenüber allen Unterprivilegierten. Wer an anders lautendes Politikerpathos oder Bündnisse für Arbeit glaubt, nimmt auch an, daß der Klapperstorch das Christkind bringt.

Auf den ersten Blick gibt es nur eine Wahl: Selbstausbeutung bis zum Anschlag oder Ausstieg. Frei nach Horaz. Es gibt auch Glück jenseits von Arbeit, erinnern zum Beispiel die Berliner "Glücklichen Arbeitslosen" in ihrem Manifest von 1996. "Wenn der Arbeitslose unglücklich ist, so liegt das nicht daran, daß er keine Arbeit hat, sondern daß er kein Geld hat", behaupten sie als Nicht-Hegelianer. Folglich wäre auch genauer von "Geldsuchenden" an Stelle von "Arbeitssuchenden" zu sprechen.

So weit will nun eine sich um allmähliche Bewußtseinserweiterung bemühende Dresdner Initiative nicht gehen. Ihr geht es gerade um eine neue Emanzipation in einer adäquaten Arbeit, die zugleich Raum läßt für die musisch-müssigen Kulturtaten und Unterlassungen des Menschen. "Samba rabota" macht den zugegebenen provokanten Versuch, nicht in panische Arbeitslosenangst zu verfallen, sondern diesen Schicksalsschlag als Chance zu begreifen. Sich damit zugleich auch der Erpreßbarkeit zu entziehen, Würde zu bewahren und sogar in einer auf den ersten Blick deprimierenden Situation Freiheitsgrade wiederzugewinnen. Das geht nämlich nicht, solange das Anstellen als einziger Ausweg aus der Arbeitslosigkeit angesehen wird. Mit dem immer fragwürdiger werdenden Ziel, wieder in ein abhängiges traditionelles Regelarbeitsverhältnis zu gelangen.

"Samba rabota" soll eine Kampagne mit zwei wesentlichen Komponenten werden, erklärt Peter Müller vom "Signus e.V.". Sein Verein initiiert seit fünf Jahren Gemeinschaftswohnprojekte und alternative Empowerment-Versuche. Dieser jüngste soll Individuell ermutigen, aus dem Fluch eine Chance zu machen, eigene Ressourcen zu erkennen und statt weiterer Entfremdung mit neuen Arbeitsformen einen Schritt auf sich selbst zuzugehen. Und weil man damit schnell an materielle Existenzgrenzen stößt, soll die Kampagne auch eine öffentliche Diskussion dort anstoßen, wo die Geldtransferströme verteilt und verwaltet werden. Geschehen soll das zunächst im überschaubaren kommunalen Bereich, in der Arbeitsverwaltung zum Beispiel. Der Ausbau zu einer bundesweiten Kampagne ist vorgesehen. Sie trägt im Grunde den unbestreitbaren Veränderungen in der Arbeitswelt Rechnung, wie sie unter anderem im Bericht der sächsisch-bayerischen Zukunftskommission beschrieben sind. Ronald Blaschke, vielen von der Arbeitslosenberatung und dem inzwischen von der bürgerlichen Stadtratsmehrheit aufgelösten Arbeitslosenbeirat bekannt, will aber bestenfalls eine geistige Verwandtschaft zu den von Ulrich Beck geschriebenen Teilen des Berichts zugeben. Es geht auch um die dort postulierte Bürgerarbeit, aber nicht um Konzessionen an Neoliberalismus und Deregulierung im Sinne totalitärer Kapitalherrschaft. Dagegen spricht schon, daß Zwangsarbeit im Billiglohnsektor abgelehnt wird. Blaschke spricht sogar von einem neuen Gesellschaftsvertrag derer im traditionellen Arbeitssystem mit denen "draußen": "Wir ersparen euch Mobbing und Verdrängungswettbewerb, in dem wir auf den Kampf um Regelarbeitsplätze verzichten, und ihr gesteht uns dafür relativ bescheidene Sozialtransfers zu". Gedanken, die von der bei uns unbekannten autonomen Arbeitslosenbewegung inspiriert sind.

Voraussetzung dafür ist, daß auch der Lohnarbeiter im Arbeitslosen sein "zweites Ich" erblickt, eine Rolle, in die er jederzeit gestoßen werden kann. Der Empfänger von Sozialtransfers erscheint dann nicht mehr als Sozialschmarotzer, die Wiederentdeckung der privaten kreativen Mussestunde nicht mehr als Privileg derer, die nicht mehr bis zum Anschlag um die Gunst eines Arbeitgebers buhlen müssen. Deshalb wendet sich die Kampagne auch nicht nur an Arbeitslose im herkömmlichen Sinn, sondern auch an vermeintlich sichere Jobinhaber. "Wer erst einmal abgestürzt ist, hat den Kopf meist nicht frei für solche Überlegungen", weiß Roland Blaschke aus Erfahrung. Was Wunder, setzt doch der Mut zur Selbstbestimmung auch in dieser gesellschaftlichen Ausgrenzungssituation gegenwärtig viel Idealismus und dauerhaften Verzicht auf freiwirtschaftliche Einkommenshöhen voraus.

Eine Spontanumfrage vor dem Dresdner Arbeitsamt bestätigt dennoch eine Vermutung der "Samba rabota"-Initiatoren. Erstaunlich viele würden auf ein Viertel oder ein Drittel ihres bisherigen Einkommens verzichten, wenn sie dafür dauerhaft eine irgendwie gesellschaftlich nützliche Arbeit leisten könnten. Und zwar nicht nur beschäftigungstherapeutisch Tonleitern für Singvögel im Park bauen, um Politiker, die Statistik und sich selbst zeitweilig ruhig zu stellen. "Samba rabota" spricht deshalb nicht nur schwer vermittelbare Langzeitarbeitslose an. Ein grundsätzlicher Unterschied zum Projekt "Tauris" des sächsischen Wirtschaftsministerium, mit dem 150 ältere Dauererwerbslose in Bürgerprojekten außerhalb der traditionellen Erwerbsarbeit unterstützt werden. Immerhin ein Schritt hin zu einem so genannten "Dritten System" jenseits des privaten und öffentlich geförderten Arbeitsmarktes. Ein solches bejaht auch der Dresdner DGB-Chef Rolf Neher, allerdings vorerst nur für die wirklich Chancenlosen. Bei aller Sympathie für "Samba rabota": "Der emanzipatorische Gedanke hat im gegenwärtigen System keinen Platz - das dürfte dann nicht der Kapitalismus sein." Ihm traut auch Neher die Lösung der Umverteilungsaufgaben von Arbeit und deren Ergebnissen nicht zu. Entscheidend für die Lebensfähigkeit solcher Projekte wäre schließlich die Frage der Bezahlung, der Transfers. Soziale Betriebe etwa oder Arbeitslosenpools oder Gemeinschaftshöfe wären da nur Einzelfallösungen, Tauschringe gar steuerrechtlich bedenklich.

Peter Müller, Sabine Schwerin, Werner Becker und Roland Blaschke halten dennoch an ihrer aufklärerischen Absicht fest. Hinter dieser steckt ja nicht nur die Reaktion auf ein Arbeitsmarktchaos, das nur noch den Ausweg in die amerikanische Schuhputzergesellschaft aufzeigen kann. Es geht auch um alternative, eigentlich uralte Lebensentwürfe jenseits des allein verbliebenen Sinns, möglichst unbegrenzt am Wachstum der materiellen Güterproduktion teilzuhaben. "Eine Mittelform zwischen Bill Gates und Mutter Theresa finden", so Blaschke. Damit das nicht nur einzelnen Spinnern möglich wird, wäre die Einführung einer sozialen Grundsicherung erste Voraussetzung. Noch vor Kurt Biedenkopf, der dabei vor allem an die spätere Rente der heutigen Billigarbeiter denkt, hieß das 1982 bei den autonomen Arbeitslosen "Existenzgeld". Alle Parteien reden darüber, die PDS will sogar angemessene 1.500 Mark, aber ernsthaft geht diese Revolution niemand an. Zu viele, wenn sie nicht gerade Kinder aufziehen oder Verwandte zu pflegen haben, könnten darin auch eine Chance zur Selbstbesinnung, Selbstbestimmung, zu sabbatjahrähnlichen Regenerationsphasen erblicken. Ein bißchen Samba soll bei Rabota eben auch dabei sein, so die Intention der Kampagnenstifter. Natürlich eine Gefahr für den Turbokapitalismus. Auf der bescheidenen kommunalen Ebene scheinen Anfänge zumindest in Richtung Bürgerarbeit möglich: existenzsichernde Bürgerarbeit, die über Projektförderungen beispielsweise der Bürgerstiftung hinausgeht.

Ein bißchen, so scheint es, haben die Initiatoren noch Angst vor der eigenen Courage. Sie wissen, daß sie vorerst nur wenige erreichen werden. Seit einem halben Jahr kursieren erste Gedanken und Thesenpapiere zu einem solchen Subsystem. Zum Robert-Jungk-Jahr 2000 soll es mit Hilfe der Heinrich-Böll-Stiftung eine richtige Kampagne werden, soll im Dresdner Rundfunk eine "Zukunftswerkstatt Arbeit" die breitere Öffentlichkeit zu neuen Überlegungen inspirieren.

Aus: SAX, Dezember 1999