AZADI  RECHTSHILFEFONDS
für Kurdinnen und Kurden in Deutschland e.V.

Pressemitteilung

 

 

August 2011

 

23. August:
Erstes Verfahren gegen kurdischen Aktivisten nach § 129 b StGB vor Oberlandesgericht Frankfurt/M.

Am 23. August 2011 wird vor dem für Revisionsverfahren zuständigen 4. Senat des Oberlandesgerichts (OLG) Frankfurt/M. das erste Verfahren gegen einen kurdischen Aktivisten wegen mutmaßlicher Mitgliedschaft in einer "terroristischen ausländischen Vereinigung" nach § 129b StGB eröffnet. Ein Novum, seit der Bundesgerichtshof (BGH) in dem Revisionsverfahren von Vakuf M. am 28. Oktober 2010 entschieden hat, die Strafverfolgung nach 129b StGB auf die kurdische Bewegung – wie zuvor Angehörige islamistischer Organisationen, der linken türkischen DHKP-C und der tamilischen LTTE – auszuweiten. Mit dieser Entscheidung hatte der BGH seine Absicht, die bisherige Strafbarkeitslücke zu schließen, besiegelt. Die bisherige Rechtsprechung war davon ausgegangen, dass es sich bei dem so genannten "Funktionärskörper" der PKK um eine eigenständige "inländische" Vereinigung im Sinne des § 129 Strafgesetzbuch handelt. Diese Auffassung, die trotz Einführung des § 129b StGB im Jahre 2002 beibehalten wurde, hat der BGH geprüft und neu bewertet. Danach kann die in Deutschland tätige Teilorganisation der PKK nicht als eigenständig angesehen werden, weil diese kein ausreichendes Maß an organisatorischer und personeller Selbstständigkeit aufweise, sondern vielmehr abhängig sei von der ausländischen Hauptorganisation, deren Willensbildungsprozess sie vollziehen müsse und deren Mitglieder sich dem zu unterwerfen hätten. Neben der Vereinheitlichung der Strafverfolgungspraxis glaubt der BGH auch, nunmehr eine deutlichere Abgrenzung zwischen inländischen und ausländischen Organisationen hergestellt zu haben. Vor diesem Hintergrund ist das Verfahren gegen den Kurden zur Neuverhandlung an das OLG Frankfurt/M. zurückverwiesen worden.
Zur Vorgeschichte: Vakuf M. war am 1. Dezember 2009 in erster Instanz vom OLG Frankfurt/M. nach § 129 StGB wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer "inländischen" kriminellen Vereinigung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und 10 Monaten verurteilt worden. Der Senat sah es als erwiesen an, dass der Kurde von Juli 2004 bis Juni 2007 als PKK-Gebietsverantwortlicher in Deutschland tätig gewesen sei. Dieser Rechtsauffassung des OLG (inländische Vereinigung nach § 129 StGB) ist der BGH mit seinem Urteil entgegengetreten, insbesondere auch in dem Punkt, in dem das OLG gegenüber "einfachen" Mitgliedern im Gegensatz zu Kadern oder Funktionär_innen eine Abgrenzung vorgenommen hatte, was bis dahin jedoch allgemeine Rechtsprechung war. Vakuf M. befindet sich seit Juli 2010 auf freiem Fuß.
Die Einzelermächtigung zur Strafverfolgung des Kurden nach § 129b StGB hat das Bundesjustizministerium am 19. April 2011 erteilt.

Verfolgungsgeschichte

Die strafrechtliche Verfolgung kurdischer Aktivistinnen und Aktivisten hat in Europa, insbesondere in der BRD, Mitte der 80er Jahre begonnen, nachdem die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) am 15. August 1984 den bewaffneten Befreiungskampf gegen den türkischen Staat aufgenommen hatte. Der letzte große kurdische Aufstand in Dersim (türk.: Tunceli) war 1938 blutig niedergeschlagen worden. Die Gründung der PKK 1978 und die Aufnahme des Kampfes war die Folge jahrzehnte langer Unterdrückung, Verfolgung und Verleugnung der Existenz des kurdischen Volkes. Weil zunehmend auch die in Europa lebenden Kurdinnen und Kurden die PKK und ihre Ziele unterstützten, traten die verschiedenen Geheimdienste, insbesondere der türkische MIT, auf den Plan, um diese Unterstützung im Keim zu ersticken. Die deutschen Behörden waren selbstverständlich Teil der geheimdienstlichen Untergrundarbeit, in deren Folge Dutzende kurdischer Aktivistinnen und Aktivisten verhaftet und nach § 129a StGB angeklagt worden sind. Erinnert sei an den so genannten großen "Düsseldorfer Prozess" gegen ursprünglich 19 Kurd_innen, der 1989 begonnen hatte und im März 1994 mit der Verurteilung von vier verbliebenen Angeklagten endete. Eigens für diesen als größten in die Geschichte der deutschen Strafjustiz eingegangenen Prozess wurde eine ehemalige Polizeikaserne zu einem "bombensicheren" unterirdisch gelegenen Gerichtssaal für 8,5 Millionen Mark umgebaut.

PKK-Betätigungsverbot

Weil der türkische Staat Anfang der 90er Jahre in unverminderter Intensität und Brutalität gegen die Bevölkerung in den kurdischen Gebieten vorgegangen ist und hierbei auch deutsche Waffen und Panzer eingesetzt waren, haben Kurdinnen und Kurden ihren Protest auf die Straßen Deutschland getragen. Aus innenpolitischen Sicherheitserwägungen sowie aus wirtschaftspolitischen Interessen und außenpolitischen Rücksichtnahmen auf die Türkei, hat die damalige Kohl-Regierung 1993 das PKK-Betätigungsverbot verfügt.

PKK "nur" noch "kriminelle" Vereinigung

Nach einem Gespräch, das deutsche Politiker und Geheimdienstvertreter mit Abdullah Öcalan Mitte der 90er Jahre geführt haben, hat sich der damalige PKK-Vorsitzende explizit von gewaltsamen Aktionen in Deutschland distanziert und versichert, dass künftig auf die Anwendung von Gewalt verzichtet wird. Daraufhin haben die Strafverfolgungsbehörden die PKK von einer "terroristischen" (§ 129a StGB) zu einer "kriminellen" Vereinigung (§ 129 StGB) heruntergestuft. Seit etwa Anfang 1998 werden mutmaßliche Funktionärinnen und Funktionäre nach dieser Strafvorschrift angeklagt und verurteilt. In den vergangenen Jahren haben Staatsanwaltschaften jedoch zunehmend versucht, auch Verstöße gegen das Vereinsgesetz (§§ 18-20) nach § 129 zu ahnden.

PKK durch neue Rechtsprechung wieder "terroristisch"
Verhaftungen von Aktivisten mit § 129b-Vorwurf

Das Verfahren Vakuf M. wird Signalcharakter haben und sich auf die zu erwartenden Verfahren von Ridvan Ö. und Mehmet A. (beide am 17. Juli 2011 festgenommen) sowie Metin A. , der sich zur Zeit aufgrund eines Haftbefehls des Bundesgerichtshofs vom 18. Juli 2011 in Schweizer Auslieferungshaft befindet, auswirken. Alle werden verdächtigt, "Verbrechen" gemäß § 129b Abs. 1 in Verbindung mit § 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB begangen zu haben, indem sie sich sowohl im Bundesgebiet als auch im europäischen Ausland als Mitglieder in einer Vereinigung im Ausland beteiligt hätten. Sie sollen insbesondere Kaderaktivitäten in der (PKK-Teilorganisation) "Gemeinschaft der Jugendlichen", KOMALEN CIWAN ( KC) entfaltet und innerhalb der Europaorganisation "Kurdische Demokratische Gesellschaft in Europa" (CDK) Führungsfunktionen ausgeübt haben.

Kann es alle treffen?

Eine wichtige Änderung der Rechtsprechung bezieht sich auf die Aussage des BGH, dass es hinsichtlich der Struktur der PKK bzw. ihrer Nachfolgeorganisationen Hinweise darauf gebe,
n i c h t zwischen dem "Kreis herausgehobener Funktionäre bzw. Kader einerseits" und den "sonstigen Angehörigen" zu differenzieren. Bisher sei dieser Unterschied zwar gebilligt worden, doch nach neuer Einschätzung können die "außenstehenden weiteren Mitglieder der Gruppierung Unterstützer der Vereinigung" sein. Das bedeutet, dass auch, wer nicht dem Führungskreis der Organisation angehört, aber deren Ziele und Programmatik und Methoden kennt, sich der Vereinigung anschließt und in ihr betätigt, soll als deren Mitglied eingestuft werden. Es könne keine Einschränkung auf einen bestimmten Personenkreis innerhalb der Organisation (mehr) geben.
In der Konsequenz könnte – sollte das Verfahren gegen Vakuf M. im Sinne der Anklage verlaufen - die Situation eintreten, dass einerseits hohe Freiheitsstrafen für Kader drohen und andererseits für einen großen Personenkreis (die Verfassungsschutzberichte sprechen seit Jahren von 11 500 PKK-Mitgliedern in Deutschland) eine Grauzone zwischen legalen Aktivitäten und drohender erheblich verschärfter Strafverfolgung entsteht.
Der BGH selbst weist in seinem Urteil auf die große Zahl der "in Deutschland für die PKK und ihre Nachfolge- sowie Teilorganisationen aktiven Personen" hin und darauf, dass der Kreis "potenzieller Beschuldigter unter Umständen deutlich größer [als bei DHKP-C oder LTTE] werden" könne.
In den Pilotprozessen gegen DHKP-C-Leute gab es überwiegend Urteile zwischen 5 und 10 Jahren.
Bisher geahndete Verstöße gegen das Vereinsgesetz können nach der neuen Rechtsprechung nach § 129b verfolgt werden. In den DHKP-C-Verfahren beispielsweise sind legale Tätigkeiten (Demos, Veranstaltungen, Herausgabe von Zeitungen, Spendensammeln etc.) zu Aktivitäten im Rahmen einer terroristischen Vereinigung mutiert.

Ermächtigungen zur Verfolgung nach § 129b politisch motiviert

Bislang hat das Bundesjustizministerium in den Fällen M., Ö., A. und A. jeweils Einzelermächtigungen zur Strafverfolgung nach § 129b erteilt, d.h. es gibt zur Zeit (noch) keine allgemeine Ermächtigung. Sollte die erteilt werden, wäre mit einer erheblich ausgeweiteten Repression zu rechnen.
In verschiedenen juristischen Kommentaren wird primär auf die nun vereinheitlichte Rechtspraxis eingegangen und dies rechtlich detailliert erläutert, wobei politische Hintergründe oder Bewertungen nicht vorgenommen werden.
Gemeinsam ist den Beiträgen jedoch die Skepsis hinsichtlich der Anwendung des § 129b StGB auf den großen Kreis der möglicherweise Betroffenen.
Vermutlich werden die Staatsanwaltschaften vermehrt richterliche Anordnungen zu Überwachungsmaßnahmen nach § 129b (erweiterte Befugnisse der Strafverfolgungsbehörden) beantragen.
Aus Sicht zahlreicher StrafverteidigerInnen aber war und ist der § 129 äußerst fragwürdig, weil er in erster Linie dazu dient, politisch unliebsame Organisationen, Gruppen und Personen – seien sie in- oder ausländisch – auszuforschen, zu kriminalisieren, zu isolieren und letztlich zu marginalisieren. Insofern ist er ein Verfolgungsinstrument in Händen von Politik und Justiz. Mithin muss auch jede Verfolgungsermächtigung, die das Bundesjustizministerium (BMJ) erteilt, als politisch motiviert bezeichnet werden. Zwar werden die Gerichte letztendlich die Urteile fällen, doch ist die zuvor getroffene Festlegung des BMJ, eine Vereinigung nicht als Befreiungsbewegung anzusehen, sondern als "terroristisch" einzustufen, eine quasi Vorverurteilung und zweifellos politisch motiviert.>br> Letzten Endes hängt das Vorgehen der deutschen (bzw. europäischen) Strafverfolgungsbehörden gegen die kurdische Bewegung auch von der weiteren politischen Entwicklung ab. Alle friedenspolitischen Initiativen und demokratischen Lösungskonzepte, die PKK/KADEK oder KONGRA-GEL insbesondere im vergangenen Jahrzehnt zur Diskussion vorgeschlagen haben, sind sowohl von der Türkei als auch der EU nicht nur ignoriert, sondern gezielt torpediert worden. Und derzeit spricht nichts für eine politische Konfliktlösung; vielmehr sind die Signale in Richtung Krieg gestellt – auf der einen Seite mit militärischen und auf der anderen Seite mit den Mitteln des Strafrechts und der Repression.

August 2011

 


 
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