Nach dem G8-Gipfel

Katzenjammer
WoZ-Online 12.6.2003 http://www.woz.ch/wozhomepage/24j03/g8_24j03.htm

Helen Brügger

Regierungskrise, Demonstrationsverbot, Rücktrittsforderungen: Genf hat Mühe mit den politischen Aufräumarbeiten.

Genève gueule de bois » stand auf eine Bretterwand gesprayt. Es trifft zu: Genf hat den Katzenjammer. Die Linke will die Polizeiministerin stürzen, die SVP will die Kantonsregierung stürzen. Die Rechte will ein neues Polizeigesetz, neue Repressionsgesetze und ein auf den Einsatz gegen Aufruhr spezialisiertes Polizeikorps. Die Linke will ein Ende des am 3. Juni verhängten Demoverbots. Und Bundesrat Pascal Couchepin fährt der Uno-Stadt an den Karren: Sie müsse endlich begreifen, dass man nicht gleichzeitig bunte Friedensfahnen auf der Montblanc-Brücke hissen und internationale Organisationen anlocken könne.

Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg

Die Fakten sind bekannt: Die Polizei liess am 31. Mai, dem Vorabend der Großdemonstration, fünfzig bis hundert Randalierer gewähren - kein Einziger von ihnen wurde verhaftet oder polizeilich identifiziert -, provozierte aber nach der Großdemonstration mit einem übermässigen Aufgebot, stürmte mit vermummten Polizisten ein alternatives Kulturzentrum und schlug dann während zwei Nächten auf DemonstrantInnen, rechtskundige BeobachterInnen, JournalistInnen und Neugierige ein. Am 3. Juni verhängte die Regierung ein zeitlich unbeschränktes Versammlungs- und Demonstrationsverbot; das ist seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr vorgekommen. Und nur der Besonnenheit der Demo-OrganisatorInnen vom Forum social lémanique (FSL) ist es zu verdanken, dass es am 6. Juni nicht zu einem Drama gekommen ist: Das FSL hatte zu einer Protestdemonstration « gegen Polizeirepression und Ausnahmezustand » aufgerufen. Die Regierung wiederholte ihr Verbot, die Polizei drohte mit unverzüglichem Eingreifen, Gewerbetreibende kündigten an, sie würden mit den « Folterern » vom FSL abrechnen. Kurz: Die Situation spitzte sich auf ein politisches Kräftemessen zu, bei dem keine Seite das Gesicht verlieren konnte. Das FSL fand den Ausweg: Die verbotene Versammlung wurde beibehalten, die Demonstration abgesagt, man begab sich vom Versammlungsort unter freiem Himmel zu Fuss ins Gewerkschaftshaus. Es war eine Demo und doch keine - die Polizei machte böse Miene zum guten Spiel, griff aber nicht ein. Die eigentliche Demo wurde auf den 14. oder 21. Juni verschoben, in der Hoffnung, dass sich bis dann die Gemüter beruhigten.

Bis dann dürften auch die politischen Aufräumarbeiten beendet sein. Die Medien diagnostizieren eine « grössere institutionelle Krise » der Genfer Kantonsregierung. Umstritten sind vor allem zwei Personen. Die Linke hat die liberale Polizeiministerin Micheline Spoerri im Visier: Sie muss für die Einsatzdoktrin der Polizei und den Einsatz der fürs Flughafenareal vorgesehenen deutschen Polizeitruppen in der Stadt geradestehen. Erschwerend wirkten Spoerris zahlreiche Auftritte in den Medien, bei denen es ihr vor allem darum ging, die Protestbewegung zu kriminalisieren und die Grenzen zwischen Randalierenden und DemonstrantInnen zu verwischen. Auch die Rechte hat einen Bösewicht ausgemacht: Es ist der neue SP-Regierungsrat Charles Beer. Er sprang für die durch Abwesenheit glänzende oberste Polizistin in die Lücke und handelte mit der Polizei den unblutigen Ausgang einer Demo aus, bei der friedliche DemonstrantInnen auf einer Brücke eingekesselt worden waren. Statt zu danken, warf Spoerri ihm « inakzeptable Einmischung » vor. Für rote Köpfe in der Kantonsregierung war gesorgt.

Derweil ziehen die Altermondialisten Bilanz einer bewegten Woche. Die rechtskundigen BeobachterInnen des Legal Team listen rund fünfzig Fälle von Polizeigewalt gegen DemonstrantInnen auf. Die deutschen Polizeitruppen seien sogar gegen Mitglieder des Legal Team vorgegangen und hätten einem von ihnen das Handgelenk gebrochen. Das Legal Team kritisiert die Behinderung seiner Arbeit durch die Genfer Polizei, den Einsatz von seit zwanzig Jahren in Genf nicht mehr verwendeten Gummigeschossen, den Einsatz von Schockpetarden, die Einschüchterung von JournalistInnen, das Demonstrations- und Versammlungsverbot. Es verlangt, wie übrigens auch die Organisation Amnesty International, eine unabhängige Untersuchung. Zwei Personen wurden schwer verletzt: Der englische Professor Martin Shaw, der von einer Brücke in die Tiefe stürzte, weil ein Polizist das Seil durchschnitt, mit dem AktivistInnen die Autobahn Genf-Lausanne blockierten, und der englische Journalist Guy Smallman, dem in Genf eine aus nächster Nähe abgefeuerte Schockpetarde die Wade zerfetzte.

Zerstörung als Vorwand genommen

Alessandro Pelizzari von Attac Schweiz spricht von einem Erfolg der Großdemonstration. Sie habe erlaubt, die Antiglobalisierungsbewegung mit der Friedens- und der Gewerkschaftsbewegung zu vernetzen, und stelle darum eine wichtige Etappe in der Vorbereitung des Europäischen Sozialforums dar, das im November in Paris stattfindet. Auch Eric Decarro vom FSL stellt den Erfolg der Großdemonstration und der Blockadeaktionen ins Zentrum seiner Bilanz: Es sei der Bewegung gelungen, gleichzeitig die Autobahn Genf-Lausanne, die fünf Genfer Brücken und die Straßenverbindung Annemasse-Evian zu blockieren und damit den G8-Gipfel zu behindern. Gleichzeitig distanziert sich Decarro von den Randalierern: « Waren es manipulierte und infiltrierte Leute oder einfach Jugendliche mit politischem Nullbewusstsein? Wie auch immer: Sie haben genau ins Konzept der Rechten gepasst, die alle Demonstrationen in Genf verbieten wollten. »

Für Decarro ist klar: Die Polizei habe die Zerstörungen der ersten Nacht zum Vorwand genommen, um nach der Großdemonstration gegen friedlich in die Stadt zurückkehrende DemonstrantInnen vorzugehen. Von diesem Moment an habe die Polizei sich nicht mehr an das Abkommen mit dem FSL gehalten, das « Zurückhaltung während der Protestaktionen, aber auch die polizeiliche Sicherung der Innenstadt » vorgesehen habe. Resultat: « Eine überforderte Polizeiministerin und eine Polizei, die schliesslich ihre eigene Einsatzdoktrin bestimmt hat. » Nun gelte es, für die Wiederherstellung der Demonstrations- und Versammlungsfreiheit zu kämpfen.


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