Date: Sat, 16 Feb 2002
Argentina Arde - Argentinien brennt:
Unabhängige Zeitung in Argentinien gegründet
Hier der Leitartikel der 1. Ausgabe

"Argentina Arde" - Argentinien brennt. So ist der Name einer
Zeitung, die von einem gleichnamigen Bündnis aus 130 
unabhängigen FotografInnen, KünstlerInnen, JournalistInnen, 
VideokünstlerInnen und weiteren interessierten Menschen seit 
wenigen Wochen in Buenos Aires herausgegeben wird. Das 
Bündnis entstand infolge eines Aufrufes von Boedo Films, Cine 
Insurgente ("Aufständisches Kino"), Contraimagen ("Gegenbild") 
und Indymedia Argentina unter dem Motto: "Du hast es erlebt, lass 
nicht zu, dass man dir weiter Lügen erzählt". Hier die Übersetzung 
des Titelbeitrages der 1. Ausgabe von "Argentina Arde". Unter dem 
Titel "Dass sie alle gehen sollen...und was danach?" beschreibt er 
die mittlerweile landesweite basisdemokratische Organisierung der 
Menschen und die Versuche, diese zu zerstören und zu 
vereinnahmen.       

"Dass alle gehen sollen...und was danach?

Tausende von MitstreiterInnen und NachbarInnen, die sich bei der 
Vierteilübergreifenden Volksversammlung im Park "Parque 
Centenario" am Sonntag, dem 20. Januar versammelt haben, 
brechen in Applaus aus. Die Vierteilübergreifende Versammlung 
hat sich gerade den Ruf zu eigen gemacht, der im Munde der 
gesamten Bevölkerung ist: dass sie alle gehen sollen. Eine Woche 
später nehmen immer mehr an der Versammlung teil, diejenigen, 
die im Namen jeder einzelnen der Versammlungen in den Vierteln 
sprechen, berichten von ihren Erfahrungen bei den Kämpfen und 
der Mobilisierung. Im Laufe der Woche wurde massiv vor Banken 
protestiert, Arbeitslose haben sich organisiert, von den 
Pharmakonzernen sind Medikamente und von den Supermärkten 
Säcke mit Lebensmitteln eingefordert worden. Die Vorschläge für 
die weiteren Kämpfe sind immer ausgereifter und die Forderungen
münden in ein einheitliches "Kampfprogramm". Und am Ende 
braust wieder der große Beifall auf: Hände werden zu Tausenden 
hochgehoben, um darüber abzustimmen, dass die 
Volksversammlungen sich an keinen einzigen Tisch setzen sollen, 
um mit dieser korrupten und illegitimen Regierung zu verhandeln.

Seit den ersten Tagen des Januars entstehen ständig mehr 
Versammlungen. Sie tagen unter freiem Himmel, Lärm machend
und Straßen sperrend, und trotzdem hat ihnen nicht ein einziges 
Medium, sei es bürgerlich oder fortschrittlich, seien es die 
Printmedien oder das Fernsehen, auch nur den geringsten Raum 
gegeben. Es sollte nicht zugelassen werden, dass diese 
Bewegung geboren wird. Eine Bewegung, die jetzt nicht mehr 
aufzuhalten ist, die ein politisches System in Frage stellt, das, 
unter der Maske einer repräsentativen Demokratie, abgetrennt vom 
Ausdruck des Willens der Menschen, den Plan der 
Kolonialisierung, der von Martinez de Hoz (Anmerkung: 
Wirtschaftsminister des Militärdiktators Videla), Cavallo 
(Anmerkung: Präsident der Zentralbank unter Militärdiktator Videla, 
Wirtschaftsminister der Regierung Menem und der Regierung De 
La Rúa) und der Diktatur begonnen worden ist, fortsetzt. Wie 
machen sie es? Zuerst kramten sie die Verfassung wieder hervor, 
dieselbe, die sie selbst nicht müde wurden zu beflecken, und 
wiederholten ständig, dass "das Volk nicht regiert und nichts 
beschließt, außer durch seine Repräsentanten". Wie der 19. 
Dezember gezeigt hat, ist die Bevölkerung, die sich selbst durch 
die Verhängung des Ausnahmezustandes nicht mehr 
einschüchtern lässt, aber nicht mehr durch leere Phrasen zu 
stoppen. Also sind sie direkt zur Tat geschritten: 
Polizeistreifenwagen umrunden die Versammlungen, 
Bandenmitglieder verhindern den Zutritt (Anmerkung: gemeint sind 
Duhalde-Anhänger, bzw. u.U. auch bezahlte Kräfte, die 
einschüchternd auftreten), Flugblätter tauchen auf, die das 
Beschlossene verdrehen. Und trotzdem fahren die NachbarInnen 
fort, Verbesserungen der Organisation und Verbreitung zu 
diskutieren, die Medien abzulehnen, die sie ignorieren und ihren 
politischen Einsatz zu erhöhen. In Flores fordern sie die 
Verstaatlichung des Bankwesens, in Parque Lezama fordern sie, 
dass die Auslandsschulden nicht bezahlt werden, in Belgrano
wurde beschlossen, dass keine Steuern mehr bezahlt werden 
sollen, in Olivos (Anmerkung: dort befindet sich der offizielle 
Wohnsitz des Präsidenten) hat man sich gegen Duhalde 
ausgesprochen, in Caballito wird verlangt, die AFJP (Anmerkung: 
Private Rentenversicherungen) zu verstaatlichen, Villa del Parque 
hat beschlossen, dass gegen den Obersten Gerichtshof ein 
Amtsenthebungsverfahren eingeleitet werden soll, Floresta fordert
eine Erhöhung der Gehälter, San Cristobal fordert den Rücktritt von 
Juan José Alvarez, der für die Repression des 25. verantwortlich ist.

Die Besorgnis der Regierung wächst und ihre Taktik ändert sich. 
"Verstecken wir nicht mehr, was nicht zu verstecken ist", sagen 
sie. Dass alle die Versammlungen wahrnehmen sollen, dass sie im 
Radio übertragen werden sollen, dass sie gefilmt werden sollen, 
dass sie in Zeitungsbeilagen analysiert werden sollen. Aber nicht, 
um ihre Aktivitäten zu unterstützen und den NachbarInnen 
zuzuhören, sondern, um ihnen zu sagen, was sie diskutieren 
sollen und was nicht, wen sie zu fürchten haben und wen nicht. 
"Seien wir doch mal ernsthaft", sagt ein Sprecher von Radio Mitre, 
"die Dame, die auf den Kochtopf schlägt, kann nicht 
Außenminister sein". Im Gegensatz zu Ruckauf (Anmerkung: 
Außenminister der Regierung Duhalde), der hingeht, um 
Rechenschaft vor dem IWF abzulegen, begibt sich diese Frau zu 
der Versammlung des Viertels "herab" und erklärt uns in wenig 
diplomatischer Ausdrucksweise, dass die Bevölkerung immer 
weniger hat, aber gleichzeitig immer mehr schuldet. Daraufhin 
fordert sie, die Auslandsschulden nicht zu bezahlen und erklärt 
uns, wie dieses Geld für die Gesundheitsversorgung, für das 
Bildungssystem und die Schaffung von Arbeitsplätzen verwandt 
werden kann. Das Phänomen der Volksversammlungen und der 
Kochtopfdemonstrationen bewegt die ArbeitnehmerInner auf der 
ganzen Welt. Und Menschen auf der ganzen Welt werden von 
ihnen angesteckt. Also schwenken die Kameras aus Europa und 
Lateinamerika auf Argentinien, die Berichterstatter kommen und 
man informiert die Welt anhand der von der Regierung gekauften 
argentinischen Medien, die alle Hebel in Bewegung setzen, um die 
Fakten zu verdrehen. "CNN", erzählt ein Nachbar, "berichtet, dass 
die Regierung Duhalde "Phantom-Wandalen", die überhaupt nicht 
existierten, bekämpfen würde, während Clarín (Anmerkung: große
argentinische Tageszeitung) am Samstag, dem 26. auf Seite drei 
zur gleichen Zeit analysiert, dass die Geschehnisse der Nacht (die 
große landesweite Kochtopfdemonstration) ein Triumph Duhaldes 
waren. Es ist unfassbar", beschwert er sich. Es gibt keine Grenzen 
mehr für die Unverschämtheit, wenn die Interessen der großen 
wirtschaftlichen Gruppen im Spiel sind.

"Ich finde es sehr gut, dass die Bevölkerung aufgewacht ist und 
beginnt, politisch zu diskutieren", erklärt Rafael Pascual, 
Vorsitzender der UCR-Fraktion (Anmerkung: den Sozialdemokraten 
vergleichbar) im Bundestag, "aber sie müssen sich den Regeln der 
Verfassung unterwerfen und beginnen, sich aus den Parteien 
heraus zu engagieren". Zeitgleich werden die Versammlungen 
immer häufiger von "Nachbarn" besucht, die uns über die 
"Nutzlosigkeit" der Straßendiskussionen (!) "aufklären" und 
versuchen, uns weiß zu machen, dass das einzig Mögliche die 
Gründung einer neuen Partei sei, so dass wir dann in vier Jahren - 
und das sagen sie sehr locker, als hätten wir Zeit im Überschuss - 
in beiden Parlamentskammern die Mehrheit stellen und locker vor 
uns hinregieren würden.

Aber die Menschen bei den Versammlungen denken anders. "Seit 
Jahren", wirft ein Nachbar auf der Versammlung von Belgrano und 
Nuñez vor einer Menschenmenge, die sich an der Ecke Cabildo 
und Congreso versammelt hat, ein "missbrauchen uns die 
traditionellen Parteien dazu, falsche Versprechungen zu wählen, 
um auf diese Weise den Weg für weitere zwei Jahre frei zu haben, 
um die Interessen des IWF und der großen Wirtschaftmächte zu 
vertreten. Aber im Dezember des Jahres 2001 ist die Demokratie 
volljährig geworden und die Menschen kommen heraus und wollen 
den "Führerschein" haben"(Anmerkung: im Jahr 2001 lag das Ende 
der Militärdiktatur 18 Jahre zurück). Aus der Zona Norte kam der 
Vorschlag, dass Wahlgesetz dahingehend zu ändern, dass die 
Volksversammlungen im Bundestag mit fünf VertreterInnen 
stimmberechtigt vertreten sein sollen. "Fünf?" fragt ein Mitstreiter 
leise, "es sollen fünfzig sein!". Die Überregionale Versammlung von 
La Plata, Berisso und Ensenada (Anmerkung: La Plata ist die 
Hauptstadt der Provinz Buenos Aires, Berisso und Ensenada sind 
Kleinstädte in der Umgebung von La Plata) verlangt, dass sie alle
gehen sollen und sprechen sich gegen die Bundesregierung, die 
Provinzregierungen und die Kommunalregierungen aus. Ein 
"Offener Stadtrat" der Bevölkerung von Ciudadela spricht sich für 
eine neue Demokratie, direkt und mit mehr Beteiligung, aus. Die 
Versammlung von Floresta geht viel weiter: sie fordert die
Viertelübergreifende Versammlung auf, die ArbeitnehmerInnen, 
Arbeitslosen und NachbarInnen dazu aufzurufen, sich zu einer 
landesweiten "Offenen Generalversammlung" der 
Volksversammlungen zusammen zu schließen.

Die Strategien zur Schwächung und Spaltung der Versammlungen 
versagen eine nach der anderen. Die Zahl der Versammlungen 
wächst und sie organisieren sich im ganzen Land in 
Viertelübergreifenden Versammlungen. Die NachbarInnen 
solidarisieren sich mit den "Piqueteros", sie bejubeln die 
kämpfenden ArbeitnehmerInnen, die an den Versammlungen 
teilnehmen, wie die MetallarbeiterInnen von EMFER und die 
ArbeiterInnen von Brukman und Zanon. Die Unterstützung des 
Marsches der Piqueteros war sehr bewusst, es wird jedoch 
klargestellt, dass keine bestimmte politische Richtung unterstützt 
wird, sondern dass die Unterstützung der Bewegung und der 
Forderung nach der Schaffung von einer Million Arbeitsplätzen galt.

Die Versammlungen beginnen zu verstehen, was die Regierung 
befürchtete. Generalversammlung, Kongress der 
Versammlungsmitglieder, Verfassungsgebende 
Volksversammlung, Freie und Souveräne Versammlungen: sie 
wissen noch nicht, wie sie es nennen sollen. Aber sie wissen, 
dass sie Macht haben und dass sie sie benutzen wollen."

Übersetzung:
http://www.vereinigte-linke.de

Quelle:
http://argentina.indymedia.org/front.php3?article_id=11260 
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