Die Militärschläge – so die offizielle Lesart – richten sich nicht gegen die afghanische Bevölkerung. Diese soll vielmehr von der „Schreckensherrschaft der Taliban" befreit werden. Wie schon der Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien soll uns auch der aktuelle Waffengang als humanitäre Aktion verkauft werden. George Orwells „Wahrheitsministerium" scheint erneut Vorbild für die Kriegspropaganda des Westens zu sein. Was hat die „zivilisierte Welt" der geschundenen Bevölkerung Afghanistans außer Krieg, Hunger und Zerstörung tatsächlich anzubieten? Die neuen Verbündeten im Kampf gegen den Terrorismus, die Nordallianz, sind jedenfalls alles andere als fortschrittliche oder demokratische Kräfte.
Im Jahr 1978 hatte ein Putsch die Demokratische Volkspartei Afghanistans an die Macht gebracht, die jedoch schon bald in rivalisierende Fraktionen zerfiel. Ein Jahr später unterstützten sowjetische Truppen eine dieser Fraktionen. Diese Intervention bildete den Auftakt zur afghanischen Tragödie von mehr als 20 Jahren Krieg und Bürgerkrieg.
Die Präsenz der „gottlosen" Rotarmisten verstärkte den Widerstand noch, der von verschiedensten Gruppierungen gegen die Regierung in Kabul und ihre brutalen und untauglichen Modernisierungsversuche geleistet wurde. Die USA sahen die Gelegenheit der Sowjetunion in Afghanistan eine Niederlage vergleichbar des eigenen Vietnam-Debakels zuzufügen. Die überwiegend reaktionär-islamischen Widerstandgruppen wurden zu „Freiheitskämpfern" gegen den Kommunismus erklärt. Über den CIA wurden die sog. Mudjahedin mit Geld, Waffen und Ausrüstung versorgt. Damals kamen auch Osama bin Laden und seine damaligen Gefolgsleute in den Genuss amerikanischer Unterstützung.
Der Krieg war für die Sowjetunion nicht zu gewinnen. Das zu einem großen Teil gebirgige Afghanistan ist militärisch kaum zu kontrollieren. Die Ausstattung der Mudjahedin mit amerikanischen tragbaren Flugabwehrraketen vom Typ Stinger fügte der sowjetischen Luftwaffe schwere Verluste zu. Die Rote Armee zog sich 1989 aus Afghanistan zurück. Die von ihr unterstützte Regierung Nadjibullah konnte sich noch bis 1992 halten, bevor sie gestürzt wurde.
Doch auch nachdem Afghanistan zum Schauplatz eines Stellvertreterkrieges zwischen den Supermächten geworden war, kehrte kein Frieden ein. Die siegreichen Mudjahedingruppen kämpften nun untereinander um die Macht. Dieser Konflikt forderte mehr Opfer und richtete größere Zerstörungen an als der vorangegangene Kampf gegen die sowjetische Besatzung. Der jahrzehntelange Bürgerkrieg hatte aus Afghanistan eines der ärmsten Länder der Erde gemacht. Millionen Afghanen leben in Flüchtlingslagern in Pakistan und im Iran.
In dieser Situation traten nun die Taliban als scheinbar neue, unbelastete Gruppierung auf den Plan. Unter der Parole „Frieden und Islam" eroberten sie in weniger als zwei Jahren etwa Dreiviertel des afghanischen Territoriums. Die Taliban (wörtlich „Studenten") entstanden in den Koranschulen der Flüchtlingslager in Pakistan. Dem pakistanischen Geheimdienst wird eine entscheidende Rolle bei der Entstehung der Taliban nachgesagt.
Die Taliban stützen sich überwiegend auf die Volksgruppe der Paschtunen, die knapp die Hälfte der afghanischen Bevölkerung ausmachen. Sie errichteten in den von ihnen kontrollierten Gebieten ein geradezu mittelalterlich anmutendes religiös-reaktionäres Regime. Die Frauen sind vollständig entrechtet, sie dürfen keine Berufe ausüben, keine Ausbildungen machen, nicht ohne Begleitung eines männlichen Familienmitglieds auf die Strasse gehen und müssen den Ganzkörperschleier, die sog. Burka, tragen. Der religiöse Wahn geht soweit, dass außer bestimmten geistlichen Gesängen jede Form von Musik untersagt ist. Drakonische Strafen und öffentlich Exekutionen sind an der Tagesordnung. Durch diese Politik haben die Taliban mittlerweile ihre ursprünglichen Sympathien bei der Bevölkerung wieder weitgehend verloren.
Die wichtigsten von den Taliban vertriebenen Kriegsfürsten kämpfen nun nicht mehr gegeneinander, sondern haben sich in der Nordallianz zusammengeschlossen. Diese kontrolliert mit ihren Truppen ca. 10% des afghanischen Territoriums im Norden. Sie findet Unterstützung vor allem bei den Tadjiken, Usbeken und anderen ethnischen Minderheiten. Ihr gehören keine Repräsentanten der größten Volksgruppe, der Paschtunen, an.
Mariam Notten von der „Revolutionären Assoziation afghanischer Frauen" sagt über die Nordallianz: „Es sind die alten Widerstandsparteien von Hekmatyar, Rabani und Dostum. Alle drei haben sind gegenseitig bekämpft, weil sie die alleinige Macht haben wollten – bis die Taliban die Herrschaft übernahmen. In ihrer Grausamkeit und in ihrer Einstellung zu Frauen sind diese Gruppen kein bisschen besser als die Taliban. Auch bei ihnen wurden Frauen verschleiert, sie durften nicht zur Schule, wurden gesteinigt." (taz vom 1.10.2001) Auch die Menschenrechtsorganisation „Human Rights Watch" warnt vor einer unkritischen Zusammenarbeit mit den neuen Verbündeten und veröffentlichte eine Liste mit Menschenrechtsverletzungen wie Massenexekutionen und ethnischen Verfolgungen durch Teile der Nordallianz. (www.hrw.org)
Doch diese Bedenken stoßen bei den Strategen des „Krieges gegen den Terror" auf taube Ohren. Zum wiederholten Male werden in Afghanistan die Feinde von gestern zu den Freunden von heute gemacht – und umgekehrt. Es waren die Interventionen von Sowjetunion und USA, die Afghanistan zu dem gemacht haben, was es heute ist. Weitere militärische Interventionen werden die Tragödie nicht beenden, sondern verlängern.
Wie wenig das Schicksal der afghanischen Bevölkerung die kriegführenden Staaten interessiert, zeigt nicht zuletzt der zynische und funktionalisierende Umgang mit den Flüchtlingsbewegungen und der sich abzeichnenden Hungerkatastrophe. Medienwirksam wirft die US-Luftwaffe neben Bomben auch kleine Nahrungsmittelpakete ab. Die Angriffe auf die Luftverteidigung der Taliban werden damit begründet, dass erst danach Hilfsflüge für die notleidenden Menschen möglich würden. Dabei ist doch völlig unbestreitbar, dass durch die Kriegsdrohungen und die Kriegshandlungen zusätzliche 1,5 bis 2 Millionen Menschen zu Flüchtlingen gemacht worden sind. Alle Beteiligten wussten und wissen, dass ihre Versorgung mit dem Notwendigsten nicht durch vereinzelte Abwürfe von Care-Paketen, sondern nur durch großangelegte Hilfsaktionen möglich ist, die nur im Frieden durchgeführt werden können. Im kommenden Winter sind Millionen Menschen vom Hungertod bedroht. Wer diesen „Kollateralschaden" verhindern will, muss die Kampfhandlungen sofort einstellen.
Aber was die Opfer von Krieg und Terror angeht, wurde schon immer mit zweierlei Maß gemessen ...