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Die Mobilisierung gegen den EU-Gipfel in Göteborg bewegt sich wie die Aktionen in den Jahren zuvor im Spannungsfeld von "Globalisierung" und "Europa", zwei Begriffen, die unterschiedliche Sachverhalte bezeichnen und verschiedene Dimensionen aufweisen, sich aber dennoch aufeinander beziehen lassen. Gerade die erste Dimension hat — weniger in der Bundesrepublik, dafür aber in einer Vielzahl anderer westlicher Industrienationen — in den vergangenen Jahren verschiedene Bewegungen hervor gebracht, die mehr oder weniger ausdrücklich die kapitalistischen Verhältnisse in das Zentrum ihrer Kritik gerückt haben. Vor allem die "Anti-Globalisierungsbewegung" ist nach den Protesten gegen den WTO-Gipfel in Seattle zum Symbol für eine internationale Bewegung geworden, in der linke Positionen zumindest Relevanz haben. Gleichermaßen hat, weil dieses Bild mit der Realität und Unterschiedlichkeit der einzelnen Bewegungen nicht immer etwas zu tun haben muss, ein Prozess begonnen, in dem Fragen nach der genaueren Bestimmung des Begriffes "Globalisierung" an Gewicht gewonnen haben.


eurobeat

Man kann es drehen und wenden, wie man will, Europa mag eine Projektionsfläche für vielfältige Visionen und Angstszenarien sein — in keinem Fall ist es ein Thema, das nicht in der einen oder anderen Weise die öffentlichen Diskussionen kontrovers berührt. Viel ist die Rede vom Euro, von neuen globalen Märkten, die zusammen wachsen und Menschen, die ihnen gleichtun. Viel wird gesprochen von Aufgaben, die nach gemeinsamen Anstrengungen rufen, vielfach geht es um Lösungen für Probleme, die inszeniert werden, damit sie gelöst werden können.

Regierungen starten Werbeoffensiven, das europäische Aufgaben- und Überraschungspaket ihren Bürgerinnen und Bürgern nahe zu legen, Innenminister diskutieren über gemeinsame Maßnahmenkataloge zur Bekämpfung so genannter organisierter Kriminalität, Justizminister fordern einheitliche Rechtsstandards, Außenminister fordern eine europäische "Verteidigungsdoktrin", deren Anfänge im Krieg gegen Jugoslawien bereits zu besichtigen waren. Mit anderen Worten und darüber hinaus: Jenseits der bewusst erfahrenen Lebensrealität ist Europa in den Köpfen längst angekommen — als bürokratischer Wasserkopf in Brüssel, als übernationale Gerichtsbarkeit, als Chiffre für vielfältige Chancen, Probleme und Zwänge, als Währung, als Idee und nicht zuletzt — das ist die andere Seite der Geschichte — als Abschottungs- und Gefährdungsgemeinschaft, deren Insassen sich gegen die, die nicht dabei sein sollen, immer perfekter abschirmen.

Die Kritik an dieser vielschichtigen Entwicklung, die nicht ganz zufällig mit dem Widerstand gegen die "Globalisierung" zusammen fällt, formuliert sich am deutlichsten im Zusammenhang mit den Gipfeln und Events dieses Europas. So wird es nach den Mobilisierungen gegen die EU-Gipfel in Essen 1994, Amsterdam 1997, Köln 1999 oder Nizza 2000 auch in diesem Jahr sein, wenn sich die Regierungschefs, Außenminister und ein ganzer Tross von Staatssekretären und Verwaltungsbeamten vom 14. bis zum 16. Juni in Göteborg versammeln werden, um auf dem Gipfel die "left overs" von Nizza klein zu arbeiten. Thematisch wird es dabei vor allem um die notwendigen Umstrukturierungen innerhalb der EU gehen, um die Gewichtung der Stimmanteile, die den einzelnen beteiligten Staaten zukommen, um die Fragen der Osterweiterung eines politischen Projektes, das in seinem Ursprung für weitaus weniger Mitglieder angelegt war und perspektivisch 20 und mehr Mitgliedsstaaten umfassen soll und nicht zuletzt an zentraler Stelle um Fragen einer einheitlichen europäischen Sicherheits-, Verteidigungs- und Flüchtlingspolitik.

Gegen diesen Gipfel gibt es eine europaweite Mobilisierung, die von verschiedenen Bündnissen getragen wird und in der ein Gegengipfel und verschiedene Aktionen vorbereitet werden. Wie bereits anlässlich der vorhergehenden Gipfel soll es dabei, so das Bündnis linker und linksradikaler Gruppen, um die Formulierung einer grundlegenden und radikalen Kritik an den kapitalistischen Ausbeutungs-, Herrschafts- und Repressionsstrukturen gehen, die sich innerhalb der Europäischen Union entwickelt haben und noch entwickeln werden.

Auch wenn wir diese Kritik teilen und die Idee einer europaweiten Mobilisierung gegen dieses wie auch andere Großereignisse richtig finden, werden wir uns nicht direkt daran beteiligen, sondern uns stattdessen zeitlich parallel in Hamburg an Aktionen und Veranstaltungen beteiligen und sie inhaltlich zum Ereignis in Göteborg in Beziehung setzen. Denn so persönlich befriedigend es sein mag, gemeinsam mit vielen Menschen am Ort des Ereignisses linke Kritik an den Verhältnissen zu formulieren, so deutlich scheint das Manko solcher Mobilisierungen doch darin zu liegen, sie in die Realität vor Ort rückzuübersetzen. Genau dies ist die Idee bei den Aktionstagen in Hamburg. Auf welcher inhaltlichen Grundlage sich dabei bewegt werden kann, haben wir versucht in diesem Text zu skizzieren.

Im globalen Dorf

"Globalisierung" findet heute - so ist es dem allgemeinen Sprachgebrauch zu entnehmen — überall gleichzeitig statt. Der Verkehr von Waren und Informationen globalisiert sich, politische Entscheidungsstrukturen globalisieren sich, die Geschmäcker und Vorlieben globalisieren sich. Man soll auch schon von globalisierten Menschen gehört haben, die sich vorzugsweise auf internationalen Flughäfen zusammen tun, ihre Geschäfte über das "Internet" abwickeln und auch ansonsten einen völlig neuen Typus des vergesellschafteten Individuums darstellen. Dies ist in sehr groben Zügen die positive Vorstellung, die im Alltagsdiskurs von Globalisierung herrscht. Die negative Variante, die eigentlich ihre Ergänzung ist, heißt Globalisierung von Gefahren, wie Umweltverschmutzung, Kriminalität, Terrorismus und global agierenden Flüchtlingsströmen. Wie man es auch betrachtet, es bleibt ein quasi naturwüchsiger Prozess, der niederreißt, vereinheitlicht, unübersichtlich macht und unvorstellbare Chancen für eine gerechtere Welt in sich trägt — und das alles gleichzeitig.

Wer so etwas behauptet, kann nur Propaganda betreiben, wer es glaubt, ist selber schuld. Das gilt für Jene, die "die Globalisierung" begeistert umjubeln oder als Sachzwänge erzeugender Prozess mit kritischen Untertönen versehen wie auch für diejenigen, die in ihr die Projektionsfläche für all ihre Ängste vor einer Welt ohne sozialen Halt und Identität gefunden haben. Beides — die Vorstellung der Welt als "globales Dorf" wie das Gefühl, Teil einer globalen Gefährdungsgemeinschaft zu sein, gehört jedoch zusammen und man sollte vor allem misstrauisch werden, wenn sich wieder an irgendeiner Stelle etwas "globalisiert". Genau dieses Misstrauen gegenüber dem Begriff fehlt oft genug auch den "Gegnern der Globalisierung", denen es bis heute nicht gelungen ist, sich auf einen weniger schwammigen Namen zu bringen.

Nicht selten werden in der "Anti-Globalisierungsbewegung", in der sich sowohl linke Positionen als auch Regionalisten und Verteidiger des sozialen Wohlfahrtsstaates wieder finden, die positiven Bilder von "Globalisierung" einfach negativ gewendet. Umstritten ist dann nicht, ob es diese "Globalisierung" überhaupt in dem unterstellten Maße gibt, sondern einzig allein die Frage, wie der Prozess, den alle für ausgemacht halten, zu bewerten sei und auf welche Weise der "Globalisierung von oben" mit der "Globalisierung von unten" geantwortet werden muss.

Wenn jedoch "Globalisierung" weder als ein Begriff verstanden werden kann, der von Freihandel, den "Sieg der Demokratie" bis hin zu MTV alles und damit nichts bedeuten kann, noch als ein Prozess, in dem "der" Kapitalismus die (nationalstaatlichen) Sozialräume verengt und zerstört, muss er im Sinne einer treffenderen Kritik auf seine verschiedenen Formen untersucht werden: Neue Techniken der Informationsverbreitung, die Verallgemeinerung des westlichen Demokratiemodells, die Angleichung von Wert- und Konsummustern oder die Liberalisierung des Geld- und Warenverkehrs — all diese Prozesse bezeichnen dabei nicht nur unterschiedliche Sachverhalte, sie sind auch räumlich und zeitlich fragmentarisch und exklusiv zugleich. Sie vollziehen sich weder global im selben Tempo, noch setzen sie sich überhaupt global durch. So werden im Prozess, der Globalisierung genannt wird, ganze Weltregionen politisch und ökonomisch abgekoppelt, innerhalb der ökonomischen und politischen Zentren entstehen Inseln relativer Armut, die Angebote zum Mitmachen im "globalen Dorf" sind an zahlreiche Voraussetzungen gebunden: Geschlecht, Nationalität, Verfügung über Kapital. Der Prozess, der Globalisierung genannt wird, erzeugt somit faktisch eine Reihe von Ausgrenzungsverhältnissen, die global und innerhalb der nationalstaatlich organisierten Gesellschaften wirksam werden.

Trotz dieser Einschränkungen mag "Globalisierung" zumindest in ihrer ökonomischen Dimension oft als zweifelsfreie Tatsache gelten. Firmen werden durch Zusammenschlüsse zu multinationalen Unternehmen, die als globale Spieler in den Weltmarkt treten und oft genug mit der Drohung operieren, die Produktion kurzerhand an andere Standorte zu verlagern, wenn die Bedingungen stimmen. Die Geschichte des Kapitalismus allerdings war schon immer global, weil im Kapital selbst die Tendenz zu seiner grenzenlosen Verwertung angelegt ist. In der Praxis wurden und werden die Grenzen für diese Globalisierungsdynamik politisch in und von den Nationalstaaten gesetzt. Die spezifische Form der Grenzziehung bis in die frühen 90er Jahre hinein resultierte aus der in der Nachkriegszeit entstandenen bipolaren Aufteilung der Welt. In der Konkurrenz zwischen zwei politischen Systemen entstand in den westlichen Industrienationen eine stabile Struktur von Wohlfahrtsnationalstaaten, die sich durch mehrere gemeinsame Merkmale auszeichneten. In ihrem Inneren versprachen sie einen hohen Grad an materieller Sicherheit und sozialem Kompromiss. Das Wirtschaftsmodell des Keynesianismus als zentrale Ideologie stand für Massenkonsum und eine aktive Nachfrage- und Regulierungspolitik des Staates in einer vor allem binnenwirtschaftlich ausgerichteten Ökonomie.

Nach Außen hin legitimierte sich dieser "fordistische" Staat gegenüber allen nicht-kapitalistischen Gesellschaftsentwürfen gerade über seine Fähigkeit, gesellschaftlichen Konsens herzustellen und soziale Konflikte weitgehend stillzulegen. Global engagierte er sich politisch und militärisch im Wettstreit um den Ausbau von Macht- und Einflusssphären und die Verfestigung internationaler Ausbeutungsstrukturen. Dieser Typus des kapitalistischen Staates setzte in seiner Orientierung auf Sozialpartnerschaft und Ausgleich spezifische Grenzen für Kapitalverwertungsinteressen.

Nicht zuletzt aufgrund der Sättigung der nationalen Märkte, der zunehmenden globalen Verflechtung von Handels- und Kapitalströmen, der technischen Entwicklung, die nach neuen Produktionsformen verlangte und der sich abzeichnenden Endlichkeit von natürlichen Ressourcen, die bis dahin hemmungslos ausgebeutet wurden, geriet dieser Typus des kapitalistischen Wohlfahrtsstaates Anfang der 70er Jahre in eine tiefe Krise, die sich im Zusammenbruch des sozialistischen Machtblocks Ende der 80er Jahre noch einmal verschärfte. Der Siegeszug von Formeln wie "Deregulierung" und "Neoliberalismus" fällt in diese Phase: Sie bezeichnen politische Strategien, die in die Krise geratene kapitalistische Regulation wieder zu stabilisieren. In diesem Kontext ist Globalisierung weniger ein realer Prozess als ein Fetisch und Drohbegriff, hinter dem sich staatliche Strategien wie der Abbau von erkämpften sozialen Rechten, die Flexibilisierung von Arbeit und Arbeitsverhältnissen, die permanente Androhung von Produktionsverlagerung, die ideologischen Angriffe auf "Faulenzer" und "Drückeberger" oder die Mobilisierung der nationalen Standortgemeinschaft im internationalen Konkurrenzkampf legitimieren lassen.

Im europäischen Haus

Das Projekt der Europäischen Union lässt sich mit dem Begriff der "Globalisierung" verknüpfen, weil es auch hier um das Verhältnis zwischen Nationalstaat und Supranationalität, also der Herausbildung neuer globaler Formen der politischen Regulation, geht. Während in der "Anti-Globalisierungsbewegung" die Funktion der Nationalstaaten weitgehend ausgeblendet bleibt, hält sich die Kritik an der EU an dem Verhältnis kaum auf. Einigkeit herrscht in der Regel nur, was die Bewertung der repressiven Facetten der Europäischen Union betrifft. Und davon gibt es ohne Zweifel genug: Die in verschiedene nationale Varianten segmentierte Flüchtlingspolitik der "Festung Europa", die europaweite Vernetzung der Strafverfolgungsbehörden, das militärische Programm der Westeuropäischen Union (WEU), die angestrebte Ausbildung einer "gemeinsamen europäischen Wehridentität", die in nationaler Ausprägung höchst unterschiedliche politische Konsequenzen aufweisenden Strukturanpassungsprogramme, die unübersehbare Hegemonie Deutschlands in der EU. Dies sind Dimensionen des europäischen Einigungsprozesses, die in den vergangenen Jahren in ebenfalls unterschiedlicher nationaler Ausprägung zu Protesten geführt haben.

Am Bild, das die linke Kritik an Europa oft genug zeichnet, fällt jedoch zweierlei auf: Zum Einen wird unterstellt, es handle sich um gradlinige Prozesse, die im Inneren der EU konfliktfrei auf den Weg gebracht werden, zum Anderen bleibt bei aller richtigen Kritik am repressiven Charakter der "Festung Europa" weit gehend unreflektiert, dass der Kern des europäischen Projektes zuerst in der Schaffung einer einheitlichen wirtschaftlichen-, monetären- und erst daran anschließend einer politischen Union bestand. Diese Geschichte reicht bis in die 50er Jahre zurück, wo die ersten Verträge über eine gemeinsame Zollunion verabschiedet wurden. In den 70er Jahren kam es in einem zweiten Schritt nicht zuletzt unter dem Eindruck der Krisenerscheinungen des bislang stabilen Regulationszusammenhangs zu Diskussionen um eine gemeinsame europäische Währung. Die angestrebte Währungsunion war dabei auch eine direkte Reaktion auf den Zusammenbruch eines internationalen Währungssystems, in dem der US-Dollar stellvertretend für alle anderen Währungen an den Goldstandard gebunden war und damit einen stabilen Rahmen für die internationale Handels- und Finanzpolitik unter der politischen Führung der USA garantierte. Der Abschied von diesem System warf um so dringlicher die Frage auf, wie die europäische Integration in einen angestrebten gemeinsamen Markt zu vollziehen sei und vor allem, wie es gelingen könnte, die Kosten für Finanz- und Warengeschäfte nachhaltig zu senken.

Es geht also bei der Währungsunion, die jetzt — 30 Jahre später - endgültig realisiert ist, um zweierlei: Zum Einen um die Anpassung der ökonomischen Leistungen der einzelnen beteiligten Nationalstaaten, zum Anderen um einen Prozess, in dem die Bedingungen für die notwendigen Angleichungen politisch erst geschaffen werden müssen. Nicht zuletzt diesem Ziel dienten die im Vertrag von Maastricht formulierten Konvergenzkriterien, die in allen beteiligten Staaten mit Hilfe umfangreicher Deregulierungsmaßnahmen erfüllt werden mussten. Darunter fällt sowohl die als "Verschlankung des Staates" bezeichnete Privatisierung von Betrieben wie auch die Kürzung sozialer Leistungen, Maßnahmen, die nicht zuletzt im Verweis auf "Sachzwänge" politisch durchgesetzt werden.

Theoretisch lautet die Logik dieses Prozesses: Auf die Zollunion und den darin angelegten Wegfall kapitalhemmender Hindernisse folgt die Kosten senkende Währungsunion. Die Währungsunion wiederum drängt zur politischen Union. Faktisch jedoch vollziehen sich diese Prozesse nicht nacheinander, sondern parallel, nicht zuletzt, weil die höhere Integrationsstufe jeweils die Voraussetzung für die niedrigere Integrationsstufe darstellt. Ohne gemeinsame politische Entscheidungen jedenfalls konnte weder die Zollunion, noch die Währungsunion zustande gekommen. Der Vertrag von Maastricht stellt dabei in dieser Abfolge politischer Entscheidungen auf nationalstaatlicher Ebene einen qualitativen Sprung dar, weil hier zum ersten Mal die Realisierung der politischen Union eng mit der Vereinheitlichung der Währung verknüpft wurde.

Allein dieser kurze Exkurs mag die politischen Brüche andeuten, die den Weg der Europäischen Union bis heute kennzeichnen. Politische Einigungen werden nur in einzelnen Feldern erzielt und selbst sie sind mit nationalstaatlichen Privilegien, Zuwendungen und Kompromissen erkauft. Diese unterschiedlichen Interessenlagen und die hierarchische Grundstruktur der EU, auf deren Grundlage sie zur Verhandlung kommen, zeigen sich auch in der Diskussion um die EU-Osterweiterung. Die ursprüngliche Konzeption eines politisch und wirtschaftlich vereinigten Europas ist nicht zuletzt mit dem Zusammenbruch des realsozialistischen Machtblocks am Ende der 80er Jahre an ihre Grenzen geraten, um in den 90er Jahren in zwei gegenläufigen und sich dennoch einander ergänzenden Prozessen zum Ausdruck zu kommen. Zum Einen werden weiterhin die Bemühungen zur Integration "Kerneuropas" verfolgt, zum Anderen werden Strategien diskutiert, wie in einem "Europa der zwei Geschwindigkeiten" osteuropäische Beitrittskandidaten assoziiert werden können. Die aussichtsreichsten Anwärter auf eine EU-Mitgliedschaft, wie Polen, Ungarn oder Tschechien haben sich dabei weit reichenden "Strukturanpassungsprogrammen" unterziehen müssen, ein besseres Wort für die radikale Öffnung für den Weltmarkt und hemmungslose Deregulierung. Andere Länder, wie Rumänien, Bulgarien oder Albanien werden im Prozess der europäischen Konsolidierung voraussichtlich nicht einmal als Billiglohnstandort mitspielen dürfen, sondern schlichtweg abgekoppelt oder — finanziell alimentiert — auf die Rolle von Vorposten gegen unerwünschte Migration verpflichtet.

Zusammen gefasst ergibt sich damit ein Bild von Europa, das mehrere Dimensionen aufweist. Zum Einen stabilisiert sich in all diesen Prozessen ein nach außen gerichteter Abschottungszusammenhang, der allen Beteiligten unterschiedliche Rollen zuweist. Zum anderen vollzieht sich parallel im Inneren des EU-Projektes ein über nationalstaatliche Grenzen hinaus reichender Harmonisierungsprozess, der vor allem ökonomisch und sicherheitspolitisch stattfindet. In den Bestrebungen, gemeinsame Standards der Kapitalverwertung, der "Kriminalitäts- und Terrorismusbekämpfung" oder der militärischen Zusammenarbeit zu schaffen, wird immer wieder auch die Absicht deutlich, ein Ernst zu nehmender Akteur auf der Bühne des globalen Geschehens zu werden. Zum dritten erfolgt in diesem Prozess aber auch die Zunahme autoritärer Politikangebote im Inneren der einzelnen Nationalstaaten. Ausschließung und Integration, europäische Harmonisierung und Bedeutungszuwachs der Nationalstaaten sind damit Teile ein und desselben Prozesses.

Im Zusammenhang

Genau dieser auf den ersten Blick widersprüchliche Befund, der für den Prozess der "Globalisierung" wie auch für das Europäische Projekt gilt, verschwindet in der Kritik ein ums andere Mal. Sowohl im Begriff der Globalisierung als auch im Hinblick auf den europäischen Vereinigungsprozess ist in der Regel die Ansicht aufbewahrt, der klassische Nationalstaat sei angesichts der aktuellen Entwicklungen "entmündigt", "hilflos", im mindesten aber Opfer eines Prozesses, der von den "Herren der Welt" oder in multinationalen Konzernetagen ausgedacht wird oder gleich ganz ohne steuernde Zentren und Akteure auskommt. Dies ist beileibe keine exklusive Meinung von Konservativen und Nationalisten, die im Auge mit den drohenden Unübersichtlichkeiten an der Renaissance eines Nationenbegriffs arbeiten, der einem anderen Jahrhundert entstammt. Mit Abstufungen findet er sich auch in linken Positionen, die den Sozialstaat als Bastion gegen die unverhüllte Herrschaft des Kapitals verteidigen wollen.

Dabei kann von einem Funktionsverlust der Nationalstaaten in den beschriebenen Prozessen eigentlich keine Rede sein, denn es handelt sich eher um eine Repräsentationskrise, der mit einer Vielzahl neuer Funktionen beizukommen versucht wird. Insofern beschreiben "Neoliberalismus" und "Deregulierung" das Gegenteil ihrer wörtlichen Bedeutung: Statt Rückzug des Staates meinen sie die zunehmende innergesellschaftliche Durchstaatlichung. Diese direkte Einflussnahme zeigt sich an verschiedenen Punkten: Während der Abbau von Hemmnissen für die Verwertung des Kapitals propagiert wird, wird die Migration von Menschen auf vielfältige Weise unterbunden oder nach den eigenen "Bedürfnissen" reguliert. Während an die Selbstverantwortung appelliert wird, werden demokratische Mitbestimmungsrechte politisch in die Zange genommen. Während von freier Kommunikation in der vernetzten Welt gesprochen wird, werden die Begriffe "Sicherheit" und "Überwachung" zunehmend zu Leitmotiven des politischen Apparates. Dies sind und bleiben Aspekte, die in das Aufgabengebiet der Nationalstaaten fallen. Weil auch in den supranationalen Entscheidungsstrukturen die nationalstaatlichen Einzelinteressen nicht aufgehen, sondern noch direkter zur Geltung kommen, zeigt sich, dass die in vielen Debatten aufgemachte Alternative zwischen dem Nationalstaat und übernationalen Formen der politischen und ökonomischen Regulation am Kern der Entwicklung vorbei geht. Nicht der Takt der nationalstaatlichen Aufteilung der Welt ändert sich in den beschriebenen Prozessen, sondern allenfalls die Melodie. Dies findet auch innerhalb der einzelnen Gesellschaften seine Fortsetzung. So sind die heftigen politischen Auseinandersetzungen um die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts, die nationalistische Leitkulturdebatte und die rassistische Abschottungspraxis, die die politische Situation in Deutschland kennzeichnen, keine Widersprüche, sondern Bedingungen eines Prozesses, in dem "Vereinigung" und "Globalisierung" faktisch Ausgrenzung bedeuten. Dieses Ergänzungsverhältnis bedeutet, dass die politische und soziale Fragmentierung im Inneren der Gesellschaften wie auch in globaler Hinsicht die andere Seite der ökonomischen Globalisierung darstellt. Rassistische Politik, Standortlogik und die darin verwobenen nationalistischen Diskurse stellen das Bedingungsmuster dar, auf dem sich auch ein Projekt wie die Europäische Union entwirft.

Wer das Verhältnis zwischen Nationalstaaten auf der einen und den von ihnen besetzten supranationalen Entscheidungs- und Machtstrukturen auf ein Ausschließungsverhältnis bringt, kann somit nur in einem konservativen Diskurs landen, in dem der Nationalstaat nicht ebenfalls als Zwangsverband erscheint, sondern als Idyll. Die soziale Spaltung von Gesellschaften und die ethnische Aufladung von Konflikten erscheint dann nicht mehr als politisches Programm, sondern als letzte Meldung aus einer Welt, die es nicht mehr gibt, als politischer Atavismus.

Neoliberalismus ist dann nicht mehr ein politisches Programm, sondern eine Strategie des Kapitals, dem man ausgeliefert ist. Die Kritik an diesen Entwicklungen, muss sich also zunächst des Bildes entledigen, das nicht zuletzt in Gestalt der so genannten Sachzwänge von den Nationalstaaten selbst hervorgebracht wird.

Vom flachen Land zum Gipfelsturm

Wer den Gipfel stürmen will, muss dafür sorgen, dass die Luft nicht ausgeht, sonst bleibt der beste Protest in der Etappe stecken. Die Politik der "Anti-Globalisierungsbewegung" wie auch die Proteste gegen die Europäische Union und einzelne ihrer Dimensionen, sind durch eine starke Ausrichtung auf Events charakterisiert. Wenn sich die Praxis jedoch darin erschöpft, sind die vereinfachte Wahrnehmung und der ritualisierte Ablauf bereits angelegt. Auf der einen Seite finden sich dann anlassbezogen die Regierungschefs und Minister oder Manager, auf der anderen Seite die Bewegung, die den Apparat mit ihrer Kritik konfrontiert.

Dabei sind am gesamten Prinzip des Gipfelsturms vor allem zwei Dinge auffällig. Zum Einen lässt man sich auf die Logik der Inszenierung von Events ein, von denen man längst selbst ein Teil geworden ist, der in seiner radikalen Variante repressiv ausgegrenzt und in seiner konstruktiven Variante dialogisch vereinnahmt wird, wie die Videokonferenz zwischen dem Weltsozialgipfel in Porto Allegre und dem World Economic Forum in Davos Anfang diesen Jahres zeigt. Zum Anderen überlagert sich in der Konzentration auf die Gipfel nicht nur das eine oder andere theoretische Defizit, sondern auch die Abwesenheit radikaler linker Kritik an "Globalisierung" und "Europa" an den lokalen Orten, dort also, wo es Konsequenzen zu beobachten gibt.

Wie Widerstand gegen "Globalisierung" oder Europa beispielsweise in Hamburg aussehen kann, braucht dann nicht zu interessieren, wenn der Widerstand mehrere Male im Jahr auf einen Gipfel verlagert werden kann. Wie es scheint, besteht eines der größten Probleme dieser Bewegungen also weniger darin, Menschen für Kritik zu mobilisieren, sondern darin, diese Kritik in einen lokalen Bezug zu setzen. Wo das jedoch nicht gelingt, entstehen Gemeinsamkeiten, die oft weniger Gemeinsamkeiten sind, als die Reproduktion von Propaganda, die Regierungspressestellen vorformuliert haben. Und es entstehen Fragen, die heute auch in der Bewegung gestellt und nicht so recht beantwortet werden können. Mit wem mag man demonstrieren? Welche gemeinsamen Grundlagen kann es zwischen einer radikalen antikapitalistischen Kritik, Regionalisten und Verteidigern des Sozialstaates geben? Welche politische Praxis ergibt sich aus der globalen Durchsetzung des Kapitalverhältnisses?

Während nämlich die ökonomische Globalisierung in der Konkurrenz des Kapitals und der Nationalstaaten tatsächlich einen gemeinsamen Nenner aufweist, haben es Bewegungen, die Widerstand gegen diese Prozesse entwickeln wollen, schwer, sich selbst auf einen Nenner zu bringen, denn der Ort ihrer Kritik ist eigentlich nicht der Gipfel, an dem sie zusammen kommen und Globalisierung von unten demonstrieren, sondern die Verhältnisse vor Ort, aus denen heraus ihre Kritik entsteht. Und die sind vor allem unterschiedlich.

Stadt, Land, Fluss

Die dümmste Konsequenz, die aus der Besichtigung der Welt heute gezogen werden kann, lautet, Alternativen zum Kapitalismus seien schlichtweg undenkbar geworden. Dass aber der Kapitalismus den autoritären Staatssozialismus überlebt hat, beweist zunächst einmal nicht viel. Und dass die Linke politischen Entwicklungen vielfach ratlos, ohnmächtig oder auch nur marginalisiert gegenüber steht, beweist höchstens, dass sie zu klein ist, gegen die Gemeinheit zu kämpfen, wie es bei Brecht heißt.

Und diese Gemeinheit betrifft nicht nur den globalen Siegeszug des Kapitalismus als vorherrschende Vergesellschaftungsform, sondern ebenso die Vervielfältigung von rassistischen, sexistischen und sozialen Spaltungsprozessen, die in den kapitalistischen Verhältnissen entstehen, aber nicht einfach aus ihnen ableitbar sind.

Eine solche Totalität verlangt nach einer fundamentalen Kritik, die noch nicht formuliert ist. Sie wird sich weder damit begnügen können, den Nationalstaat als Bastion gegen "die Globalisierung" zu verteidigen, noch in einem vermuteten Ende der nationalstaatlichen Aufteilung den ersten Schritt zu einer Weltzivilgesellschaft zu begrüßen. Die Kritik und die Praxis, die sich aus ihr ableitet, wird nach dem inneren Verhältnis verschiedener Spaltungsverhältnisse fragen müssen. Sie wird sich darüber verständigen müssen, unter welchen konkreten Bedingungen soziale Kämpfe stattfinden.

Ohne Zweifel unterscheiden sich diese Bedingungen erheblich — nicht nur global, sondern selbst innerhalb der "Festung Europa". Von diesem Ort aus kann es deshalb nur darum gehen, diese Festung als realen Ort der Abschottung nach außen und als Metapher für ein Spaltungsverhältnis, das sich in das Innere der Gesellschaften fortschreibt, anzugreifen. Dies heißt, dass die Kritik eine Außen- und eine Innenperspektive hat. Die Außenperspektive ist die Herausbildung einer neuen globalen Architektur der Macht, in der die Europäische Union ihre politischen, wirtschaftlichen und militärischen Ambitionen deutlich macht. Die Innenperspektive ist die ihr zugrunde liegende nationalstaatlich verfasste Wirklichkeit.

Wenn Globalisierung und Supranationalität Entwicklungen sind, die sich auf dem Boden der nationalstaatlichen Aufteilung der Welt vollziehen, dann ist dies der Ansatzpunkt, Kritik vor Ort zu verankern und ein Prinzip in Frage zu stellen, statt seine aktuelle Gewandung. Abschottung, Überwachungsszenarien, politische Durchsetzungsfähigkeit, militärisches Potential, Formierung gegen äußere Gefahren — all dies sind keine spezifischen Entwicklungen, die im Projekt der Europäischen Union aufbewahrt sind. Sie gehören allesamt zum Prozess der nationalstaatlichen Herrschaftstechniken und haben ihre Grenzen immer dort gefunden, wo sich ein breiter gesellschaftlicher Protest Gehör verschafft hat. Kontinuierlich und lokal verankert.

gruppe arachne, mai 2001