Der Frühling Venezuelas 16/1/2003

In dem Augenblick in dem diese Zeilen geschrieben werden, dauern die Proteste der Opposition in Venezuela bereits über 46 Tage an. Am 4. Dezember rief ein Bündnis aus den ehemaligen Regierungsparteien, dem Unternehmerverband und der korrupten gelben Gewerkschaft CTV zu einem Streik auf. Dieser wurde, außer von den Eliten des Landes, kaum befolgt. So reagierte die Opposition mit Sabotage des staatlichen Erdölunternehmens PDVSA, das 80 Prozent der Deviseneinnahmen Venezuelas erwirtschaftet, und mit einer Radikalisierung der Proteste sowie zahlreichen Gewaltakten, um ein Chaos herbeizuführen, das eine Intervention oder einen erneuten Putschversuch rechtfertigen kann. Da die Medien fest in oppositioneller Hand sind, ist es schwer etwas über den tatsächlichen Erfolg der Proteste und die Situation in Venezulea zu erfahren. Doch allein die Tatsache, dass das Land nach über einem Monat vermeintlichen Streiks der Arbeitgeber und Unternehmer nicht zusammen gebrochen ist, sollte am Wahrheitsgehalt der auch in Europa medial verbreiteten Eindrücke über Venezuela zweifeln lassen. Entgegen der üblichen Darstellungen, genießt Chávez höchstwahrscheinlich immer noch das Vertrauen der Mehrheit der venezolanischen Bevölkerung, vor allem der 80 Prozent, die in Armut leben. Und das ist der Grund warum die Opposition auf das Gaspedal drückt und einen sofortigen Rücktritt Chávez sowie eine Volksabstimmung Anfang Februar fordert. Die venezolanische Verfassung sieht zur Hälfte der Amtszeit eines jeden Politikers die Möglichkeit einer Volksabstimmung über sein Schicksal vor. Im Falle Chávez wäre dies im August. Doch das ist der Opposition zu lange und zu unsicher. Selbst die New York Times schrieb Ende des Jahres es sei durchaus möglich, dass Chávez eine Volksabstimmung gewinne.

Den USA ist Chávez schon seit seiner Amtsübernahme ein Dorn im Auge. Der Präsident, der sein politisches Projekt der "bolivaranischen Revolution" nach Simón Bolivar benennt, der zu Beginn des 19. Jh. für die Unabhängigkeit und Einigkeit Lateinamerikas kämpfte, bringt die geostrategischen Vorhaben der US-Regierung durcheinander. Er pflegt hervorragende Beziehungen zu Kuba das von Venezuela - ebenso wie alle anderen mittelamerikanischen und karibischen Staaten zur Erhaltung einer gewissen Unabhängigkeit - Erdöl zum Vorzugspreis erhält. Im Gegenzug zählt Venezuela auf kubanische Unterstützung beim Umbau des Erziehungs- und Gesundheitssystems. Chávez hat sich auch gegen das gesamtamerikanische Freihandelsabkommen FTTA ausgesprochen. Er will das neoliberale Prestigeprojekt der US-Regierung mit der vorliegenden Ausrichtung nicht unterstützen und setzt offen auf den "lateinamerikanischen Weg", also eine Stärkung des regionalen Zusammenhangs. Mit dem Vorsitz der OPEC betraut bemühte sich Venezuela diese wieder zu einer einheitlichen und verbindlichen Preis- und Förderpolitik zu führen und die Preise nach oben zu drücken. Sein Amtsantritt durchkreuzte das Vorhaben der USA Kolumbien militärisch einzukreisen und eine internationale Intervention gegen die Guerilla vorzubereiten, da er jeder militärischen Aktion gegen die kolumbianische Guerilla eine Absage erteilte und den USA verbot venezolanisches Territorium zu überfliegen.

Chávez wurde 1998 von 60 Prozent der Bevölkerung gewählt, die einem breit angelegten und partizipativen Prozess entstandene neue Verfassung wurde in einer Volksabstimmung von etwa 80 Prozent angenommen und Chávez daraufhin in einer neuen Abstimmung mit fast 60 Prozent für sechs Jahre als Präsident der neuen Republik bestätigt.

Die neue Verfassung Venezuelas, die unter lateinamerikanischen Juristen als die fortschrittlichste des Kontinents gilt, enthält 80 Artikel, die sich mit der sozialen Organisierung und dem Recht der Bevölkerung auf Beteiligung an öffentlichen Entscheidungen beschäftigen. Das betrifft sowohl die Entscheidungsfindung des Staates als auch die öffentliche Kontrolle der Gelder.

Nach den Wahlen 1998 begann für Chávez der schwierige Prozess eines Umbaus Venezuelas. Dabei hat er heute noch gegen die sogenannte "doppelte Macht" zu kämpfen, d.h. das viele Institutionen noch von der Opposition besetzt sind und die Chavez-Regierung sich absolut an alle Gesetze hält und auch an das Arbeitsrecht, dem in der neuen Verfassung ist eine zentrale Rolle zukommt. Daher führen Ministerialbeamte Entscheidungen nicht aus und die Korruption ist noch groß. Die Justiz geht kaum gegen Saboteure und Gewalttäter der Opposition vor. Der Oberste Gerichtshof wird von der Opposition kontrolliert und entschied sogar, dass es sich bei dem Putsch im April nicht um einen Putsch handelte. Zudem befanden sich auch in den eigenen Reihen zahlreiche Opportunisten, Karrieristen und korrupte Gestalten. Dies hat viele Vorhaben der Chávez-Regierung zunichte gemacht.

Dennoch gelang im Laufe der vergangenen Jahre so einiges.

So z.B., dass 1 Million neue Schulplätze geschaffen wurden, das Schulen wiedereröffnet anstatt geschlossen wurden, das Schulen und Universitäten gratis sind ebenso wie die Gesundheitsversorgung. Dafür wurden die Staatsausgaben für das Gesundheitswesen auf acht Prozent erhöht und die Gelder für Bildung verdoppelt. Die vorher eingeleitete Privatisierung des Gesundheitssektors und der sozialen Sicherungssysteme wurde abgebrochen. Es wurden über 92.000 Sozialwohnungen gebaut und mehrere Millionen Menschen an die Trinkwasserversorgung angeschlossen, ein spezielles Kooperativengesetz mit vielen Begünstigungen geschaffen und mit Gründung einer Frauenbank, einer Volksbank und eines Dezentralisationsfond ein breiterer Zugang zu Kapital zu Vorzugskonditionen geschaffen. Und selbst die Kindersterblichkeitsrate fiel in wenigen Jahren von 2,1% auf 1,7%.

Und wo war die heutige Opposition in den vergangenen Jahren? Lange Zeit übte sie sich in der Hoffnung der Prozess würde Scheitern, sie bestachen Regierungsabgeordnete, und warteten auf den Kollaps der Regierung oder der Wirtschaft. Doch das geschah nicht.

Und vor allem erließ Chávez im Dezember 2001 ein 49 Dekrete umfassendes Gesetzespaket, das die Unternehmer und die transnationalen Konzerne aufbrachte: Der aufgeblähte Verwaltungsapparat wird reduziert, staatliche Subventionen für Privatunternehmen sind steuerpflichtig; die Banken - und nicht wie bisher der Staat - müssen für ihre Schulden selbst aufkommen; das Steuersystem wird so umgestaltet, dass die unteren Einkommensschichten gar nichts oder einen geringeren Prozentsatz bezahlen als die oberen; ein Sozialfond soll die Ernährungssituation verbessern und die Bildung von Kooperativen unterstützen; die Kontrolle über die Rohstoffe wird stärker in die Hände des Staates gelegt; die Erdölförderung durch transnationale Konzerne wird stärker besteuert; die Regierung legt die Strompreise fest, Großgrundbesitz wird stark eingeschränkt und die indianischen Gemeinden erhalten die Kontrolle über ihr Land, genutzte Gewässer und dort befindliche Bodenschätze.

Die Landverteilungen gehen zwar langsam vor sich - bisher haben einige zehntausend Familien Land erhalten - aber das hängt damit zusammen, dass sie von Kleinkredit- und landwirtschaftlichen Bildungsprogrammen begleitet werden. In den Armenstadtteilen wurden lokale Komitees für städtisches Land (CTU) gegründet, die in Absprache mit den Regierungsministerien die Legalisierung besetzter Grundstücke organisieren. Ein Prozess der auch durch die Proteste nicht unterbrochen wurde. Zuletzt Anfang Januar verteilte Präsident Chávez 1.100 Grundbesitztitel in einem Armenviertel von Caracas.

Hier wird auch verständlich warum Chávez das Vertrauen der Armen Venezuelas und vor allem der über 25% schwarzen und indigenen Venezolaner genießt. Alle Indianerorganisationen Venezuelas unterstützen den bolivarianischen Prozess und die indianischen Abgeordneten sind an der Regierung beteiligt. Daher ist auch ein Element in der Anti-Chavez-Kampagne der weißen Oberschicht ein offener Rassismus, der Chavez (mit seiner gemischt weißen, indigenen und afro-karibischen Herkunft) als Teil des "schwarzen und indianischen Pöbels" zu diskreditieren versucht. Doch sowohl die diesem "Streik" vorangehenden drei Protestwellen der Oligarchie, wie auch der Putschversuch im April scheiterten.

Der nächste Schritt der Regierung, der die Opposition verärgerte, ist der Versuch endlich die Kontrolle über das staatliche Erdölunternehmen PDVSA zu erlangen. Die PDVSA ist das unproduktivste Erdölunternehmen der Welt. 80 Prozent der Einnahmen werden für laufende Kosten ausgegeben und nur etwa 20 Prozent fließen in die Staatskassen. Im Laufe der Jahrzehnte hat sich eine Elite den Konzern unter den Nagel gerissen und zahlt sich enorme Gehälter aus. Hinzu kommen zahlreiche Vergünstigungen, exklusive Clubanlagen für Urlaubsreisen und beträchtliche Schmiergeldzahlungen bei den Outsourcingmaßnahmen der PDVSA während der vergangenen Jahre.

Das Unternehmen fälschte über Jahrzehnte die Bilanzen und verweigerte sich jeder Kontrolle durch die Regierung und unabhängige Kräfte. Mit 18,7 Milliarden US-Dollar Auslandsschulden und der PDVSA als größter Devisenbringer will die Regierung die alteingesessenen Strukturen des Unternehmens reformieren und die Einnahmen für die gesamte Bevölkerung einsetzen. Ein Schritt, der die gesamte Elite und Opposition - die zudem bereits verkündet hat sowohl die PDVSA, wie auch die Gas- und Elektrizitätswerke privatisieren zu wollen - auf die Barrikaden gebracht hat. Das erklärt auch die Beteiligung des korrupten Gewerkschaftsverbandes CTV, der im wesentlichen eine Angestelltenelite vertritt. Repräsentativ ist die CTV nicht. Am vergangenen 1. Mai brachte sie gerade Mal einige Tausend Menschen auf die Straße, im Vergleich dazu mobilisierten der Bolivariansiche Gewerkschaftsverband und andere linke Gewerkschaften über zwei Millionen Menschen.

Vor allem hat der bolivarianische Prozess jedoch zu einer beispiellosen Organisierung und Mobilisierung der Massen geführt. Dieser Selbstorganisierungsprozess hat die Erwartungen aller an der Regierung beteiligten linken Parteien sowie linker Basisorganisationen bei weitem übertroffen. Beispiellos in Lateinamerika und der Welt ist wohl die Reaktion von mindestens drei Millionen Menschen, die den US-unterstützten Putsch im April durch ihre Reaktion in weniger als 48 Stunden wieder rückgängig machten und "ihre Regierung" wieder in den Amtssitz begleiteten. Und auch beim aktuellen Streik zeigt sich wieder die Reaktion der Bevölkerung, zehntausende schützen die Erdölanlagen vor oppositioneller Sabotage, andere melden sich freiwillig um Streikende zu ersetzen, Fabriken werden von Arbeitern besetzt und in Eigenregie übernommen, Millionen Menschen mobilisieren sich tagtäglich, um einen erneuten Putsch zu verhindern. "Die Regierung braucht den Notstand nicht auszurufen", so Luis Tascón, Abgeordneter der Chávez-Partei MVR (Bewegung V. Republik), "das tut die Bevölkerung auf der Straße".

Die Regierung unterstützte in jeder Hinsicht diesen Organisierungsprozess und vertraut - das wurde vor allem während des jüngsten Streiks deutlich - auf die Basis.

So entschieden sich die Regierung und die an ihr beteiligten Parteien auch nicht dafür einige zentral gesteuerte eigene Medien, als Gegengewicht zu dem reaktionären Medienapparat der Oligarchie aufzubauen, sondern die Entstehung von Gemeinschaftsmedien zu unterstützen, so wurden seit 1998 drei Community-TV-Sender und über 100 Basisradios ins Leben gerufen. Dies auf der Grundlage einer erleichterten Verteilung von Sendelizenzen, ein Verfahren das gemeinsam mit den Gemeinschaftsmedien ausgearbeitet wurde.

Chavez selbst hat einmal die Woche ein Fernsehprogramm in dem er zu aktuellen Ereignissen Stellung nimmt und seine Politik erläutert, einige Journalisten haben das zum Anlass genommen ihn dem Vorwurf staatlicher Propaganda zu machen. Dabei wurde meist verschwiegen, dass die Anführer der Opposition in allen Medien häufiger zu Wort kommen und selbst ihre Demonstrationen direkt übertragen wurden.

Die meisten TV-Sender gehören dem venezolanischen Medienmulti Gustavo Cisneros, der auch große Teile der lateinamerikanischen Medienlandschaft kontrolliert. Cisneros äußerte mehrmals er werde "keine Ruhe geben, bis der venezolanische Präsident aus dem Amt oder tot ist". So war Cisneros auch in den Putsch im April verwickelt, die zentrale Leitung des Putsches kam in den Räumen seines TV-Senders Venevision zusammen und er verließ nach dem Putsch überstürzt Venezuela und kehrte seitdem nicht wieder zurück.

Die Basisorganisationen Venezuelas folgen aber keineswegs kritiklos der Regierung und schon gar nicht Chávez. Ganz im Gegenteil, er ist durchaus massiver Kritik ausgesetzt und ein Großteil der Basis würde den Prozess noch weiter radikalisieren. Die venezolanische Gesellschaft erlebt einen Beispiellosen Partizipationsprozess.

In einem Aufruf der sozialen Bewegungen Venezuelas an die ganze Welt mit dem Titel "Den Frühling in Venezuela retten", von Ende Dezember, heißt es: "Die Ausgeschlossenen der Globalisierung ergreifen endlich das Wort. (...) Gestärkt durch unsere Bolivarische Verfassung - eine der demokratischsten der Welt - legalisieren wir die Wohnverhältnisse in den riesigen Arbeitervierteln, prüfen wir die Baustellen für unsere Schulen oder die Ausstattung unserer Krankenhäuser, stärken wir unsere Macht, indem wir einen neuen Lokalen Verwaltungsrat wählen, erschaffen uns unsere eigenen Bürgermedien in Radio und TV - unabhängig von dem Einfluss der Regierung, kämpfen wir für die Aufteilung der Ländereien an die armen Bauern, für die öffentliche Kontrolle der staatlichen Ölreserven und für die Ausweitung der Rechte der Frauen, die hier an der Spitze der sozialen Bewegung stehen." Die Unterzeichner, ATTAC-Venezuela, Venezolanisches Netz der Gemeinschaftsmedien, Nationale Vereinigung der alternativen und freien Gemeinschaftsmedien, Bauernbewegung Ezequiel Zamora beschuldigen die Oligarchie, transnationale Unternehmen, die USA und andere Staaten, den bolivarianischen Prozess zerstören zu wollen und erklären "Ein vielversprechender Weg, um diese Revolution zu verteidigen und zu konsolidieren, besteht darin, dass ihr ganze Welt über die Umstände der Bewegung informiert und ebenfalls euer Recht auf Information fordert, welches die Massenmedien verhöhnen.

Dario Azzellini, Sozialforscher, Autor und Filmemacher, lebt in Berlin und arbeitet vorwiegend zu Lateinamerika und Italien.


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