Geopolitik — ein alter Hut?



"Das wovon ich reden will, ist das Zusammenwachsen derjenigen Staaten, die weder zum englisch-französischen Westbunde gehören noch zum russischen Reiche, vor allem aber ist es der Zusammenschluß des Deutschen Reiches mit der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie" — die Zentrale des kommenden Mitteleuropas. Zahlreiche kleinere Staaten "wollen und müssen erst mit eigenen Augen sehen, ob der Kern von Mitteleuropa sich bildet". (Friedrich Naumann, Mitteleuropa)
 Naumann konnte 1915, als er diese Zeilen niederschrieb, nicht ahnen, daß 85 Jahre später ein deutscher Außenminister ganz ähnlich argumentieren würde, wenn auch unter einer erheblich veränderten Staatenkonstellation. So ist für Joschka Fischer nicht mehr Österreich der erste Partner bei der Bildung eines "Kerneuropas", sondern Frankreich. Diese beiden Staaten, so Fischer im Mai 2000, sollten "Avantgarde" und "Gravitationszentrum" eines engeren Staatenbundes sein, dem nationale Souveränitätsrechte übertragen würden. Die politische Dominanz in diesem neuen Staatengebilde fiele aufgrund ihrer ökonomischen Stärke Deutschland und Frankreich zu, was Fischer natürlich nicht sagt (siehe Antifaschistische Nachrichten (AN) 13/00).
 Fatalerweise werden diese strategischen Planungen des deutschen Imperialismus in einer kritischen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Umso erfreulicher sind daher zwei Neuerscheinungen zum Thema "Geopolitik".
 Raumpolitik, Großraumwirtschaft usw. sind aus dem Vokabular des "3. Reichs" geläufig: Ein Volk müsse stets bestrebt sein, seinen Lebensraum zu erweitern, alles andere bedeute Regression und Untergang. V.a. das deutsche Volk leide an einer Enge des eigenen Raums, wegen seiner Mittellage sei es von allen Seiten bedroht. Behoben werden sollte dieser status quo durch eine neue Staaten- und Außenwirtschaftsordnung nach einem zu gewinnenden Krieg. Das Deutsche Reich im Zentrum und in "konzentrischen Kreisen" um es herum angeordnet abhängige Staaten, deren Ökonomien auf die deutschen Bedürfnisse zugeschnitten wären.
 Doch diese geopolitischen Konzeptionen stammen nicht erst aus dem Jahr 1933. Werner Köster untersucht ihre Entstehung und Ausbreitung anhand des Begriffs "Raum". Seine Wandlung und Zuspitzung zu einer Metapher für deutsche Eroberungssehnsüchte und Gebietsansprüche und seine Implementierung als politischer Kampfbegriff war das Ergebnis erheblicher ideologischer und propagandistischer Anstrengungen von Geographen und Politikern, von "Völkerrechtlern" und Revanchisten nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg. Geopolitiker — wie der Kreis um Karl Haushofer — versuchten nachzuweisen, daß die imperialistischen Folgerungen aus ihrer Wissenschaft einem objektiv waltenden Raumgesetz entsprängen.
 Als Sprachwissenschaftler untersucht Köster weniger die konkreten Ausprägungen geopolitischer Ideen oder die unterschiedlichen von nationalistischen Verbänden und Interessengruppen, Wirtschaftswissenschaftlern und militaristischen Publizisten entworfenen Konzeptionen deutscher Vorherrschaft in Europa, sondern die "semantische Karriere eines deutschen Konzepts", wie der Untertitel lautet. Die gesellschaftliche Debatte um "Raum" erhielt eine besondere, weil einigende Funktion: So konnten "neben den militärischen und industriellen Eliten auch die traditionellen Bildungsschichten wie etwa die Lehrerschaft" angesprochen und "die unterschiedlichsten konservativen Strömungen" zusammengeführt werden. Die vorliegende linguistische Untersuchung erweitert das Wissen darum, wie sich derartige Ideologien entwickeln und diskursiv verbreiten.
 Nach 1945, so Köster, habe sich das Raumgerede mit der Einbindung der BRD in das westliche Staatensystem erledigt. Das sieht der Herausgeber des Sammelbandes "Geopolitik", der österreichische "Verein Kritische Geographie", anders. Geopolitische Konzeptionen erlebten nach dem "Ende der bipolaren Weltordnung" eine Renaissance. Die historische Perspektive ist bei der Kritik dieser Ideologie hilfreich. Natürlich wird die deutsche Entwicklung untersucht, hatten die hiesigen geopolitischen Phantasien doch die mörderischsten Konsequenzen. Allerdings beschränken sich die Artikel zu diesem Thema fast ganz auf die Zeit vor 1933. Im 19. Jahrhundert entstanden Vorstellungen wie die, daß Deutschland als wachsende Nation mehr Raum brauche, ja dies nachgerade ein Beweis fortgeschrittener kultureller Entwicklung sei: "Expansionstrieb, der die Grenzen bis an die Schranke der Möglichkeit vorrückt, ist Merkmal der höchsten Kultur." (So Friedrich Ratzel, der "Vater" der Geopolitik.) Der "Raumnot" war laut den Theorien dieser Geopolitiker mit Landnahme vornehmlich in Afrika zu begegnen. Von Anfang an hatte Geopolitik ideologischen Charakter, sie bot sich als pseudowissenschaftliche Legitimation des deutschen Kolonialismus an. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg arbeitete der Geograph Robert Sieger für seine Nation in Kommissionen, die die neu zu ziehenden Staatsgrenzen Deutschlands und Österreichs festlegen sollten. Hier führte er die verschiedensten geographischen und demographischen Argumente an, damit die beiden Länder möglichst wenig Land einbüßten. Wenige Jahre später stand die Geographie erneut deutschen Expansionsbestrebungen zur Verfügung. Von den Geographen spielte insbesondere der bereits erwähnte Haushofer eine Rolle, der Deutschlands Landgier auf Osteuropa richten wollte. Auch ihn konnte die Politik gut gebrauchen.
 Der Band "Geopolitik" ist mit seinen vielen Aspekten erfrischend breit gefächert, dafür fehlt aber der rote Faden. Da gibt es z.B. einen Artikel von Gearóid O Tuathail, der die Globalisierung als Trend zur Ablösung nationaler Souveränität durch eine "Weltgesellschaft" analysiert und damit ähnliche Hypothesen wie Michael Hardt und Antonio Negri im derzeit viel diskutierten "Empire" vertritt. Oder der überflüssige Beitrag Yves Lacostes, der meint, gegen den Front National müsse die französische Linke mehr Nationalbewußtsein stellen. Die Anmerkungen zur Europäischen Union zeichnen sich leider durch eine allzu unkritische Haltung aus.
 Mit den aktuellen geopolitischen Debatten in der Fachgeographie befassen sich Georg Stöber und Herrmann Kreutzmann. Insbesondere greifen sie Samuel Huntingtons Kulturbegriff an. Der bringe es mit sich, "dass 'Kultur' von jedem Handlungszusammenhang losgelöst ist, in der Form distinkter 'Kulturen' eine eigenständige multiple Existenz führt ... Menschliches Handeln mit seinen Motivationen und Intentionen gerät dabei völlig aus dem Blick." Es entsteht eine neue Form des Rassismus, der primär nicht mehr biologistisch begründet wird, sondern Schranken zwischen "Rassen" aufgrund differenter Kulturen ausmacht.
 Aber nicht nur in diesen akademischen Debatten deutet sich eine wachsende Bedeutung geopolitischer Ideologeme an — ein FAZ-Kommentar vom 11.11. zum Transitstreit zwischen Rußland/Kaliningrad und der EU steht dafür beispielhaft. Zunächst wird der eigene Raum (EU) vom fremden (Rußland) abgegrenzt. Dann wird festgestellt, daß ein Teil des fremden Raumes (Kaliningrad) dem eigenen zugeschlagen werden sollte, weil er überhaupt nicht zu Rußland passe und ohne EU-Anbindung eine Bedrohung darstelle. Von "Königsberg", dieser "sowjetischen Kriegsbeute", könne Moskau "weniger denn je behaupten..., hier sei zusammengewachsen, was zusammengehöre". Nehme die demnächst erweiterte EU ein russisches Kaliningrad aber hin, könne "in der Union ein schwarzes Loch aus Armut und Kriminalität bedrohliche Anziehungskraft" entwickeln. Dagegen helfe nur die "Integration Königsbergs", der Weg führe ohnehin zu einer "quasiinländische(n) EU-Enklave". Zum Visastreit um Kaliningrad ist der Beitrag Holger Kuhrs in der Broschüre "Grenzen auf für Deutschland?" zu empfehlen. (Was des Weiteren in dieser Broschüre zu lesen ist, steht in den AN 18/2002.)
 

Werner Köster: Die Rede über den "Raum". Zur semantischen Karriere eines deutschen Konzepts, Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren, Heidelberg 2002, 258 S., 34,80 EUR.

Geopolitik. Zur Ideologiekritik politischer Raumkonzepte, Hg. vom Verein Kritische Geographie, Promedia Verlag, Wien 2001, 239 S., 34 DM.