"Tous ensemble"
Die Protestaktionen für soziale Rechte in Nizza zeigten ein anderes Europa

junge Welt Feuilleton

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14.12.2000

Tous ensemble
Die Protestaktionen für soziale Rechte in Nizza zeigten ein anderes Europa.
Von Gerhard Klas

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Obwohl Italien und Frankreich das Schengener Abkommen unterzeichnet haben und keine Grenzkontrollen mehr vorgesehen sind, standen bei der Reise nach Nizza schon auf italienischer Seite Carabinieri, die sämtliche Busse herauswinkten und die Fahrer nach dem Reiseziel fragten. Das war überflüssig, denn am Morgen des 6.Dezember fuhren fast alle Reisebusse in die Mittelmeerstadt zur Großdemonstration und einige zur darauffolgenden Blockade gegen das Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs. »An welchem Teil der Demonstration wollen Sie sich denn beteiligen?« hakte einer der Polizeibeamten nach. Die Busfahrerin zeigte sich irritiert. »Zu welcher Gruppe gehören Sie?« lautete eine weitere Frage des Beamten. Intuitiv antwortete einer der Mitreisenden: »Delegation der IG Metall«. Das war ein Zauberwort, und der Bus, in dem neben Erwerbslosen, Studierenden, und Migranten zwei Mitglieder der IG Metall saßen, wurde durchgewunken. Ganz in rot gekleidete Gewerkschafter des linken französischen Gewerkschaftsdachverbandes CGT regelten in Nizza den städtischen Schienenverkehr. Viele der Demonstranten aus allen EU-Ländern, darunter auch einige aus den EU-Bewerberstaaten Polen und Slowenien, waren bis zum Hauptbahnhof gereist und mußten an den im Norden gelegenen Bahnhof St. Roch geleitet werden. Prall gefüllt mit italienischen Rentnern, französischen CGTlern und deutschen Erwerbslosen und Studenten setzten sich die Bahnen langsam in Bewegung. Laut war es in den Waggons, die in den Farben ihrer Organisationen ausstaffierten und mit Transparenten bestückten Fahrgäste sangen kämpferische Arbeiterlieder und riefen Parolen. »Tous ensemble! - Alle zusammen!« hieß die mit Abstand Beliebteste.

Trotz anfänglicher Schwierigkeiten waren viele Franzosen kostenlos nach Nizza gefahren. Nachdem der französische Verkehrsminister es abgelehnt hatte, der Forderung der Gewerkschaften nach einem Gratistransport aus französischen Großstädten nachzugeben, nahmen die Organisationen der Protestveranstaltung die Sache selbst in die Hand und besetzten schon am Dienstag die Bahnhöfe der wichtigsten Städte. Damit zwangen sie die meisten Bahnhofsvorsteher zum Einlenken.

Nicht alle, die kommen wollten, hatten Nizza erreicht. Zwei Busse aus dem thüringischen Erfurt waren zu spät losgefahren. In Nizza blieb noch Zeit, eine Pizza zu essen, dann ging es zurück. In Frankreich zeigten die Aktivisten zwar besseres Organisationstalent, aber das konnte sich nicht immer gegen die Behörden durchsetzen. Während die Gratiszüge aus Lyon und anderen Städten anrollten, gelang es den Behörden, Züge aus Paris zu blockieren.

Auch für den »Global Action Express« aus Italien endete die Reise am Grenzort Ventimiglia. Den von Rifondazione Comunista finanzierten Sonderzug, in dem außer der Parteijugend auch Mitglieder der radikalen Gewerkschaft »sin cobas« und Aktivisten der Centri Sociali mitfuhren, stoppten 1000 französische Polizisten der berüchtigten Spezialeinheit CRS. Der dem französischen Innenminister unterstellte Präfekt des Departments Alpes-Maritimes begründete das Einreiseverbot für die 1400 Italiener mit einem Artikel des Schengener Abkommens. Demnach können wegen »Gefahren für die innere Sicherheit« die lange abgeschafften Grenzkontrollen wieder eingeführt werden.

Doch die Italiener blieben nicht untätig. Sie besetzten die Zuggleise und die Autobahn sowie einen weiteren Zug. Dort übernachteten sie und demonstrierten am nächsten Tag zum französischen Konsulat. Dabei kam es zu Auseinandersetzungen mit italienischen Polizisten, die aus nächster Nähe Tränengasgeschosse abfeuerten. Einige der Protestierenden mußten anschließend in Krankenhäuser gebracht werden. Nach Angaben des italienischen Fernsehens solidarisierten sich zahlreiche Einwohner der Grenzstadt mit den Demonstranten. Einige Mitorganisatoren der Großdemonstration wollen gegen das Vorgehen der Behörden Klage beim Europäischen Gerichtshof einlegen. Unterdessen formierte sich am Mittwoch mittag die Demonstration am Nordbahnhof in Nizza. Die Europäischen Märsche gegen Erwerbslosigkeit, ungeschützte Beschäftigung und Ausgrenzung, die Intitiative gegen kapitalistische Globalisierung ATTAC und die französische Ligue Communiste Revolutionaire (LCR) mit rund 10000 Teilnehmern mußten allerdings fünf Stunden warten, bis sie den ersten Schritt machen konnten. Vor ihnen sammelten sich die Gewerkschaften des Europäischen Gewerkschaftsbundes EGB.

Die Teilnahme entsprach den Erwartungen der Organisatoren, die von 80000 bis 100000 Demonstranten sprachen, während die Polizei behauptete, es seien lediglich 50000 gewesen. Mit mehr als 50000 Teilnehmern stellte die CGT mit Abstand das größte Kontingent der Demonstration. Hinter einem Meer von roten Fahnen kam der Dachverband CFDT mit deutlich weniger Teilnehmern. Beide sind im EGB, haben dort aber unterschiedliche Positionen bezogen. Während die CFDT für eine Rechtsverbindlichkeit und Aufnahme der umstrittenen EU-Grundrechtecharta in die EU-Verträge ist, lehnt die CGT dies konsequent ab, da sie eine Verschlechterung für soziale und gewerkschaftliche Rechte befürchtet.

Nach den zahlreichen französischen Gewerkschaften folgten Delegationen aus Italien, Spanien und Portugal, die jeweils mehrere tausend Teilnehmer stellten. Der Deutsche Gewerkschaftsbund DGB, der mit neun Millionen Mitgliedern stärkste im EGB, setzte sich dem Gespött der französischen Presse aus. Nach eigenen Angaben hat der DGB 700 Mitglieder nach Nizza geschickt. Die überregionale Tageszeitung L'Humanité zählte jedoch nur knapp hundert Gewerkschafter aus Deutschland, unter ihnen immerhin auch Prominenz wie den IG-Metall Chef Klaus Zwickel. Süffisant berichtete die Tageszeitung, daß allein aus Slowenien zweihundert Gewerkschafter den Weg nach Nizza gefunden haben.

Eigentlich hätte auf der Abschlußkundgebung der mittlerweile prominenteste französische Landwirt von der Bauernvereinigung Confédération Paysanne, José Bové, sprechen sollen. Doch den hatten Polizeibeamte mit Gewalt am Morgen in Paris festgenommen, weil Bové versuchte, in ein Gebäude zu gelangen, um dort bei einer agrarpolitischen Konferenz mit Mike Moore, dem Generaldirektor der Welthandelsorganisation, gegen die neoliberale Freihandelsdoktrin zu protestieren.

Nach der frühzeitig beendeten Abschlußkundgebung zogen mehr als 1000 Demonstranten an den Hauptbahnhof, den sie umgehend besetzten. Damit wollten sie Druck machen, um eine Weiterreise der italienischen Genossinnen und Genossen an der Grenze zu ermöglichen. Ihr Versuch wurde von der Polizei mit Tränengas und Schlagstockeinsatz vereitelt. Gebeutelt von den Strapazen des Tages zogen viele von ihnen in eine kurzfristig angemietete Turnhalle. Der Bürgermeister der Stadt, bis vor kurzem noch Mitglied der Front National, hatte im Vorfeld jede Kooperation verweigert und trotz der erwarteten Menschenmenge keinerlei Übernachtungsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt. Häuser, die Erwerbslose und Studenten wenige Tage vor dem Gipfel besetzt hatten, ließ er kurzerhand räumen. »Das haben wir noch nirgendwo gesehen, seit wir die EU-Gipfel regelmäßig mit unseren Aktionen begleiten. In Amsterdam war die Stadt sogar für das Podium und die Toiletten aufgekommen«, erklärte Michel Rousseau von der europäischen Koordination der EuroMärsche.

Nun diente die Turnhalle als Übernachtungs- und Konferenzort gleichzeitig. Während sich vorne Susan George, stellvertretende Vorsitzende von ATTAC in Frankreich, und Pierre Tatakowski, Generalsekretär von ATTAC, für eine Eindämmung der Macht der transnationalen Konzerne aussprachen und Christophe Auguiton von den EuroMärschen den Forderungskatalog der sozialen Bewegungen vorstellte, hörten zwar viele Gäste in der Turnhalle zu, andere lagen aber in ihren Schlafsäcken oder gaben sich ihrer neugefundenen Liebe hin. An den chaotischen Zuständen im Provisorium nahm niemand Anstoß. Insgesamt 2000 Menschen übernachteten dort.

Am nächsten Morgen begann in aller Frühe die Blockade des Konferenzzentrums »Acropolis«. Obwohl es einigen der 5 000 Demonstranten gelang, bis auf einhundert Meter heranzukommen, kann von einer Behinderung des Gipfels keine Rede sein. Die mit Tränengaskanonen ausgerüsteten Einsatzkräfte machten allerdings dermaßen viel Gebrauch von dem ätzenden Reizgas, daß sogar die Konferenzteilnehmer mit geröteten Augen und gereizten Schleimhäuten ihr Gipfeltreffen beginnen mußten.

Die weiträumigen Absperrungen des mitten in der Stadt gelegenen Kongreßzentrums und zahlreiche Straßenblockaden durch Demonstranten brachten den gesamten Nahverkehr zum erliegen. Mit Stinkbombenaktionen in Banken, Supermärkten und Fastfood-Restaurants wollten einige Globalisierungsgegner darauf aufmerksam machen, »wie sehr die Dinge in der Welt stinken«. Ihre Ziele mußten anschließend evakuiert werden.

Die Polizei setzte im Verlauf des Morgens vermehrt Schlagstöcke ein. Die Situation eskalierte an einigen Stellen, eine Bankfiliale wurde in Brand gesetzt und mehrere Schaufensterscheiben gingen zu Bruch. Verletzte gab es vor allem auf Seiten der Demonstranten. Von den insgesamt 50 Festgenommenen sind alle bis auf zwei Basken wieder auf freiem Fuß.

Nach Einschätzung einiger Sprecher von EuroMarsch und ATTAC waren die Sicherheitskräfte und Behörden vor und während des Gipfels mehr als bei den Protesten gegen die EU-Gipfel in den Jahren zuvor bestrebt, unliebsamen Protest und direkte Aktionen mit Repression und willkürlichen Beschränkungen der Freiheitsrechte zu unterbinden. Dennoch habe sich in Nizza mit den bisher größten Protesten gegen die EU-Politik »die Kontur eines anderen Europa abgezeichnet, eines sozialen, demokratischen und solidarischen Europa.«

© junge Welt

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