Die (unmgögliche) Geometrie? der Macht in Mexiko
von ketchupita - 22.06.2005 19:54
http://germany.indymedia.org/2005/06/121287.shtml

Chiapas/EZLN:
Übersetzung des Kommuniqués von Subcomandante Insurgente Marcos vom 20.06.05, dessen Veröffentlichung der Bekanntgabe der Alarmstufe Rot unmittelbar vorausging

Die (unmögliche) Geometrie? der Macht in Mexiko

20.06.05

Subcomandante Insurgente Marcos

Oder Geografie? Nein, Geografie ist das mit Norden, Süden, Osten und Westen. Oder sollte es Geologie heißen? Nein, die beschäftigt sich mit Steinen (wie in dem Reim "was für ein schönes Steinchen, um darüber zu stolpern"). Bei der Geometrie geht es um Fläche, Volumen, Länge, Breite und Denken-Sie-nichts-Unanständiges. Mmh ... jetzt bin ich aber wieder witzig. Vielleicht, weil es vielen missfallen wird, was wir sagen werden. Weil wir uns auf den angeblichen Unterschied zwischen der Rechten, der Mitte und der Linken in der Politik von oben beziehen werden. Und da fangen schon die Schwierigkeiten an: Ultrarechte, gemäßigte Rechte, konfessionelle Rechte, Linke "getreu den Institutionen", Ultralinke oder radikale Linke, gemäßigte Linke, Mitte, Mitte-Links, Mitte-Rechts, Mitte-Mitte, Mittelfeldspieler und Mittelstürmer. Aber oben sagen sie, das sie das Eine oder das Andere sind, je nachdem, was der neue Finger vorgibt, also das Rating. Die, die wir an einem Tag an einer Stelle sehen, befinden sich am nächsten schon wieder ganz woanders. Das heißt, das Ganze ist eigentlich ein Lacher. Oder eine unmögliche Geometrie.

Beim Versuch, diese Geometrie zu verstehen, muss man unserer Meinung nach in Betracht ziehen, dass der Kapitalismus mit der neoliberalen Globalisierung einen authentischen Weltkrieg führt, überall und in jeder Form. Dieser Krieg zerstört nicht nur unter anderem die sozialen Beziehungen. Er versucht auch, sie nach der Logik des Siegers neu zu ordnen. Zwischen den Trümmern dieses Reconquista-Krieges sind die materiellen und ökonomischen Grundlagen des traditionellen Staates-Nation begraben. Aber nicht nur das, es werden auch traditionelle Herrschaftsapperate und -formen zerstört oder zumindest schwer beschädigt (die Beziehungen zwischen Beherrscher-Beherrschter, Beherrscher-Beherrscher, und Beherrschter-Beherrschter). Insofern erreicht die Zerstörung auch die traditionelle politische Klasse, ihre Verfassung, ihre inneren Beziehungen, ihre Beziehungen zum Rest der Gesellschaft (nicht nur zu den Beherrschten) und ihre Beziehungen zu den politischen Klassen anderer Nationen (die so genannten internationalen Beziehungen). Auf diese Art und Weise hat der neoliberale Krieg die traditionelle Politik verstümmelt und lässt sie zum Rhythmus eines Werbespots marschieren, und die durch die neoliberale Bombe in der mexikanischen Politik verursachte Zerstörung hat ein solches Ausmaß, dass es sogar nach unserem bescheidenen Standpunkt da oben nichts auszurichten gibt. Wenn überhaupt, dann nur Comedy-Shows. Es wird zum Beispiel angenommen, dass es da oben eine Mitte, eine Linke und eine Rechte gibt. Aber im Wahlkampf drängen sich plötzlich alle in die Mitte. Als ob sich die Geometrie zusammenzieht und alle sich in die Mitte drängeln und rufen: "ICH BIN ES" ...

"Ich bin es", sagt die Partei der Nationalen Aktion (PAN).

Die PAN, Partei der Sehnsucht nach dem demokratischen Kampf, Gómez Morín und dem "politischen Humanismus". Der Sehnsucht nach Opus Dei, MURO[1], ACJM[2] und Canoa. Der Sehnsucht nach dem Cristero-Krieg[3], dem heiligen Tuch und dem Cerro del Cubilete[4]. Der Sehnsucht nach dem guten Gewissen, der guten Tradition, dem guten Menschen. Der Sehnsucht nach dem kulturellen Triumph und der Rubrik Soziales in den Zeitungen (als sich diese noch von der Kriminalrubrik unterschied). Der Sehnsucht nach Maximiliano, Carlota, Elton John und der Zeit, als wir noch ein Imperium waren. Der Sehnsucht nach der sonntäglichen Aspirin, vom Päderasten von der Kanzel aus verteilt, dem Ring der Besuche vom und beim Papst, und nach den spirituellen Exerzitien nach dem Motto "retten wir die Welt vom kommunistischen Teufel, seien wir die Soldaten Gottes". Der Sehnsucht nach Bridgenachmittagen, Teerunden, den Caballeros de Colón[5]. Der Sehnsucht nach dem Verbrennen der Wahlzettel von 1988 und der Ko-Regierung mit der PRI. Der Sehnsucht nach einem Kalender, in dem sie nicht waren. Der Sehnsucht nach "das Vaterland, mein Gut, ist die Geschichte in einem Konvent verschlossen".

Ebenso wie die derzeitige Bundesregierung wird die PAN heute von der ultrarechten Organisation El Yunque angeführt. Unter deren Gewicht liegt die alte PAN und ihre Sehnsucht nach den mit blauen Decken bekleideten Familien begraben. Und es ist El Yunque, die (wird behauptet) uns versucht zu überzeugen, dass die PAN jetzt eine politische Organisation der Mitte ist. Und sie präsentiert uns als mögliche Präsidenten eine Konstellation von mittelmäßigen Kandidaten, in der sich, Ehre wem Ehre gebührt, der graue Coupier Santiago Creel Miranda hervorhebt (ich glaube, bin aber nicht sicher, dass er vorübergehend Regierungssekretär bei Fox-Sahagún war - heute weint er sich an der Schulter der Koyotin Fernández de Cevallos aus - ). Eine Liste vorläufiger Kandidaten, in der die Einzige, bei der es zu einem wahren Wettstreit kommen könnte, nicht erscheint ... noch nicht. Aber sie bewegt schon die Stücke, die ihr El Yunque zuspielt, um sich einzuschleichen. Erstens, um einen Posten zu haben, der ihr Immunität garantiert (die Andrés Manuel López Obrador auch schon versprach, ohne dass ihn jemand darum bat - jedenfalls nicht öffentlich - ), und zweitens, um, wenn die Luft aus Creels flüchtigem Ballon raus ist, dem Jammergeschrei nachzugeben, das sie in den Katakomben der Rechten bittet, anfleht, ersucht und auffordert, Präsidentschaftskandidatin für Mexiko zu werden. Kandidatin der Mitte natürlich.

"Ich bin es", sagt die Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI).

PRI, die Partei der "stabilisierenden Entwicklung". Schöpferin des Staatsparteiensystems, seinerzeit von den Analysen von José Revueltas, Adolfo Gilly, Daniel Cosío Villegas, Pablo Gonzáles Casanova bloßgestellt. Partei des "Mister Amigou". Partei der Unterdrückung der Ärzte, Eisenbahner und Elektriker. Partei der Massaker vom 2. Oktober 68 und vom 10. Juni 1971. Des schmutzigen Krieges der 70er und 80er. Der Devalvation. Des Wahlbetrugs. Der "verrückten Mäuse", "Schuh-Kabinen", der "Operation Tamal"[6], der Wahldemokratie, die sich in dem Slogan "Tute und Basecap, Erfrischungsgetränk und belegtes Brot" zusammenfassen lässt. Des Diebstahls, der Enteignung, des Betrugs, des Mordes, an Arbeitern, Campesinos, Studenten, Lehrern, Angestellten. Partei von Fidel Velásquez, Rodríguez Alcaine, Jonguitud, Elba Esther Gordillo. Der Colina del Perro[7]. Von Absalón Castellanos. Partei des Wahlbetrugs von 88. Des Clans Salinas de Gortari. Der Konterreform des Artikels 27 der Verfassung. Des frustrierten Eintritts in die Erste Welt. Des Massakers auf dem Markt von Ocosingo. Des einsamen Aburto und noch einsameren Colosio. Des Verrats vom Februar 95. Der Mehrwertsteuer. Von Acteal, El Charco und Aguas Blancas. Des Beginns des Albtraums in Ciudad Juárez. Von "ich habe kein Cash dabei". Der gewaltsamen Beendigung des Studentenstreiks an der UNAM 1999. Partei, die die Geschichte zur Wahlkampfpropaganda machte. Der Einführung neoliberaler Politik, welche die Fundamente Mexikos zerstört hat. Der Privatisierung staatlicher und halbstaatlicher Betriebe. Der Immunitätsaufhebung. Des organisierten Verbrechens in der politischen Partei. Des "das-Vaterland-mein-Gut-ist-eine-Hure-die-sich-dem-Allertollsten-hingibt-also-mir-selbst".

Über die PRI gibt es dem bereits Gesagten und unter ihr Erlittenen nicht viel hinzuzufügen. Die PRI, hervorgegangen aus der mexikanischen Revolution von 1910, ist heutzutage die Partei mit den besten Möglichkeiten, eine neue Revolution im ganzen Land zu verursachen. Die PRI hat keine Verbindung zum organisierten Verbrechen: sie ist Teil der Führung der Kartelle, die verantwortlich sind für den Drogenhandel, Entführungen, Prostitution, Menschenhandel. Der Zynismus, mit dem ihre Anführer die Erinnerung wegwerfen, bringt sie dazu, so zu sprechen und zu handeln, als hätten sie nicht 70 Jahre lang die Macht missbraucht und sich an ihr bereichert. Die Vorkampagnen und Kampagnen der PRI sind das beste Mittel, die Empörung der Menschen zu provozieren ... und ihre Rebellion.

Beispiele? Enrique Jackson finanziert seinen Wahlkampf mit Geldern aus dem organisierten Verbrechen, d.h. aus Drogenhandel, Prostitution und Entführung. Seine Wahlkampfwerbung im Fernsehen finanziert er aus den Lösegeldern, die er für die entführten Mitglieder reicher Familien erhält, denen er jetzt "Ordnung" zur Sternstunde verspricht. An seiner Seite ist Roberto Madrazo, ein skrupelloser Gangster, nach der Planung der Eliminierung seiner Konkurrenten nun zur Planung seiner eigenen Sicherheit übergegangen, damit er nicht selbst umgebracht wird (obwohl es ihn kaum schützt, den "Croquetas" Albores als Schoßhündchen mit sich herumzutragen). Montiel, Yarrington und Martínez ihrerseits gehen derweil die Liste ihrer Revolverhelden durch, und die Paredes seufzt, bzw. lauert. In bester PRI-Tradition wird sich die Kandidatur in den Kloaken der politischen Macht klären (d.h. Elba Esther wird entscheiden). Die kriminelle Gewalt, die das Land geißelt, ist nichts weiter als der Kampf der Kartelle um die Präsidentschaftskandidatur der PRI. Die Verlierer werden, mit ihren PRI-Chefs, gehen, aber nicht ins Gefängnis ... sondern zur PRD. Wer bleibt, wird sagen, sie gehöre zum Zentrum.

"Ich bin es", sagt die Partei der Demokratischen Revolution (PRD).

PRD, die Partei der "taktischen Fehler". Des taktischen Fehlers, mit ihren Wahlkoalitionen die als Parteien verkleideten Familienunternehmen zu stärken. Des taktischen Fehlers, sich in einigen Bundesstaaten mit der PAN zu verbünden und in anderen mit der PRI. Des taktischen Fehlers der Konterreform zur Indígena-Reform und der Paramilitärs in Zinacantán. Des taktischen Fehlers von Rosario Robles und den Skandalvideos. Des taktischen Fehlers, die Studentenbewegung der UNAM 1999 zu bedrohen und zu unterdrücken. Des taktischen Fehlers des "Ebrard-Gesetzes" und des "Monsanto-Gesetzes". Des taktischen Fehlers, den Zócalo von Mexiko Stadt den Event-Monopolen zu überlassen. Des taktischen Fehlers, sich mit den Psalmisten zusammenzuschließen. Des taktischen Fehlers der importierten "Zero-Tolerance-Politik" und der Verfolgung von Jugendlichen, Homosexuellen und Lesben wegen ihres "Verbrechens", anders zu sein. Des taktischen Fehlers, die Erinnerung ihrer Toten zu verraten, deren Mörder zu ihren Kandidaten zu ernennen und die Übriggebliebenen der PRI-Kandidatur zu recyclen. Des taktischen Fehlers, Bürgerbewegungen in die Bürokratie von Partei und Staat umzuwandeln. Des taktischen Fehlers, den Tod von Digna Ochoa und Pável González zu manipulieren, um der Rechten zu schmeicheln. Des taktischen Fehlers, sich nicht bezüglich der Widerstands- und Befreiungsbewegungen in anderen Ländern zu definieren, den Kopf zu senken vor der Macht der USA und zu versuchen, sich das Wohlwollen der Mächtigen zu sichern. Des taktischen Fehlers der innerparteilichen Kämpfe und des Betrugs bei internen Wahlen.

Die Partei des taktischen Fehlers der Allianz mit dem Drogenhandel in Mexiko Stadt. Des taktischen Fehlers, die Leute um Geld zu bitten mit der Lüge, es sei dafür bestimmt, "unter Wasser" den Zapatistas zu helfen. Des taktischen Fehlers der beschämenden Tatsache, den reaktionärsten Kräften des Klerus zu folgen. Des taktischen Fehlers, die Toten im Kampf als Freibrief zum Raub, zur Enteignung, Korruption und Unterdrückung zu benutzen. Des taktischen Fehlers, verrückt vor Zufriedenheit über ihre Sammlung taktischer Fehler, in die Mitte zu rennen. Des taktischen Fehlers des "das Vaterland, mein Gut, ist nicht mehr als ein umstrittenes Budget".

Und in der Mitte der PRD ... "Ich bin es", sagt Andrés Manuel López Obrador, AMLO.

Gegen AMLO erhob sich das (einst glückliche) Präsidentenpaar, wie gezogene Waffen in der einen Hand die PGR, in der anderen den Obersten Gerichtshof, den Kongress der Union hinter Schloss und Riegel und die Massenmedien mit der Aufgabe, den Verlust bei den Ratings seiner Reality-Shows und Comedy-Einlagen auszugleichen. Der Prozess der Immunitätsaufhebung war nicht nur eine Komödie mit tragischen Verzierungen, sondern auch ein Indikator der Unzufriedenheit des Volkes (nein mein Guter, man kann die Leute heutzutage nicht mehr so auf die Schippe nehmen wie früher) und vor allem ein vorzüglicher Wahlschub ... für den Ausgestoßenen.

Und gegen AMLO erhebt sich Cárdenas Solórzano und beschuldigt ihn, sich von Anfang an als zum Zentrum gehörig erklärt zu haben und nicht seiner Tradition gefolgt zu sein, sich zumindest zu Anfang als links zu erklären ... und dann mit Voranschreiten der Kampagne zur Mitte zu rennen. Er kritisiert ihn wegen seiner Kontrolle über die PRD und dass er diese beliebig ausnutzt ... nachdem Cárdenas das selbst jahrelang tat. Er wirft ihm seine Allianzen vor und vergisst, dass auf den Allianzen von Cárdenas selbst die Bereicherung von Familien (wie der Partei der Nationalistischen Gesellschaft der Rojas-Familie) und die Verbindung der PRD mit dem Synarchismus basiert - derselben, die mit der Akzeptanz der Bewerbung beider Parteien 2002 die Juárez-Statue verhüllte (Partei der Sozialen Aktion) - . López Obrador. Der AMLO, auf die Höhen der "modernen" Demokratie projiziert (d.h. der Umfragen) durch die absurde und lächerliche Kampagne des Präsidentenpaares. Der die Bürgerbewegung gegen den Autoritarismus der Immunitätsaufhebung in einen Akt der persönliche Promotion und einen Wahlkampfstriptease umwandelte. Der bei der Mobilisierung gegen die Immunitätsaufhebung nicht den Satz sagte, der wirklich angebracht gewesen wäre, nämlich "kein Anführer hat das Recht, eine Bewegung, die einer gerechten Sache dient, anzuführen, um sie hinter dem Rücken der Mehrheit für seine eigene Machtsuche zu missbrauchen und mit ihr zu diesem Zweck zu handeln." Der zu einem Schweigemarsch aufruft und ihn, statt ihn zu respektieren, dazu benutzt, zur Macht zu sprechen und allen das Wort eines Einzigen aufzuzwingen. Der mit Hilfe von Alchemie 1,600,000 mal Schweigen in die Stimme von Don Porfirio umwandelt, die trotz des (diesmal wirklich "historischen") Pfeifkonzerts vom eigentlichen Gesprächspartner jenes Marsches gehört wurde: der Macht. Der den Volkstriumph des Marsches vom 24. April durcheinanderbrachte (und wertlos machte) und ihn in eine persönliche Errungenschaft in seiner Präsidentschaftskarriere umwandelte. Der Ex-Ausgestoßene. Der die Macht der Willkür beschuldigte, um dann mit ihr gegenseitige Entlastungen auszutauschen. Der Denunziant von "Komplotts", der dann die als "Staatsmänner" lobt, die er vorher der Anzettelung der Verschwörungen beschuldigt hatte. Der als eines seiner ersten Indígena-"Unterstützungskomitees" in Chiapas die Kaziken und Paramilitärs von Zinacantán hat, jene, die am 10. April 2004 die zapatistische Demonstration angriffen. Der sich schon selbst mit dem Präsidentenband sieht. Der als eines der ersten Regierungsangebote die Straflosigkeit derer garantierte, die soziale Kämpfer umgebracht und verschwinden lassen haben, die Mexiko ins Elend gestürzt und sich auf Kosten des Schmerzes aller bereichert haben. Der mit seinen Handlungen den Menschen die Botschaft übermittelt, "ich verachte euch ungeheuerlich".

López Obrador. Der sich selbst mit Francisco I. Madero verglich ... und dabei vergaß, dass die Gemeinsamkeit nicht damit endet, dass der Demokrat von Porfirio Díaz eingesperrt wurde, sondern dass die Geschichte mit einem Madero weitergeht, der seine Regierung mit ebendiesen Porfiristas bildete (und von einem von ihnen verraten wurde). Mit dem Madero, der sich, indem er den Forderungen der Besitzlosen den Rücken kehrte, der Aufgabe widmete, die gleiche rassistische Wirtschaftsstruktur der Ausbeutung und Vertreibung des porfiristischen Systems zu erhalten. Diese Details wurden von AMLO und den Stieglitzen, die an seiner Seite herumflattern, "vergessen".

Und vor allem "vergaßen" sie, dass die Zapatistas gegenüber Madero den Plan de Ayala hochhielten, jenen Plan, über den Madero sinngemäß äußerte, "veröffentlicht ihn nur, damit alle merken, dass dieser Zapata verrückt ist". Aber genug mit vergangenen Geschichten und Vergleichen. Wir stehen am Anfang des XXI. Jahrhunderts und nicht des XX., vor einer vorgezogenen Folge der skrupellosen Ambition einer Frau.

Um herauszufinden, was jemand vorhat, der nach der Macht strebt, darf man nicht darauf hören, was er nach unten erzählt, sondern auf das, was er nach oben sagt (zum Beispiel in den Interviews mit den US-Zeitungen New York Times und Financial Times). Man muss darauf achten, was er denen anbietet, die in Wirklichkeit herrschen.

Das zentrale Angebot des Präsidentschaftsprogrammes von AMLO ist nicht, im Nationalpalast zu leben und den Regierungssitz Los Pinos in eine neue Sektion des Freizeitparkes Bosque de Chapultepec umzuwandeln. Es ist die "makroökonomische Stabilität", das bedeutet, "wachsende Gewinne für die Reichen, wachsendes Elend und Enteignungen der Besitzlosen, und eine Ordnung, mit der die Unzufriedenheit letzterer unter Kontrolle gehalten wird".

Bei der Kritik am Projekt von AMLO handelt es sich nicht um die Kritik eines Projektes der Linken, denn das ist es nicht, das hat López Obrador der Macht ganz oben erklärt und versprochen. Er hat sich klar ausgedrückt, und das sehen nur die nicht, die es nicht sehen wollen (oder denen es nicht passt, das zu sehen), und so bemühen sie sich weiter, ihn als einen Mann der Linken zu betrachten und darzustellen. Das Projekt AMLO's, so hat er es selbst definiert, ist ein Projekt der Mitte.

Und die Mitte ist nichts anderes als eine gemäßigte Rechte, ein Tor zur Klinik für plastische Chirurgie, die aus sozialen Kämpfern Tyrannen und Zyniker macht, eine stabilisierte Makroökonomie mit höheren Etagen und morgendlichen Pressekonferenzen.

Wir haben die Regierung von AMLO in Mexiko Stadt näher betrachtet und analysiert. Und zwar nicht in der Presse, in den auserwählten Kreisen oder den höheren Etagen, sondern unten, auf der Straße. Wir glauben, dass dort der Ursprung eines Autoritarismus und eines sechsjährigen persönlichen Projektes liegt. Das Bild, das AMLO von Carlos Salinas de Gortari zeichnet, ist in Wirklichkeit ein Spiegel. So erklärt sich auch die Zusammenstellung seines Teams, ebenso wie sein Programm, das dem Programm des "sozialen Liberalismus" von Salinas so nahe steht. Sagte ich 'nahe steht'? Besser gesagt ist es die Fortsetzung dieses Programms. Das ist noch geheim, aufgrund der überwältigenden Dummheit der Ultrarechten (die einem Elefanten im Porzellanladen gleicht) und aufgrund des gleichen ideologischen Chaos, das die mexikanische Politklasse beherrscht, aber es wird bald öffentlich werden. Vielleicht liegt es an dieser Geheimhaltung, dass einige Intellektuelle, ebenso wie herausragende soziale KämpferInnen, ihren heißen Atem dem Ei der Schlange geben, die heute in der Regierung der Stadt Mexiko nistet.

Mit López Obrador haben wir keinen nostalgischen Führer einer revolutionären nationalistischen Vergangenheit vor uns, sondern jemanden mit einem sehr klaren Projekt für die Gegenwart ... und für die Zukunft. AMLO denkt nicht daran, sein Projekt in nur einem Sechsjahreszeitraum umzusetzen (deswegen ist sein Team auch das mit den berühmten Worten "wir werden viele Jahre regieren"). Und entgegen den Erwartungen einiger bietet López Obrador nicht die Rückkehr in eine populistische Vergangenheit, die die wirtschaftliche Macht so niederschmettert. Nein, AMLO bietet eine "moderne" Vermittlung und Verwaltung (also mit dem, was Salinas de Gortari nicht zu Ende geführt hatte). Und noch mehr: er bietet die Schaffung der Grundlagen eines "modernen" Staates, deswegen auch seine Anstrengungen, sich von Lula, Chávez, Castro und Tabaré abzugrenzen. Und das Angebot richtet er nicht an die unten oder an das, was von der mexikanischen Nation noch übrig ist, sondern an die wirklichen Herrscher: die internationale Finanzmacht. Seine Administration wird nicht neoliberal mit der linken Hand sein (Lula in Brasilien, Tabaré in Uruguay, Kirchner in Argentinien), auch keine sozialistische Regierung (Castro in Kuba), und auch kein populärer Nationalismus (Chávez in Venezuela), sondern ein NEUES MODELL DES NICHT-NATIONALSTAATES (jene Missgeburt des neoliberalen Krieges) in Lateinamerika.

Wenn Carlos Salinas de Gortari das Musterbeispiel eines Regierenden im Sinne der neoliberalen Zerstörung in Mexiko war, will López Obrador das Paradigma des Regierenden werden, der die neoliberale Neuordnung durchsetzt. Das ist sein Projekt. Es fehlt nur noch, dass sie ihn lassen oder er kann.

Wir wollen uns nicht der Disqualifizierung von AMLO widmen (das wird schon die PRD übernehmen und besser könnte es auch keiner - insbesondere beim Kampf um die Kandidatur für die Regierung von Mexiko Stadt - ), aber wir sehen es als unsere Pflicht an, zu warnen, zu definieren und uns selbst zu definieren. Das ist notwendig, weil in der Logik von oben, bei der es darum geht, scheinbar etwas zu verändern mit dem Ziel, das alles beim Alten bleibt, eine nicht eindeutige Definition zu einer expliziten Unterstützungserklärung wird: "wenn jemand nicht gegen uns ist, dann ist er für uns". Die Definition gegenüber (und nicht neben) dem, was López Obrador repräsentiert, ist unumgänglich. Sein Vorschlag (und da gibt es keinen Unterschied zum Vorschlag von Cárdenas in der PRD, und auch zu keinem anderen Vorschlag jeglicher möglicher Kandidaten jeglicher Parteien in der superbevölkerten politischen "Mitte" Mexikos zur Hälfte des Jahres 2005) ist, VON OBEN UND FÜR OBEN die Leere auszufüllen, die durch die neoliberale Hekatombe[8] entstanden ist.

Zusammengefasst heißt das, dass da oben Gemeinheit, Unverfrorenheit, Zynismus und Skrupellosigkeit regieren.

Das ist es, was wir über die politische Geometrie im Mexiko von oben denken. Etwas anderes zu sagen wäre eine Lüge und der Versuch, die zu täuschen, die wir niemals getäuscht haben: an erster Stelle uns selbst, aber auch die Menschen allgemein. Wir werden wütend und empört, wenn wir sehen, was wir sehen, und wir werden kämpfen, um zu verhindern, dass diese Mistkerle mit ihrem Teil davonkommen.

Denn es ist der Zeitpunkt gekommen, den Kampf zu beginnen, damit alle, die da oben die Geschichte verachten und uns verachten, Rechenschaft ablegen, damit sie bezahlen.

Nun gut. Gesundheit und Achtung, denn unten zeigt die Uhr schon die sechste Stunde an.

Aus den Bergen des mexikanischen Südostens.

Subcomandante Insurgente Marcos

México, im sechsten Monat des Jahres 2005

PS: ÜBER CHIAPAS. Wenn die Juntas der Guten Regierung zu einem früheren Zeitpunkt darüber informiert haben, dass es einige Beziehungen zur Regierung von Chiapas gab, so informieren sie jetzt darüber, dass diese Beziehungen seit Dezember letzten Jahres beendet wurden, da die Regierung die wenigen Verpflichtungen, die sie einging, nicht erfüllte. Weder gab es Entschädigungen noch Regulierungen, und keine Rechtssprechung in den wenigen Fällen, in denen sie von ihr gefordert wurde. Sie erfüllten nichts, denn in Wirklichkeit sind sie genauso rassistisch wie alle anderen. Sie sind von Autoritarismus und Hochmut besessen, die lokale Justiz widmet sich dem Menschenschmuggel, Budgets werden für die Mädchen ausgegeben, die sich in den Anzeigen der entsprechenden Sektionen der örtlichen Zeitungen anpreisen oder auf dem Strich arbeiten, das Geld wird in lächerlichen und beschämenden Beeinflussungskampagnen verschwendet und in Kampagnen zur Entwürdigung von Gegnern (zum Beispiel die gegen die Lehrerbewegung vor einigen Wochen) sowie in Promotionskampagnen, wo die eigene Persönlichkeit angebetet wird. Tja.

***

Übersetzung: Katja

[1] eine extrem rechte Universitätsgruppe (Anm. d. Üs.)

[2] eine katholische Jugendorganisation (Anm. d. Üs.)

[3] bewaffneter Konflikt zwischen Kirche und Staat un Mexiko 1926-1929, als Reaktion auf die anti-klerischen Bestimmungen der Verfassung von 1917 (Anm. d. Üs.)

[4] christlicher Wallfahrtsort in Guanajato, Mexiko(Anm. d. Üs.)

[5] weltweit größte Organisation katholischer Männer (Anm. d. Üs.)

[6] diese Begriffe beziehen sich auf spezifische Methoden des Wahlbetrugs und wurden mangels deutscher Entsprechung wörtlich übersetzt (Anm. d. Üs.)

[7] Bezeichnung des Wohnsitzes der Familie López Portillo-Romano (Anspielung auf den Satz von José López Portillo: "Defenderé el peso como un perro". - Ich werde den Peso verteidigen wie ein Hund) (Anm. d. Üs.)

[8] einem unheilvollen Ereignis o. Ä. zum Opfer gefallene, erschütternd große Zahl, Menge von Menschen (Anm. d. Üs.)


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