Reader zur Veranstaltungsreihe der antirassistischen Gruppe Leipzig
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Antira heißt...

Analyse der Antira-Szene

Vorab

Der folgende Text soll einzelne Aspekte der bundesdeutschen linken Antira-Szene (kritisch) beleuchten. Dazu ist ein kurzer historischer Abriß zu Beginn notwendig(1).

Eine Auseinandersetzung mit dem Thema Rassismus fand in der Linken der BRD Mitte der 80er Jahre erstmalig statt(2). Bis dahin fand der Begriff Rassismus höchstens im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus, Südafrika oder der USA Verwendung. Bis dahin gab es weder ein Bewußtsein für den rassistischen Konsens in der Bevölkerung noch für den instutitionalisierten Rassismus des Staates. Erst aufgrund der Verschärfung der Ausländergesetze und -politik gründeten sich in den 80er Jahre einzelne Antira-Gruppen(3). Das Hauptaugenmerk lag auf staatlichem Rassismus, schließlich war er der Auslöser für das eigene Engagement. Die Gruppen verstanden sich oft als antiimperialistisch und/oder sozialrevolutionär (vor allem traf dies auf die Flüchtlingskampagne der Revolutionären Zellen/Rote Zora in den Jahren 1986-1989 zu(4)), d.h. zum einen wurde in den MigrantInnen das neue revolutionäre Subjekt, der verlängerte Arm der Befreiungsbewegungen im Trikont, erblickt, zum anderen galten die MigrantInnen als Opfer der Weltwirtschaftsordnung und der imperialistischen Staaten, wie es auch bei den deutschen ArbeiterInnen oder sozial marginalisierten in der BRD – wenn auch in abgeschwächter Form – der Fall wäre.(5) Das bedeutete auch, daß einige antirassistischen Gruppen die MigrantInnen nicht nur als Opfer, denen zu helfen sei, wahrgenommen, sondern als politische Subjekte ernst genommen haben. D.h. es gab etliche Versuche, eine gemischte Organisierung (Deutsche, MigrantInnen) auf die Beine zu stellen, die jedoch einige Jahre später für gescheitert erklärt wurde.

Parallel zur linken Antira-Bewegung entstanden zur gleichen Zeit bürgerliche FlüchtlingsunterstützerInnengruppen, die aus einer humanistischen Motivation heraus agierten, und feministische Antira-Gruppen, die vor allem Ergebnis der Auseinandersetzung um den Rassismus innerhalb der weißen Frauenbewegung waren. Die Analyse der eigenen Verstricktheit in Unterdrückungsverhältnisse wie den Rassismus war zwar wichtig, um einen gleichberechtigten Umgang mit MigrantInnen zu finden, barg allerdings auch immer die Gefahr der ins esoterische abdriftenden Nabelschau in sich.(6)

Ab 1990 erlebt die Antira-Szene ihren Aufschwung.(7) Im Zuge weiterer Verschärfungen im Ausländerrecht, der de facto-Abschaffung des Asylrechts (1993) und der damit einhergehenden rassistischen Hetze auf allen gesellschaftlichen Ebenen, gründen sich in vielen Städten Gruppen, die sich antifaschistisch und antirassistisch verstehen. In ihren Analysen und Aktionsformen vereinen sie, was sich erst später in Antira und Antifa trennen soll. Als Reaktion auf die rassistischen Pogrome erweitert sich zum einen das analytische Verständnis vom Rassismus – es ist erstmals vom Rassismus der Bevölkerung die Rede –, zum anderen rücken Flüchtlinge, die von Nazis überfallen und vom Staat abgeschoben werden, mehr in den Mittelpunkt des Interesses. Damit verschiebt sich allerdings auch die Wahrnehmung von Migration und MigrantInnen. Bei den Fahrwachen vor den Flüchtlingsheimen(8) oder der Unterstützung in asylrechtlichen Fragen werden die Flüchtlinge weniger als Subjekte wahrgenommen, die aufgrund ihrer politischen Überzeugung flüchten mußten oder als Armutsflüchtlinge die „soziale Revolte in die Metropole tragen“, sondern mehr als Objekte und Opfer, die unsere Hilfe benötigen, um den Frontalangriff von Staat und Bevölkerung abwehren zu können.

Ab 1993 setzt die Desillusionierung innerhalb der linken Antira-Szene ein. Die de facto-Abschaffung des Asylrechtes konnte nicht gestoppt werden, die politischen Rahmenbedingungen haben sich dadurch erheblich verschlechtert, weitere Gesetzesverschärfungen tun in Folge ihr übriges. Die pogromwütige Bevölkerung wird mittels Lichterketten gezähmt, die wenigen (oder im Osten: vielen) Nazis, die das nicht begreifen, werden der Antifa überlassen. D.h. die immer kleiner werdenden Antira-Gruppen beschäftigen sich in Folge fast ausschließlich mit dem staatlichen Rassismus. Die Arbeit wird professionalisiert und z.T. institutionalisiert. Mensch begibt sich in das weite Feld der Flüchtlingssozialarbeit – um da nicht mehr heraus zu kommen. Erst Mitte der 90er Jahre gibt es wieder Ansätze, antirassistische Arbeit auf ein breiteres Fundament zu stellen. Als bundesweite Events etablieren sich die alljährlichen Demonstrationen gegen die Abschiebeknäste und die Grenzcamps(9). Die Kampagne „kein mensch ist illegal“(10) schafft es, durch Bündelung von Gruppen aus verschiedenen politischen Spektren und innovative Aktionsformen, die Gesellschaft mit antirassistischen Standpunkten zu konfrontieren. Die Kampagne „kein mensch ist illegal“ stellt bislang den einzigen bundesweiten Aktions- und Diskussionszusammenhang für linke antirassistische Gruppen dar, der allerdings recht lose und unverbindlich strukturiert ist.

In den letzten Jahren beschäftigten sich etliche Antira-Gruppen mit der Unterstützung illegalisierter MigrantInnen, was wiederum die alten Debatten über Arbeitsmigration aufleben ließ. Darüberhinaus kam die Selbstorganisierung von MigrantInnen (The Voice, Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen) in den letzten Jahren voran, zu der sich auch die deutschen Antira-Gruppen verhalten müssen. Im Gegensatz zu den Anfängen der Antira-Bewegung kommt es heute aber kaum zu einer gemischten Organisierung, sondern mehr zu einer engen Zusammenarbeit der getrennt organisierten Gruppen.

Bis auf wenige Ansätze(11) gibt es keine adäquaten Reaktionen auf die Veränderung der Migrations- und Asylpolitik, die weniger als früher lokal, regional oder gar national bestimmt wird, sondern im europäischen Zusammenhang zu betrachten ist. Eine Vernetzung über Landesgrenzen hinweg läßt sich im Moment noch nicht ausmachen.

Sand oder Öl, Revolution oder Quark(12) - Revolutionärer Anspruch oder systemimmanenter Abfederung rassistischer Politik

Wie schon oben beschrieben herrschte Ende der 80er/Anfang der 90er ein verklärender Blick auf die Migrationsbewegungen vor. Flüchtlinge wurden als „revolutionäres Subjekt“ entdeckt, die als Ersatz für eigene Revolutionsträumereien, die allerdings aufgrund der eigenen Integration ins bestehende System nicht verwirklicht werden sollten, herhalten mußten.(13) Diese Träume zerplatzten allerdings recht schnell an der bundesdeutschen Realität. Antirassistische Praxis begnügte sich in Folge mit dem Backen kleiner Brötchen. Oft war die Betätigung sich als links verstehender Antira-Gruppen von der bürgerlicher Flüchtlingsorganisationen nicht mehr zu unterscheiden, mal abgesehen von der radikaleren Rhetorik und der unprofessionelleren Arbeitsweise. Erst mit den Aufflackern von bedeutenden Flüchtlingsprotesten in anderen europäischen Ländern (Sans Papiers in Frankreich, Stürmung der Abschiebeknäste in Italien etc.) keimten wieder leise und geläuterte Hoffnungen auch in der bundesdeutschen Antira-Szene. Es werden Überlegungen angestellt, inwieweit sich soziale Proteste der Marginalisierten in der Gesellschaft (MigrantInnen, Obdachlose, Behinderte etc.) zusammenführen lassen.(14)

Nichtdestotrotz bleibt zu konstatieren, das von den dem linken Anspruch der antirassistischen Gruppen nicht viel nach außen dringt. Viele Gruppen konstatieren zwar, daß ihre praktische Arbeit eher der Stabilisierung der herrschenden Verhältnisse dienlich ist, indem z.B. in der antirassistischen Sozialarbeit Spannungsverhältnisse gemildert werden, wissen jedoch nicht, wie sie diesem Dilemma entkommen können und machen deswegen mangels Alternativen weiter wie bisher.

Natürlich muß antirassistische Praxis mit dem Gegebenen vorlieb nehmen und Politik ist immer in einer gewissen Art und Weise Realpolitik. Allerdings darf dabei der linksradikale Anspruch nicht aus den Augen verloren werden. D.h. für uns zum einen, daß bei den Aktionen, der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit dies immer mit thematisiert werden muß und nicht etwas aus taktischen Gründen darauf verzichtet werden darf, darauf hinzuweisen, daß wir nicht Kritik an Auswüchsen des Systems sondern am System als solchen haben. Zweitens müssen sich die Gruppen der Verantwortung stellen, ihre Praxis ständig zu reflektieren und Perspektiven zu entwickeln, die vor den eigenen Ansprüchen Bestand haben. Zum dritten sind organisatorische Voraussetzung zu schaffen, die dafür sorgen, daß der linke Anspruch nicht zu kurz kommt. Das betrifft neben der Struktur der eigenen Gruppe, die z.B. Mechanismen entwicklen muß, der Sozialarbeitsfalle zu entkommen (siehe unten), auch die bundesweite(15) und internationale Vernetzung innerhalb der antirassistischen Bewegung sowie den Ausstausch mit anderen politischen Kräften.

50 ways to make: Sozialarbeit(16)

Viele linke antirassistische Gruppen erklären es als Voraussetzung ihrer Arbeit, Kontakt zu Flüchtlingen zu haben. Das mag auf den ersten Blick einleuchtend klingen, schließlich geht ja um Flüchtlinge.(17) Allerdings hat die Sache einen theoretischen und zwei praktische Haken. Rassismus ist ja in erster Linie nicht ein Problem der Flüchtlinge (in dem Sinne, daß sie das Problem darstellen oder dafür verantwortlich wären), sondern der Deutschen. D.h. antirassistische Politik heißt nicht per se Politik für Flüchtlinge und MigrantInnen(18), sondern gegen Deutsche bzw. deren Rassismus, gegen deutsche Behörden und deren Asylpolitik usw. Natürlich ist auch dafür gut zu wissen, was genau vor sich geht, wer wie von Rassismus betroffen ist. Unter diesen Umständen wäre der Kontakt zu den Flüchtlingen allerdings lediglich Mittel zum Zweck und nicht Selbstzweck – und somit zwar manchmal sinnvoll aber keinesweg erforderlich.

Die beiden praktische Haken dagegen werden auch von den antirassistischen Gruppen konstatiert, allerdings bleiben dies meist Lippenbekenntnisse ohne Auswirkungen auf die Praxis(19): Der Kontakt zu Flüchtlingen, der sich meist in Form von Sozialarbeit abspielt, hilft, staatliche Härten zu glätten bzw. Lücken staatlicher Politik durch unbezahlte Arbeit zu füllen und somit einen Beitrag der „Zuckerbrot- & Peitsche“-Taktik zu leisten. Diese Arbeit findet von Seiten der Behörden sogar das öfteren (in)offizielle Anerkennung.(20) Ein weiteres Manko der antirassistischen Sozialarbeit ist, daß sie meist alle (zeitlichen, finanziellen) Ressourcen der Gruppe auffrißt. Selbst Gruppen, die mit dem Anspruch angetreten sind, den Kontakte zu Flüchtlingen nur zu nutzen, um Informationen für die politische Arbeit zu gewinnen, versinken recht schnell in der Einzelfallhilfe und kommen zu nichts anderem mehr.(21)

Einige antirassistische Gruppen behaupten sogar, die Sozialarbeit wäre schon ein politisches Ziel an sich, denn sie sorgt dafür, daß einige Flüchtlinge dann doch hier bleiben können oder mehr Geld bekommen etc., was ja von Seiten des Staates mit aller Kraft verhindert würde. Sie deuten also jeden Beratungserfolg in einen Schlag gegen den Staat um(22). Wir sind da skeptisch: Sollte hier jemand wegen einer guten Beratung z.B. nicht abgeschoben werden, dann wird halt jemand anders an anderer Stelle mehr abgeschoben. Andererseits wäre es natürlich zynisch und nicht zu vertreten, zu fordern, die Flüchtlingssozialarbeit sollte eingestellt oder gar bekämpft werden – in der Hoffung, daß sich dann irgendwelche Verhältnisse zuspitzen würden. Daran glauben wir ja nicht. Sehr wohl denken wir aber, daß linke antirassistische Gruppen ihre Finger davon lassen sollten. Es wäre die Aufgabe der antirassistischen Gruppen zum einen darauf zu drängen, daß Sozialarbeit von Seiten des Staates (wo es in seinen Verantwortungsbereich fällt und er es auch nicht schlechter machen würde als wir) oder liberalen Flüchtlingshilfsorganisationen geleistet wird. Zum anderen sollte ein guter Kontakt mit den bürgerlichen Beratungsstellen gepflegt werden, der dafür sorgt, daß mensch auch an alle relevanten Informationen und Kontakte zu Flüchtlingen kommt. Von linker Seite sollte kein Kontakt zu Flüchtlingen nur wegen ihres Flüchtlingsstatus gesucht werden, sehr wohl aber zu denen, deren politischen Ansichten mensch teilt oder zumindest wo es das gemeinsame Interesse gibt, gegen rassistische Politik vorzugehen. In diesem Fall findet mensch sich also aufgrund politischer Aktivitäten zusammen und nicht zum Zweck der Beratung. Ganz klar ist, daß jenen MigrantInnen, mit denen mensch politisch zusammenarbeit, auch in rechtlichen und sozialen Fragen geholfen wird – nur ist das dann keine Sozialarbeit sondern Solidarität.(23)

Nadel im Nadelhaufen versus Reiht euch ein! Bevölkerung angreifen oder aufklären

Zu Beginn der 90er Jahre waren antirassistische Gruppen die ersten, die in ihren Analysen von einem rassistischen Konsens sprachen und die Linke für ihre Ignoranz gegenüber des Rassismus in der Bevölkerung oder gar der Inschutznahme der „manipulierten, fehlgeleiteten“ Bevölkerung kritisierten. Mit dem Aufkommen der Antinationalen/Antideutschen gerieten die AntirassistInnen allerdings ins Hintertreffen. Sie waren nicht mehr die VorreiterInnen, andere beschäftigten sich jetzt mit dem „Volk“ und mensch konnte sich ganz der „eigentlichen“ Aufgabe, dem staatlichen Rassismus, beschäftigen. Die antideutsche Kritik an der Linken ging an den antirassistischen Gruppen recht spurlos vorrüber, sie sorgte maximal für einige Verunsicherung, aber kaum für Diskussionen(24). Das ist umso verwunderlicher, da diese auch massiv von MigrantInnengruppen vorgetragen wurde.(25) Wahrscheinlich fühlten sich gerade die AntirassistInnen entweder persönlich angegriffen oder immun gegen Kritik, da sie ja genau die waren, die für sich in Anspruch nehmen, antirassistisch zu sein. Ein Rezeption der antideutschen und antinationalen Thesen hätte allerdings der Antira-Szene helfen können, ihr Verhältnis zur Bevölkerung mal zu klären. Dies ist diffuser als noch vor 10 Jahren. Auf jedem Grenzcamp werden große Diskussionsrunden zu dieser Frage einberufen und Aktionen, die angreifen und aufklären, liefern sich einen fairen Wettstreit, ein Ende der Debatte ist allerdings noch nicht abzusehen(26).

Wir denken, daß die antideutsche und antinationale Polemik an vielen Punkten richtig ist, aber eben als solche – Polemik, die polarisieren und nicht lähmen soll – zu verstehen ist. Analog zur schon oben gestellten Frage nach dem revolutionären Gehalt der antirassistischen Politik gilt auch hier, daß mensch sich immer vergegenwärtigen und benennen muß, daß die Bevölkerung nicht Freund sondern Feind ist.(27) Das darf aber nicht dazu führen, die Hände resignierend in den Schoß zu legen, vielmehr gilt es dann in Bündnissen, bei der Öffentlichkeitsarbeit, bei Angriff und Agitation eigene Positionen immer deutlich zu vermitteln, weil mensch weiß, daß sie im Widerspruch zu herrschenden Meinung stehen. D.h. es aber auch, sich von sozialromatischen Vorstellungen zu verabschieden, daß sozial deklassierten Deutsche BündnispartnerInnen bei Flüchtlingskämpfen werden könnten – nicht, daß das verwerflich wäre, es ist einfach unrealistisch.

Wir machen mal wieder Faxen. Aktionsformen zwischen Kampagnenpolitik und Einzelfallhilfe. Oder Faxkampagnen für Einzelfälle?(28)

In der antirassistischen Öffentlichkeitsarbeit wird oft mit extremen Einzelfällen hantiert. Mag dies taktisches Kalkül sein, weil mensch anders keine Aufmerksamkeit erlangen kann, so hat es auf lange Sicht sowohl in den eigenen Kreisen als auch in der öffentlichen Wahrnehmung fatale Folgen. Denn immer mehr setzt sich das Bild fest, daß die Extremfälle Ausnahmen von einer alltäglichen Praxis wären, die umsomehr Absolution erhält, je mehr Betonung auf der Besonderheit des jeweiligen Einzelfalles liegt. Aber die Ausnahmen sind keine Ausrutscher, sondern normaler Bestandteil rassistischer Politik. Wenn z.B. betont wird, daß die Behörden sich nicht einmal an ihre eigenen Gesetze halten (oder an die Menschenrechte und humanistische Wertvorstellungen), dann suggeriert dies, daß wir diese gutheißen und zufrieden wären, wenn die Behörden gesetzestreu agieren würden.(29)

Wir denken, daß es bei vielen antirassistischen Aktionen bislang nicht deutlich genug herauskommt, daß der/die präsentierten Einzelfälle nur symbolisch für alle anderen stehen und daß mensch nicht die Ausnahme sondern die Normalität angreift. Es könnte sich also auch als sinnvoll erweisen, nicht immer auf Extremfälle zu rekurrieren. Dies würde der Forderung „Offene Grenzen für alle“ mehr Nachdruck verleihen, weil die jetztige Praxis eher die Forderung „Offene Grenzen nur für xy, weil er ganz schlimm gefoltert wurde und bei Abschiebung stirbt oder weil sie sich so gut angepaßt hat, schon so lange hier lebt, arbeitet und bald verheiratet sein wird“ suggeriert.

Arbeit, Arbeit, Arbeit. Arbeitsmigration und politischen Flüchtlinge

Im Mittelpunkt des antirassistischen Interesses steht der politische Flüchtling. Allerdings spielt das Attribut „politisch“ keine Rolle bei der Zusammenarbeit mit den Flüchtlingen, d.h. es finden kaum politische Auseinandersetzungen mit den MigrantInnen statt. Vielmehr orientiert sich dieser Begriff an der staatlichen Vorgabe, nach der nur politische Flüchtlinge Asylrecht genießen.(30) Doch diese Vorstellung wird immer obsoleter. Zum einen wissen viele politische Flüchtlinge, daß ihnen das heutige Asylrecht keinen Schutz gewähren kann. Zum anderen – und das ist viel entscheidender – fällt der Großteil der Flüchtlinge und MigrantInnen in der BRD nicht unter die Kategorie „politisch“, egal, ob die staatliche oder eine wie auch immer aussehende eigene Definition Verwendung findet. Diese MigrantInnen sind aber gleichfalls von rassistischen Gesetzen, Behörden und Bevölkerung betroffen. Und gemäß der alten Forderungen „Offene Grenzen für alle“ gilt es, sich für sie genauso einzusetzen wie für politische Flüchtlinge. Wie schon im obigen Abschnitt beschrieben kann die permanente Betonung von politischen Fluchtursachen, Bürgerkriegen etc, dazu führen, daß alle anderen Flüchtlingsgruppen, die die Kriterien nicht erfüllen, am Ende noch schlechter dastehen.

Eine Beschäftigung mit der Arbeitsmigration ist aber auch unter analytischen Gesichtspunkten wichtig. Während kein Staat daran ein wirkliches Interesse hat, sich politische Flüchtlinge als solche ins Land zu holen, gibt es sehr wohl ein staatliches Interesse daran, für die Wirtschaft eine gezielte Einwanderung von Arbeitskräften zu fördern und regulieren. Dies hat Auswirkungen auf die Perspektiven antirassistischer Praxis, die nicht vernachlässigt werden dürfen. So ist die zunehmende Illegalisierung von MigrantInnen oder die Anwerbung von qualifizierten Arbeitskräften für die IT-Branche nicht Ausdruck für eine repressive Politik gegen Flüchtlinge oder ein Schritt in die „multikulturelle Erlebnisgesellschaft“, sondern beides der Versuch, gute Rahmenbedingungen für Verwertungsinteressen der deutschen Wirtschaft zu schaffen. Genau an diesem Punkt würden sich auch gute Anknüpfungspunkte für eine antikapitalistische Kritik aus antirassistischer Perspektive ergeben.

Bis auf wenige Ausnahmen(31) gibt es dazu unserer Meinung nach zu wenig Auseinandersetzung und Überlegungen innerhalb der antirassistischen Szene.

Antira-AG im Bündnis gegen Rechts (Leipzig)

Fußnoten

1 vertiefend zu diesem Thema ist zu empfehlen: Deutscher Antirassismus? Antirassistische Gruppen ziehen Bilanz. off limits/ZAG: 1995

2 u.a. angeregt durch das Buch Drei zu Eins (Edition ID-Archiv, http://www.txt.de/id-verlag/BuchTexte/DreiZuEins/DreiZuEins.html), welches Rassismus neben Sexismus und Klassenwiderspruch als eigenen Hauptwiderspruch begründet.

3 1982: Einrichtung von Sammellagern für Flüchtlinge (Zur Geschichte der autonomen Antirassismusgruppen, in: Rundbrief des Niedersächsischen Flüchtlingsrates, November 1996, S. 53-54)

4 siehe: Die Früchte des Zorns. Texte und Materialien zur Geschichte der Revolutionären Zellen und der Roten Zora, Edition ID-Archiv: 1993, S. 539 ff. (http://www.txt.de/id-verlag/BuchTexte/Zorn/Zorn01.html)

5 noch 1994 vertrat das Antirassismus-Büro Bremen diese Position: „neben den Dauerarbeitslosen hat dieses Land nun auch Dauerflüchtlinge hervorgebracht. Die stellen eine gigantische soziale Bewegung dar. Keineswegs handelt es sich dabei nur um Opfer, jede/r einzelne von ihnen ist ein Symbol für den Anspruch auf ein Existenzrecht, jede/r, der oder die hier ankommt, fordert darüberhinaus Wiedergutmachung durch Teilhabe an dem in aller Welt zusammengeraubten Wohlstand. Diese Migrationsbewegung unterläuft alle Versuche der Herrschenden, die Erde in Metropolen und Drittländer (...) aufzuteilen.“ (The burning spear of anti-racism, in: ZAG 3/1994, S. 16)

6 So gab es innnerhalb der Antirassistischen Initiative Berlin, eine der ältesten und wichtigsten antirassistischen Gruppe der BRD, die Überlegung sich aufzulösen, weil mensch eine „weiße“ Gruppe darstellt (Deutscher Antirassismus, S. 13). Nicht zu vernachlässigen ist aber auch die Gefahr, rassistische Stereotypen zu übernehmen, vor allem in der Auseinandersetzung um sexistisches Verhalten von Flüchtlingen (siehe: Antirassistische Identitäten in Bewegung, S. 178; Auseinandersetzung auf dem Grenzcamp um The Voice; Warnung der Aktion Zuflucht Marburg vor einem kurdischen Mann in der Mailingliste von „kein mensch ist illegal“ vom 03.03.2001)

7 Bis dahin war sie so marginal, daß sie Geronimo in seinem Standardwerk „Feuer und Flamme. Zur Geschichte der Autonomen“ (Edition ID-Archiv, 1990) glatt ignorieren konnte. Zwei Jahre später, in „Feuer und Flamme 2“ widmet er dem Antirassismus ein ganzes Kapitel.

8 Ein symptomatisches Beispiel: „Wir in Leipzig schlafen nicht! Auch hier fand am 3.10. eine Demonstration gegen Ausländerhaß und Rassismus statt (...), um ein Asylantenheim, dessen Bewohnern die Nazis für den 3. Oktober Brandanschläge angedroht hatten, zu schützen. Daß das geplante Treffen mit den Ausländern dann nicht stattfand, lag daran, daß um 18 Uhr sämtliche Türen des Asylantenheimes dicht gemacht werden. Sympathiebezeugungen waren nur über Fenster und Balkons möglich. Enttäuscht verließen viele so nach kurzer Zeit den Ort des Geschehens.“ (Leserinbrief in der taz vom 10.10.1991)

9 zu jedem Grenzcamp gibt es Videos und Reader. Der von 1999 findet sich im Internet unter: http://www.nadir.org/nadir/archiv/Antirassismus/grenzcamp99

10 zur Kampagne kmii: cross the border (Hrsg.): kein mensch ist illegal. Ein Handbuch zur Kampagne, ID-Verlag: 1999; Rundbrief der Kampagne kein mensch ist illegal (wechselnde Redaktionsadresse); http://www.contrast.org/borders/kein

11 z.B. bei der Forschungsstelle für Flucht und Migration (FFM) Berlin (http://www.ffm-berlin.de), die seit Jahren zur Situation in (Ost)Europa forscht und die Vernetzung vorantreibt.

12 Den im Text in folgenden behandelten Fragen stellen sich aus soziologischer Sicht zwei Bücher, die durch Interviews mit antirassistischen AktivistInnen die Selbstwahrnehmung untersuchen: Sabine Hess, Andreas Lindner: Antirassistische Identitäten in Bewegung, edition diskord: 1997; Claus Melter: Zwischen Aktion und Resignation. Flüchtlinge und Initativgruppen im Widerstand gegen Abschiebungen, von Loeper: 2000

13 So schreibt das Antirassismus-Büro Bremen in einem der wenigen aktuellen Texte, die eine kritische Bestandsaufnahme der Antira-Bewegung versuchen: „Wir sahen (...) in den Flüchtlingen die Vorhut der enteigneten trikontinentalen Massen und sahen angesichts unkontrollierbar steigender Flüchtlingszahlen das Potenzial für eine Überhitzung in Deutschland“ (Antirassismus 2000. Kritischer Rückblick auf zehn Jahre antirassistische Bewegung und Fragen an die Zukunft, in: analyse und kritik, Nr. 444 (23.11.2000), S. 6-7) – die These von „Das Boot ist voll“ mal „positiv“ gewendet.

14 Das vor dem Hintergrund der These, daß neue Herrschaftsstrategien „häufig zuerst an Flüchtlingen oder MigrantInnen praktiziert (würden), um eine breitere Durchsetzung zu überprüfen“ (F.e.l.S-Antifa-AG: Was tun, wenn es (nicht) brennt? Antifaschismus und Antirassismus: Was geht da praktisch zusammen?, in: ZAG 2/1996, S. 41). Mensch kann auch im Gegenzug behaupten, daß Herrschaftsstrategien an MigrantInnen eingeübt werden, um den Wohlstand der deutschen - quer durch alle soziale Schichten - zu wahren. Somit sind die Hoffnungen auf eine gemeinsame Front von Flüchtlingen und deutschen Arbeitslosen trügerisch, die Realität zeigt eher das Gegenteil. Das Konzept, antirassistisches Engagement mit der eigenen Betroffenheit als Deutsche befördern zu wollen. steht somit auf wackligen Füßen.

15 bundesweite Vernetzungsbemühungen sind recht rar: 1994 gab es bundesweite Treffen der antirassistischen Telefone. Obwohl sich die Telefon-Gruppen meist auch anderweitig betätigten, ist davon auszugehen, daß dort kaum antirassistische Analysen und Perspektivenbestimmungen aus einem linksradikalen Ansatz heraus vorgenommen wurden – zumal die Idee, Antidiskriminierungsstellen einzurichten, aus den ein staatliches Konzept aus den Niederlanden war, was in der BRD begierig von Linken aufgegriffen wurde (weil auf den deutschen Staat war ja in dieser Hinsicht kein Verlaß...) (ZAG Nr. 33, S. 14). Somit wurde mit den Treffen der Kampagne „kein mensch ist illegal“ erstmals diese Lücke ausgefüllt, auch wenn sich nicht alle Gruppen als links oder gar linksradikal verstehen.

16 Zur Sozialarbeit: Radikale Sozialarbeit, Fragen an die antirassistische Beratungsarbeit, Das Spannungsfeld von Unterstützung und Bevormundung, alle in: kein mensch ist illegal; Steffen Wurzbacher: Gut beraten. Abgeschoben... Flüchtlingssozialarbeit zwischen Anspruch und Wirklichkeit, von Loeper: 1997; „Antirassistische“ Sozialarbeit: Von der Realität einer Halluzination, in: Deutscher Antirassismus?, S. 32-35; Antirassistische Identitäten in Bewegung

17 In Wirklichkeit ist dies allerdings auch nur eine an den Haaren herbeizogene Begründung, wenn mensch sich vor Augen hält, daß sich bei den meisten AktivistInnen das antirassistisches Engagement nicht aus purer Überzeugung oder Analyse heraus entwickelt, sondern erst durch Kontakt mit Flüchtlingen. (siehe z.B. Antirassistische Identitäten in Bewegung, S. 117 ff.)

18 Zumal ja nicht klar ist, für wen mensch da Politik macht. Wenn Politik für jemand gemacht wird, wäre vorher zu klären, was einen mit denjenigen (politisch) verbindet, und das dürfte bei vielen Flüchtlingen nicht viel sein.

19 Das Antirassismus-Büro Bremen beschreibt die eigenen Arbeitsschwerpunkte z.B. folgendermaßen: „(...) sozialrechtliche Unterstützung von Flüchtlingen (... – das) ist die Bereitstellung von Ressourcen und Kenntnissen, schlicht Solidarität und gegenseitige Hilfe, nicht jedoch Sozialarbeit, weil die Absicht nicht in der Vermittlung und Abpufferung sozialer Widersprüche lag“ (in: Deutscher Antirassismus?, S. 41). Allerdings können wir uns nicht so recht vorstellen, daß diese schönen Worte eine Praxis bedeuten, die sich signifikant von der anderer Gruppen unterscheidet, die offen zugeben, Sozialarbeit zu leisten.

20 So sehen sich sogar Gruppen, die illegalisierten MigrantInnen helfen, was unter hoher Strafandrohung steht (Haftstrafen bis zu mehreren Jahren), damit konfrontiert, daß sie nicht etwas von Repressialien überzogen werden, sondern ihre Angebote „in der Regel geduldet und von (...) Behörden manchmal sogar inoffiziell (...) genutzt“ werden. (Medizinische Versorgung für Flüchtlinge, in: kein mensch ist illegal, S. 41).

21 Wir sind der Meinung, daß die liberalen und bürgerlichen Flüchtlingsunterstützungsorganisationen dieses Dilemma vielerorts besser gelöst haben als die Linken. In diesem Spektrum ist es nämlich so, daß die Beratungsstellen die Sozialarbeit leisten, unanhängig davon aber meist Gremien existieren (z.B. Flüchtlingsräte auf Stadt- und Länderebene, Pro Asyl als bundesweiter Zusammenschluß), die ausschließlich Presse-, Bildungs-, Öffentlichkeits- und politische Lobbyarbeit leisten. Der Informationsfluß funktioniert recht gut, da in der Regel VertreterInnen aus den Beratungsstellen gleichzeitig in den anderen Gremien aktiv sind.

22 Diese Position – Flüchtlingssozialarbeit als „antirassistische Tätigkeit“ – wird u.a. von der autonomen Flüchtlingehilfe kahina (Leipzig) vertreten. Siehe z.B. ihren Beitrag „Perspektiven von Flüchtlingsberatung und Antirassismus im Osten“, in: telegraph Nr. 100 (2000), S. 16-20

23 Als Analogie mag das Beispiel „Rote Hilfe“ dienen. Wir unterstützen ja nicht alle Gefangenen, nur weil sie eingesperrt sind (auch wenn wir die Institution Gefängnis ablehnen) – zumal ja auch etliche Faschos im Knast sitzen –, sondern spenden für die Rote Hilfe und verhalten uns solidarisch zu linken politischen Gefangenen.

24 Zum Teil provozierte sie sogar nur Abwehr: Den antideutschen MigrantInnengruppen wurde „umgekehrter Rassismus“ vorgeworfen (Kanak Attak: Mit den besten Absichten. Spuren des migrantischen Widerstands, in: iz3w April 2000, S. 37)

25 Café Morgenland: Kurze Prozesse – lange Gesichter, in: Deutscher Antirassismus, S. 44-47

26 Im aktuellen Grenzcampreader (Grenzcamp3. Vom Protest zur Vereinnahmung, 2000) schreibt ein Teilnehmer sogar davon, daß der Bürgermeister von Forst (dem Standort des Grenzcampes) der „wahrscheinlich einzige Mensch (gewesen wäre), der bis zuletzt die Grenzcamp-Teilnehmer/innen nicht gemocht hat“ (S. 58)

27 Verkürzt ist z.B. die Vorstellung von 2 Mitgliedern der Antirassistischen Initiative Berlin, daß „wenn man den Rassismus aus der Mitte der Gesellschaft bekämpfen will (...) es in den meisten Fällen reichen würde, die Gesetze und Paragraphen , die eine Ungleichbehandlung festschreiben, einfach zu streichen“. (ZAG Nr 33, S. 16)

28 Wir erhalten wöchentlich die Aufforderung, ein Protestfax an eine böse Ausländerbehörde zu senden, um uns damit für ein Bleiberecht für einen guten Flüchtling einzusetzen. Mal abgesehen von der (vermuteten) Wirkungslosigkeit, beschleicht uns immer ein komisches Gefühl bei diesen Einzelfallkampagnen, da sie politisch nichts vermitteln.

29 Timur und sein Trupp kritisieren an der Kampagne „kein mensch ist illegal“, daß die staatliche Abschiebemaschinerie wie geschmiert läuft und die „moralisch unterlegten Solidaritätskampagnen“ nur dazu dienlich sind, für einen abschiebungsbedrohten Menschen „eins der begehrten ‘Medienlose’ zu ziehen.“ (interim 481/1999, S. 3). Volker Maria Hügel, damaliger Sprecher von Pro Asyl kritisierte im Interview mit off limits (Deutscher Antirassismus?, S. 51-54) das „Herauspicken von Flüchtlingsgruppen“ (Kosovo-Albaner, Roma, KurdInnen etc.): „In dem Moment, wo ich eine Gruppe herausgreife und mich gegen deren Abschiebung wende, und ich vergesse aus taktischen Gründen zu betonen, daß ich überhaupt gegen Abschiebung bin, dann löse ich das Dilemma nicht auf, sondern brauche z.B. immer erst den aktuell aufflammenden Krieg, um einen Abschiebungsschutz argumentativ durchdrücken zu können, ich brauche noch mehr Tote – das klingt zynisch, aber es ist so. Aus diesem Dilemma kann man sich nicht befreien, wenn man nicht parallel dazu auch endlich anfängt, Abschiebungen als solche zu brandmarken und zu sagen, was sie sind.“ Das war 1995. Heute pickt mensch sich nicht mal mehr ganze Flüchtlingsgruppen heraus, sondern gleich nur noch einzelne Flüchtlinge...

30 Diese Schwerpunktsetzung dürfte sich auch aus der internationalistischen und antiimperialistischen Vergangenheit einiger Gruppen oder AkteuerInnen erklären, die sich in bestimmten „Vorzeigeländern“ Lateinamerikas besser auskennen, als in Osteuropa – dem Herkunftsgebiet der meisten MigrantInnen. (siehe z.B. ZAK: Die Linke zwischen Antirassismus und internationaler Solidarität, in: Deutscher Antirassismus, S. 28-31)

31 siehe z.B.: Arbeitsgruppe 501 (Hrsg.): Heute hier – morgen fort. Migration, Rassismus und die (Un)Ordnung des Weltmarkts, iz3w: 1993; Antirassismus 2000; ZAK: Rechtlos auf Arbeit. Flüchtlinge berichten, 1996; Gleiches Recht auf Ausbeutung – jetzt sofort? in: Grenzcamp

Zuerst veröffentlicht in:
CEE IEH Newsflyer #77/2001

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