Frankfurter Rundschau, 3.6.03

Von der blauen bis zur rosa Zone

Die bunte Gruppe der Globalisierungskritiker leistet sich Strukturen, die ältere Bewegungen längst über Bord geworfen haben

Von Volker Schmidt (Annemasse)

Es klingt wie auf einem Bahnhof. Eine Lautsprecherdurchsage jagt die nächste: "Treffen der Vorbereitungsgruppe für die Aktion in Genf, jetzt gleich am weißen Zelt." Oder: "Wir zeigen einen Dokumentarfilm über den Gipfel in Genua im Forum." Und: "Ich halte heute Abend einen Vortrag über Biopiraterie und würde mich freuen, wenn viele von Euch kommen." Immer finden sich Interessenten, auch nach anstrengenden Demonstrationszügen oder durchdiskutierten Nächten.

Sie sind eine bunt gemischte Gruppe, die Kritiker der Globalisierung, die sich im "Intergalactic Village" in Annemasse am Genfer See versammelt haben, um gegen den G-8-Gipfel in Evian zu protestieren. Und sie geben sich Mühe, einander zuzuhören und ernst zu nehmen. Da sitzt ein Palästinenser mit zwei Deutschen im Gras und erläutert detailreich, wie Nicht-Juden in Israel vom Staat benachteiligt werden. Ein friedensbewegter Münchener und ein Umweltaktivist aus Toulouse tauschen beim Kaffee Erfahrungen mit den Sicherheitskräften ihrer Länder aus, wechseln zwischen akzentschwerem Deutsch und brüchigem Französisch.

Im Zeltlager finden solche Gespräche einen entspannten Rahmen, abends spielen Bands, eine Bar schenkt Bier aus, Küchenkollektive verkaufen zum Selbstkostenpreis veganes Essen aus biologischem Anbau. Trockener zur Sache geht es bei den Seminaren des Gegengipfels in Genf und Annemasse. Vorträge zur internationalen Finanzpolitik, Seminare zu den möglichen Zielen zivilen Ungehorsams, Gespräche zu lokalen Themen aus Entwicklungsländern: Eifrig schreiben die Zuhörer mit.

Am Aufbau des Zeltlagers ist das breite Themenspektrum der Globalisierungskritiker zu erkennen. Das Camp ist in "Barrios" unterteilt, nach Themen abgegrenzte Gebiete: In der blauen Zone zelten die Gruppen, die sich für den Nord-Süd-Konflikt interessieren, in der grünen Zone die für Ökologie Engagierten, in der rosa Zone die feministisch-schwul-lesbisch-transsexuell Bewegten. Nicht spezialisierte Globalisierungskritiker sind in Sprach-"Barrios" eingeteilt. Das erschwert zwar die Annäherung zwischen den Nationen, erleichtert aber die Kommunikation. Die ist auch ohne Sprachbarrieren schwer genug: Der Meinungen sind viele, meist werden sie vehement vorgetragen.

Versammlung der deutschsprachigen Gipfelkritiker. Ein älterer Herr, im Strickpullover trotz Sonnenglut, eine schon halb geleerte Flasche Ouzo in der Rechten, meldet sich zu Wort, verkündet ohne jeden Zusammenhang mit dem gerade diskutierten Thema, er lehre die Verbindung von Meditation und Politik. Die Moderatorin fragt, wo sich Interessenten einfinden sollen. Leichte Heiterkeit im Publikum. Prompt meldet sich eine Aktivistin: "Ich finde das total Scheiße, dass jemand hier ausgelacht wird. Ihr seid ja total repressiv!"

Die Camp-Teilnehmer mühen sich redlich mit der Basisdemokratie. Mehrmals am Tag treffen sie sich im Plenum, in so genannten Bezugsgruppen, die wiederum Delegierte in andere Foren entsenden, in Vorbereitungsgruppen für Protestaktionen, in Organisationsteams für Küchendienste oder in das "Legal Team", das Festgenommenen helfen soll. Bezugsgruppen-Delegierte und Moderatoren der Diskussionen sollen jeden Tag wechseln. Globalisierungskritiker leisten sich Strukturen, die etwa die Grünen längst über Bord geworfen haben. Das kann frustrierend sein, wenn zum dritten Mal jemand eine längst geklärte Frage aufwirft, wenn selbst offensichtlich abwegige Positionen ausdiskutiert werden müssen. Doch, so ein Attac-Mitglied: "Wir wollen eine andere Welt möglich machen - da müssen wir bei uns selbst anfangen."

Es sind dann doch oft die Gleichen, die einer Diskussion die Richtung geben. Die, die gut reden können, die einer straff organisierten Gruppierung angehören oder schlicht die Gewalt über das Megafon haben. So entstehen oft plötzliche Abkürzungen auf dem steinigen Weg der Konsensfindung, die nicht selten zu blindem Aktionismus führen. Etwa, als ein Gerücht per Megafon verstärkt wird: Busse mit technischem Gerät für den G-8-Gipfel seien gesichtet worden, alle sollen mitkommen, die Straße blockieren. Dass die angeblichen Equipment-Busse schon vor einer Dreiviertelstunde vorbeikamen, erfahren die Protestierer erst, als sie mit Fahnen und Pfeifen auf der Kreuzung stehen.


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