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Europa verraten! Gegen jedes Deutschland!
Aufruf zur Demonstration “Deutschland verraten! Kapitalismus abschaffen!“ am 3.Oktober 2003 in Berlin
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Am 3. Oktober begeht Deutschland den Tag der Einheit. Dieser Tag gab für die antinationale Linke insbesondere in den 90er Jahren den Anlass, um vor der Konstitution eines „Vierten Reichs“ zu warnen. Mit der Wiedervereinigung, so dachte man, würde ein Deutschland restauriert, welches ungebrochen an die Tradition von Kaiserreich und Nationalsozialismus anknüpft und demzufolge auf herkömmliche Weise versucht, Weltmacht zu werden.
Heute wissen wir, dass sich mit dem Aufstieg Deutschlands zur Großmacht nicht alle düsteren Prognosen erfüllt haben. Zum Guten gewendet hat sich nichts. Der deutsche Relaunch verläuft erfolgreich. Dass dies so ist, liegt gerade darin begründet, dass er nach außen und innen als demokratisches Gegenstück zum NS, als Lernprodukt aus der Vergangenheit inszeniert und vollzogen wird. Das heutige Deutschland integriert völkische Tradition und modernen Standortnationalismus. Wenn es mit Hilfe dieser Mixtur anhebt, zum dritten Mal nach der Weltmacht zu greifen, dann nicht als blinder Wiedergänger der Geschichte. Nicht durch Zwang und bloße militärische Niederwerfung macht man sich das Ressourcenpotential des Kontinents zu eigen. Europäische Integration und EU-Erweiterung gelten bisher als der effizientere Weg. Und ebenso baut man im Willen, den weltpolitischen Einfluss Deutschlands auch gegen die Weltordnungspolitik der verbliebenen Supermacht durchsetzen zu können, auf den europäischen Verbund.
Europa ist das deutsche Projekt der Stunde. Für die Linken, die sich weder vom antinationalen und sozialem noch vom zivilen Schein der Europakonzeption blöde machen lassen, sollte es eine Notwendigkeit sein, am Nationalfeiertag dieses Projekt öffentlich als das bloßzustellen, was es für Deutschland ist – ein Vehikel zur Optimierung der Kapitalakkumulation und zur Vermehrung seiner Weltgeltung.

Stationen des Aufstiegs

Vor 13 Jahren wurde der deutsche Nachkrieg, der den besiegten TäterInnen im westlichen und östlichen Schaufenster der Systemkonkurrenz einen beschaulichen Wiederaufstieg ermöglichte, von der Aufhebung der staatlichen Teilung gekrönt. Nachdem Millionen von Menschen hinter der Parole „Wir sind ein Volk“ für den Anschluss der DDR an die BRD auf die Straße gegangen waren, vollendete sich am 3. Oktober 1990 die Einheit unter völkischen Vorzeichen. Der allgegenwärtige nationale Taumel war zu Recht Grund für die schlimmsten Befürchtungen. Tatsächlich war in den nächsten Jahren das Ausmaß der gesellschaftlichen Selbstfindung und der politischen Regression atemberaubend: Rassistische Mörderbanden wüteten im ganzen Land, im Eiltempo marschierten deutsche Truppen an die Frontschauplätze der neuen Weltordnungspolitik und schier unaufhaltsam wurde der Osten ökonomisch und ideologisch durchdrungen.
Deutschland zeigte sich als souveräner Staat. Vorbehalte und Schutzmaßnahmen der alliierten BezwingerInnen des Nationalsozialismus, die den postfaschistischen Staat zu – zähneknirschend ertragenen – außenpolitischen Beschränkungen zwangen und ihm nach innen die demokratische Selbstdisziplinierung nahe legten, verloren nun ihre Bindekraft. Während im Inneren die brennenden Flüchtlingsunterkünfte von Hoyerswerda und Rostock und die ermordeten MigrantInnen von Mölln und Solingen von der Feuertaufe des Deutschland-Einig-Vaterland kündeten, machte sich der demographische und wirtschaftliche Koloss in der Mitte Europas auf den Weg, seiner Macht auch nach außen wieder Geltung zu verschaffen. Kein Jahr sollte mehr vergehen, in dem nicht materielle, rechtliche und militärdoktrinäre Veränderungen vollzogen wurden, welche die Expansionsschritte der Deutschen anzeigten. Im Zuge der immer selbstbewusster vollzogenen Interessenpolitik wurden die geschichtspolitischen Konsequenzen aus der verbrecherischen deutschen Vergangenheit im Sinne der neuen Ziele uminterpretiert. Die noch Anfang der 90er Jahre aufrechterhaltende Aussage, „dass wir aus Gründen geschichtlicher Erfahrung keine deutsche Soldaten (...) in das frühere Jugoslawien“ schicken (Kohl, Dezember 1994) – schon damals angesichts deutscher Subversionstätigkeit auf dem Balkan eher von begrenzter symbolischer Bedeutung – wurde mit den Tornados über Ex-Jugoslawien, der Beteiligung an den schwerbewaffneten IFOR- (1995) und SFOR- (1997) Truppen vollends zur sinnentleerten Makulatur.
Die eigentliche Innovationsleistung gelang aber dem rot-grünen Regierungsprojekt, welches die Erinnerung an Auschwitz zum benutzerfreundlichen Argumentationsmuster für deutsche Interventionspolitik herabwürdigte. Im März 1999 meldete sich Deutschland kriegsverwendungsfähig. Von wenigen absolut marginalen Antikriegsprotesten abgesehen, erklärten sich Politik, Medien, Militär und Mehrheitsbevölkerung damit einverstanden, dass deutsche Interessenvertretung das Ausführen von Angriffskriegen mit einschließt. Im Kriegsfall kennt Deutschland keine Opposition und die in der Regierungsverantwortung angekommenen Teile der 68er-Generation erweisen sich als absolut zuverlässige sowie zielstrebige SachwalterInnen der Nation. Mit neuer Unbefangenheit und aufrechtem Gang – so die Selbstwahrnehmung der Berliner Elite – zielt der Staat jetzt auf weltweite Einflusssicherung und nimmt in zunehmenden Ausmaß den Konflikt mit anderen westlichen Industriestaaten, insbesondere mit den USA und Großbritannien in Kauf. Dabei baut die neue deutsche Dreistigkeit auf dem Projekt einer europäischen Großmacht.

Europa als Strategie

Schon lange war klar, dass die Europäische Union nicht zum Schaden des deutschen Kapitals eingerichtet wird. Insbesondere konnte sie von der Schaffung des gemeinsamen Binnenmarktes und dem damit verbundenen Wegfall von Handelshemmnissen profitieren. Die europäische Integration lässt sich nicht zuletzt als fortwährende Öffnung riesiger Absatzmärkte für die deutsche Exportindustrie beschreiben. Die vertiefte Kooperation diente darüber hinaus der Steigerung der internationalen Konkurrenzfähigkeit. Die Bildung multinationaler Konzerne und die staatlich angestoßene Konzentration von Forschung und technologischer Zusammenarbeit ermöglichten den rationelleren Einsatz vorhandener europäischer Ressourcen. In einem solchermaßen gestärktem Wirtschaftsraum steigen die Chancen für das deutsche Kapital, im europäischen Verbund auf dem Weltmarkt gegen die Konkurrenz aus Asien und den USA zu bestehen.
Darüber hinaus wurde im Rahmen der europäischen Wirtschaftsliberalisierung – und mit der Berufung auf die von ihr angeblich ausgehenden Sachzwänge – ein Umstrukturierungsprozess in Gang gesetzt, in dessen Folge deregulierte und flexibilisierte Arbeits- und Lebensverhältnisse die sozialstaatlichen Kompromisse der Wirtschaftswunderzeit verdrängten. Nicht minder profitabel erweist sich die EU-Osterweiterung. Mit ihr stabilisieren sich für das deutsche Kapital die institutionellen Voraussetzungen bei der Nutzung der ehemaligen Ostblockstaaten als Absatzmärkte und Gebiete für Direktinvestitionen. Bereits seit den 90er Jahren machen die Deutschen hier prächtige Geschäfte. Ganz Deutschland – von den AktienbesitzerInnen der Volkswagen-AG bis zum Heer der SchnäpchenjägerInnen und Freier – erfreuen sich am niedrigen Lohnniveau. Und nicht nur das. Für viele deutsche NutzerInnen des Billiglohns ist der niedrige Wert der Ware Arbeitskraft in Osteuropa Folge und Beweis minderwertiger rassischer Qualitäten. Auch der langjährige Kapitalexport der deutschen Industrie erbringt anderes als nur ökonomischen Mehrwert. Durch die Einbindung ganzer osteuropäischer Wirtschaftszweige in eine von deutschen Konzernen organisierte Arbeitsteilung erwachsen Abhängigkeiten, die letztendlich auch die politische Souveränität der betroffenen Staaten mindern. Weil Polen im Irakkonflikt auf der Seite der USA steht, erinnerte der deutsche Europa-Kommissar, Günther Verheugen, Warschau daran, wo in Zukunft der Hauptabsatzmarkt polnischer Produkte ist und von wem sie in Zukunft finanzielle Wirtschaftshilfen bekommen. Oder eben nicht. Der deutsche Botschafter in Belgrad fordert die serbische Regierung auf, ihre Entscheidung, das größte Stahlwerks des Landes nicht an deutsche InteressentInnen, sondern an die meistbietenden amerikanischen AnbieterInnen zu verkaufen, rückgängig zu machen, und droht bei Zuwiderhandlung mit einer Zurücknahme des in Serbien bereits wirtschaftlich entscheidenden deutschen Investitionsaufkommens. Leicht vorstellbar werden die möglichen politischen Folgen der deutschen Kapitalexpansion auch bei der Betrachtung des Zeitungswesens in Ländern wie Polen, Ungarn, Tschechien, Bulgarien und Kroatien. Bis zu 90% der dortigen Zeitungstitel werden von deutschen KapitaleignerInnen vertrieben. Als das tschechische Parlament die Forderung nach Aufhebung der Benes-Dekrete zurückwies, reagierten viele Kommentatoren des deutsch dominierten Zeitungsmarktes mit beißender Kritik auf die „Prager Anmaßung“. Auch wenn die deutschfreundliche Berichterstattung heutzutage seltener auf direkten Manipulationsdruck zurückzuführen ist, wird doch klar, dass die Besitzverhältnisse bei der Meinungsfindung immer ein Wörtchen mitzureden haben. Und nicht zuletzt sollten kritische Stimmen aus Polen aufhorchen lassen, welche die Verquickung von Kapitalexport und politischer Einflussnahme Berlins in Anspielung auf Konzepte deutscher Geopolitik als „Drang nach Osten“ bezeichnen, der einer Kolonialisierung gleiche.
Zweifelsohne, mit der Osterweiterung der EU gelingt Deutschland die Schaffung eines Hinterhofes und damit die Verwirklichung eines Ziels, mit dem es in zwei Weltkriegen gescheitert war. Die gebetsmühlenartige Wiederholung der Phrase, der NS-Nachfolgestaat hätte seine Lehren aus der Vergangenheit gezogen, hat also durchaus einen realen Kern. Der wiederholte Versuch, nicht nur auf dem Kontinent den Einfluss zu mehren, sondern überhaupt wieder Weltgeltung zu erlangen, wird auf dem Weg der europäischen Integration vorangetrieben. Damit fließen in das Projekt Europa allerdings auch verschiedene Ansprüche und Projektionen ein. Einerseits dient es dazu, die ökonomische Regulation der Kapitalakkumulation zu organisieren und die Ausgangsbedingungen des europäischen Kapitals in der Weltmarktkonkurrenz zu verbessern. Europa wird aber in der Gegenwart auch immer öfter über den Interessenshorizont der Kapitalfraktionen hinaus zur Wunschvorstellung von einer Großmacht mit antiamerikanischer Stoßrichtung aufgeblasen. Beide Motivationsstränge führen im Rahmen des Vertiefungsprozesses zur Transformation nationalstaatlicher Souveränität an suprastaatliche Institutionen der EU. Auch wenn angesichts der weiterhin bestehenden starken Interessenunterschiede zwischen den europäischen Nationalstaaten nicht absehbar ist, ob die Integration in einem neuen europäischen Superstaat mündet, sind doch entsprechende Tendenzen, sei es die gemeinsamen Währungs- und Finanzpolitik oder die europäischen Abschottungspolitik gegenüber Flüchtlingen, überaus deutlich.

Aufrüsten gegen Amerika

Das Wunschkind für diejenigen, die in Europa gerne einen ebenbürtigen Widerpart zu Amerika sähen, heißt heute „Fortentwicklung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“. Wenn hierzulande begründet wird, warum Europa eine schnelle Eingreiftruppe für weltweite Militärinterventionen, eine zentrale Rüstungsagentur, bessere Truppentransportkapazitäten, ein eigenes Satellitennavigationssystem, moderne zielsuchende Munition und weitreichende Marschflugkörper u.v.m. benötigt, dann schwadronieren vom General bis zu den Ex-PazifistInnen der sogenannten Friedensforschungsinstitute alle im Jargon des Machtrealismus. In gewollter oder nicht-begriffener Analogie zum politischen Leitbild des Westens am Anfang des Kalten Krieges erhebt man das Ziel eines „Machtgleichgewichts“ zur zentralen handlungsleitenden Kategorie. Keine Woche, in der nicht eine Handvoll KommentatorInnen an der Debattenfront aus Gründen der Glaubwürdigkeit „unserer“ Sicherheitspolitik den militärischen Aufholbedarf Europas beklagt. Dies illustrierend tobt in den Grafiken der journalistischen Leitblätter mit der andauernden Gegenüberstellung der amerikanisch-europäischen Ressourcen, in der dichotomen Aufzählung von Bruttoinlandsprodukten, Einwohnerzahlen, Handelsanteilen, Militärausgaben und Währungsreserven bereits der Vorkrieg auf der Höhe der Zeit.
Der radikale Bruch im transatlantischen Bündnis oder gar die direkte Konfrontation bleiben zum Glück noch Wunschvorstellungen europäischer Heißsporne. Politik und Militär sind noch nicht soweit. Zwar hat man mit der Anti-Kriegsposition im Irak den bisher größten Dissens gewagt und deutlicher als bisher angezeigt, dass es Kerneuropa mit einem anderen Ordnungsmodell für den Nahen Osten und mit seiner weltweiten Interessenpolitik auch gegen die USA ernst ist. Andererseits wagt man den Bruch mit der NATO nicht und zeigt sich auch auf Konfliktfeldern wie der internationalen Handelsordnung oder der Position zur terroristischen Palästinenserorganisation Hamas kompromissbereit. Das Interesse, Weltmacht zu werden, wird nach 1945 mit der notwendigen Portion Kalkül verfolgt. Weder werden dafür die wirtschaftlichen Interessen mit den USA leichtfertig aufs Spiel gesetzt, noch ignoriert man das Auseinanderklaffen der sicherheitspolitischen Ressourcen. Zu einem Zeitpunkt, an dem man die stärkste Schutzmacht des weltweiten Verwertungs-Imperativs nicht ersetzen kann, kann man sie sich nicht zur ständigen Gegenspielerin machen. Das Verhältnis der Deutschen, der EuropäerInnen und der USA bleibt eins von Kooperation und Konkurrenz.
Allerdings bewegen sich die europäischen PropagandatrommlerInnen der Gegenmacht oft nicht in den rationaleren Gefilden ideeller GesamtkapitalistInnen. So ist zu erklären, dass sie unermüdlich und im vorauseilenden Gehorsam den Takt für die europäische Nachrüstung schlagen oder dem europäischen Konkurrenzprojekt realitätsverzerrende Lobeshymnen widmen. Die neue strategische Doktrin der EU, nichts anderes als Ausdruck eines weltweiten Interventionsanspruchs, gegebenenfalls präventiv und mit militärischen Mitteln, wird in ihrer Sprache zum humanitären Wundermittel gegen internationale Konflikte. Dabei ist es offensichtlich, dass die besondere Betonung ziviler, politischer und juristischer Maßnahmen zur internationalen „Konfliktbewältigung“ nur dem gegenwärtigen Kräfteverhältnis geschuldet ist. In einer Konstellation, die es der EU bzw. den jüngst durch ihre besondere Friedensliebe aufgefallenen kerneuropäischen Staaten erlaubt und geboten erscheinen lässt, militärische Mittel einzusetzen, schrecken diese davor nicht zurück. Als 1999 die Bundesrepublik Jugoslawien im sogenannten Kosovo-Krieg endgültig zerschlagen wurde, war die Erörterung des Angriffskriegs als völkerrechtswidriger Akt eine Marginalie innerhalb einer akademischen Randgruppe. Heute gelten hierzulande die, die sich nicht über die amerikanische Missachtung des internationalen Rechts und des Willens der Vereinten Nationen aufzuregen wissen, als politische AußenseiterInnen. Wie instrumentell das Selbstbild der Zivilmacht Europa ist, zeigt sich in der Gegenwart nicht nur an den europäischen Aufrüstungsinitiativen.
Über den ganzen Erdball verstreut stehen die Truppen Europas Gewehr bei Fuß: In Mazedonien führt die EU bereits das Kommando über die dortige Militärmission, in Bosnien ist die Übernahme der Befehlsgewalt beim Sfor-Einsatz geplant. Derzeit prüfen die StrategInnen der europäischen Sicherheitspolitik einen Truppeneinsatz in der ehemaligen Sowjetrepublik Moldawien. Ohne die Spur einer Debatte begann in diesem Sommer eine Militärintervention französischer Einheiten im Kongo, die von logistischer Hilfe der Deutschen unterstützt wird. Überhaupt gehört die Bundeswehr heute nach den USA und neben Großbritannien zu den größten TruppenstellerInnen bei internationalen Militärmissionen. Über 10.000 Soldaten befinden sich im Auslandseinsatz. Noch vor 10 Jahren wäre die Aussage des amtierenden Verteidigungsministers, „Deutschlands Sicherheit werde auch am Hindukusch verteidigt“, als schlechter Witz oder unglaubliche Rückwertsgewandtheit eines wilhelminischen Zombies betrachtet worden. Heute kennzeichnet sie die politische, gesellschaftliche und militärische Normalität. Der Erlass „Neuer Verteidigungspolitischer Richtlinien“ im Mai diesen Jahres, die den Umbau der Bundeswehr zur Offensivarmee mit globalem Einsatzgebiet festschreiben, findet so kaum die Spur eines Widerspruchs. Und auch die Ausweitung des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr wurde zu einem typisch deutschem Konsensprojekt. Die wenigen Ausnahmen von zarter Krittelei resultieren aus dem Ärger, den Entsendebefehl für die Armee im Einsatz nicht selbst unterschreiben zu dürfen.
Selbstverständlich besitzt auch die europäische Außenpolitik ein ganzes Arsenal ziviler Interventionskonzepte zur Durchsetzung ihrer Interessen: Entwicklungshilfe, Kulturinstitute, wirtschaftliche Zusammenarbeit, KonfliktbeobachterInnen und internationale Rechtsnormen – die Werkzeugliste der EuropäerInnen ist lang. Ihre Betonung angesichts einer Realität von Militäreinsätzen und Hochrüstung offenbart nicht nur, dass hier aus der Not militärischer Unterlegenheit eine Tugend gemacht werden soll. Vielmehr zeigt sich in der Aufbauschung von Zivilität als einem europäischem Wesensmerkmal ein gewichtiger ideologischer Überhang. Europa möchte als ethische Weltmacht erscheinen. Dies dient zur Legitimation der politischen Absichten und poliert das Identitätsangebot für die Bevölkerung auf, ohne deren Zustimmung und Mittun in der Weltmachtkonkurrenz kein Blumentopf zu gewinnen ist.

Europa einig Vaterland

Die Identifikation mit der Zivilmacht Europa fußt analog zur deutschen Nationalstaatsgründung auf einer Feindbildkonstitution. Bereits heute zeigt sich in der Abgrenzung vom amerikanischen Weltpolizisten, vom Turbokapitalismus des Sharholder Value ein kollektives Bindemittel, welches über die einzelnen europäischen Staatsnationen hinaus einen Zusammenhalt stiftet. Indem große Teile der Globalisierungskritik und der Friedensbewegung die Rivalität in der neuen Blockkonkurrenz nachzeichnen und sich mit ihrem positivem Verhältnis zur kerneuropäischen Regierungspolitik im Irakkonflikt oder zur sozialstaatlichen Tradition Europas auf der Seite der entstehenden Gegenmacht positionieren, werden sie statt zu VorreiterInnen eines emanzipatorischen Aufbruchs zu einem hilfreichen TrägerInnen der deutsch-europäischen Großmachtideologie. Kritische Potentiale, die sich gegen den zivilen und militärischen Imperialismus der EU wenden, verschwimmen mit der Masse antiamerikanischer EuropaprotagonistInnen. Und ebenso verschwinden die Positionen radikaler Linker, die neben dem Widerspruch zwischen europäischer Sozialstaatsideologie und der neoliberalen Realität auch noch den Zweck der einstigen Klassenkompromisse zu kritisieren wissen, im pluralen Getümmel. Dieser besteht nicht darin, das angenehmere Leben möglich zu machen, sondern dient dazu, auch nach Krankheit und Arbeitslosigkeit die Ware Arbeitskraft der Verwertung zuführen zu können. Zudem soll er für Ruhe an der Heimatfront, also für die Absicherung des kapitalistischen Status Quo sorgen.
Statt über eine deutliche Polarisierung die Position der Gesellschaftskritik überhaupt wahrnehmbar zu machen, wirkt ein Teil der Linken an der Durchsetzung kollektiver Identität mit. Und dies, obwohl die Linke bereits mehrmals Erfahrungen mit der Funktionsweise zivilgesellschaftlicher Mobilisierungen sammeln konnte. Als Anfang der 90er Jahre die ausländische Wahrnehmung der rassistischen Gewalt in Deutschland das Ansehen der Exportnation bedrohten, starteten hunderttausende Menschen mit ihren Lichterketten eine riesige Imageaktion für den bedroht gesehenen Standort. Dem besseren Deutschland war auch der Antifa-Sommer 2000 gewidmet. Mit der massenhaften Teilnahme an den „Gesicht zeigen gegen Rechts“-Kampagnen definierte die Nation ihr innenpolitisches Reinheitsgebot. Dem Selbstbild des modernen Deutschland, welches mit seiner Geschichte „genauso im Reinen wie die Franzosen“ sei (Joseph Fischer) und deshalb bereit für den weltpolitischen Aufbruch, waren die Nazis wieder einmal ein Risikofaktor.
Die Lichterkettenkampagne entsprang keinem kollektiven Antirassismus und begann alles andere als zufällig mit der Abschaffung des Asylrechts. Der Aufstand der Anständigen hatte nicht das ideologische Weltbild der Nazis zum Gegenstand und folgerichtig schlief er nach einigem propagandistischen Wirbel wieder ein. Übrig blieben neben einigen Aushängeprojekten der Zivilgesellschaft auch die „national befreiten Zonen“ des Ostens. Weil die Friedensbewegung gegen den Irakkrieg nicht vom Antimilitarismus motiviert war, erwächst daraus keine Kritik der europäischen Rüstungsprojekte. Was aber aus allen drei gesellschaftlichen Mobilisierungen erwuchs, war die Identifikation der BürgerInnen mit ihrem Staat.
In diesem Zusammenhang war es die Funktion der Friedensbewegung, während des Irakkrieges die Legitimation für das deutsche Projekt einer europäischen Gegenmacht plausibel zu machen und ihr die Anfänge von Loyalität zu beschaffen. Dabei war der Antiamerikanismus das zentrale Element, welches die Zustimmung breiter Bevölkerungskreise in Deutschland und anderswo zum Kerneuropaprojekt möglich macht. Für die Substanz einer europäischen Identität wird aber noch auf andere Zutaten gesetzt. So hofft man im Zuge der Diskussion um eine europäische Verfassung auf die Entwicklung eines diesbezüglichen Patriotismus. Noch mehr bräuchte es aber den positiven Bezug auf eine gemeinsame Geschichte Europas. Intellektueller Wegbereiter dieser Identitätskonzeption ist der deutsche Vorzeigephilosoph Habermas. In seinem Plädoyer für die europäische Geschichte erinnerte er die postfaschistischen Staaten des Kontinents und seine ehemaligen Kolonialmächte daran, dass sie nicht nur die BegründerInnen, sondern auch ursprünglichsten BewahrerInnen von bürgerlich-urbanen Lebensformen, Demokratie und Menschenrechten sind. Doch weil ihm die stolze Erinnerung an römisches Recht und Code Napoléon immer noch zu wenig dünkte, erklärte er auch den Holocaust zur europäischen Erfahrung. Dieser Vorstoß reiht sich in die auf vielen thematischen Feldern vollzogene Geschichtspolitik ein, welche die deutschen Verbrechen über einen europäischen Blickwinkel entwirklicht und relativiert. Jüngstes Beispiel dafür ist die Debatte über ein Vertriebenenmahnmal. Unabhängig davon, ob man hierzulande für eine Berliner oder eine andere Standortlösung votiert, wird die Schuld der Volksdeutschen am Vernichtungskrieg in der Betrachtungsweise einer „gesamteuropäischen Katastrophe“ (Johannes Rau) aufgelöst. Der Nutzen dieser Umdeutung ist ein mehrfacher. Indem die deutsche Schuld in einem pluralistischen Erinnern aufgeht und die historischen Ursachen für die Verbrechen des Nationalsozialismus in einer europäischen Leidensgeschichte vernebelt werden, wird eine positive Bezugnahme auf die Vergangenheit möglich. Über die Geschichte des deutschen Volkes, die nun als eine Opfergeschichte unter vielen erscheint, lässt sich ungebrochener nationale Gemeinschaft stiften.
Habermas’ Versuch zeigt aber auch, dass die geschichtspolitische Umdeutung das Vehikel für eine modernisierte europäische Kollektividentität werden kann. Der zentrale Mehrwert, den der deutsche Neorevisionismus abwirft, besteht unabhängig davon, ob er der traditionellen oder modernisierten Selbstvergewisserung der Nation dient: Aus der singulären Verbrechensgeschichte der Deutschen sollen sich für alle Ewigkeit nicht mehr politische Beschränkungen, stattdessen aber Normalität und moralisch besonders legitimierte Interventionsbefugnisse ableiten lassen.

Kein Frieden mit Deutsch-Europa

Der europäische Weg stellt sich derzeit als effizienteste Strategie zur Vergrößerung deutscher Weltgeltung heraus. Bis heute ist nicht absehbar, ob das Projekt Kerneuropa die Qualität eines Nationalstaates annehmen wird. Zweifelhaft, ob sich widersprüchliche Kapitalinteressen einem ideellen europäischen Gesamtinteresse fügen und ob sich aus Verfassungspatriotismus, Antiamerikanismus und „europäischer“ Geschichte eine adäquate Identität schmieden lässt. Absolut sicher aber ist, dass dieses Europa kein Projekt emanzipatorischer Veränderungen sein wird: An keiner Stelle weist es über die Zumutungen kapitalistischer Verhältnisse hinaus. In der sozialstaatlichen Befriedung von Klassengegensätzen, die immer mehr eine ideologische ohne materielle Entsprechung ist, schwingt die Affirmation der Grundlagen der kapitalistischen Organisation, die Bejahung von Staat und Kapital mit.
Die Festung Europa errichtet ihre Mauern zur Abschottung gegen die VerliererInnen des weltweiten Produktivitätsvergleichs in den Entwicklungsländern. Im Innern werden Flüchtlinge und MigrantInnen nach Nützlichkeitskriterien sortiert. Den einheimischen Bevölkerungen ist dies erneuter Beweis für die prinzipielle Minderwertigkeit der Diskriminierten. Mit kultureller, in Deutschland bevorzugt mit völkischer Pseudobegründung beteiligt man sich an der Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen oder macht sie ihnen ganz zunichte.
Die europäische Selbstkonstitution gegen das Feinbild Amerika enthält das der kapitalistischen Konkurrenz eigene Aggressionspotenzial. Noch spricht selbst in Deutschland die Mischung von Kalkül und Wahn gegen die Auslösung eines innerimperialistischen Weltbrandes. Doch die grundsätzliche Akzeptanz militärischer Konfliktlösung wird trotz der Selbststilisierung zum Friedensengel alles andere als in Frage gestellt. So erwächst inmitten der realitätsfernen Konstruktion einer deutsch-europäischen Moralität ein militärischer Koloss, dessen Rüstungsvorhaben bis in den Weltraum reichen.
Genauso wenig ist Europa ein antideutsches Projekt. Antiamerikanismus und Antisemitismus fließen ungebrochen in die Versuche der Schaffung einer europäischen Identität mit ein: Die USA und Israel gehören zu den zentralen Feindbildern europäischer Projektionen. Die KriegstreiberInnen und Verantwortlichen für die Neue Weltunordnung werden in Washington und Jerusalem verortet, während man in Berlin und Paris die GesandtInnen höherer kultureller Werte walten sieht.
Trotz der Tendenzen transformierter Identitäten leben die Elemente des völkischen Nationalismus im deutschen Regionalismus fort. Gerade weil es Deutschland schafft, Volk und Staat über modernen Standortnationalismus und traditionelle Blut- und Boden-Ideologie aneinander zu binden, verspricht der innere Friede auch angesichts der europäischen Integration und in der kapitalistischer Krise zu halten.
Das deutsche Kapital gehört zu den HauptprofiteurInnen der Wirtschaftsgemeinschaft. Im Osten gelang ihm die bisher stabilste Einrichtung eines Vorhofs, der nicht nur wirtschaftlich, sondern eben auch politisch in Abhängigkeit zum deutschen Patron gerät.
Und auf der Grundlage einer neorevisionistischen Offensive verliert Deutschland jegliche Skrupel, seine Interessen weltweit und mit allen Mitteln durchzusetzen.
Es gibt für eine antikapitalistisch-antideutsche Linke mehr als einen Grund, den deutsch-europäischen Großmachtambitionen die politische Praxis zu widmen. Vielmehr noch ist die konsequente Kritik an Europa Voraussetzung für die Entstehung einer linksradikalen Bewegung mit emanzipatorischen Veränderungspotenzial. Auch noch nach 13 Jahren gilt:
Links ist da, wo keine Heimat ist.
 

Für eine linksradikale Bewegung!
Gegen Antiamerikanismus, Rassismus und Antisemitismus!
 

BgR Leipzig, den 11. September 2003


Treffpunkt:
Für Leipzig: 12:30 Uhr, Connewitzer Kreuz (Bitte Autos mitbringen!)
Für Berlin: 15:30 Uhr, S-Bahnhof Hackescher Markt (Beginn 16:00)

subpage last updated: 22. September 2003