Junge Welt, 2.6.03

Sturm gegen Gipfel

Über 200000 Demonstranten in Genf und Lausanne vor G-8-Treffen in Evian

Von Damiano Valgolio, Genf

Begleitet von massiven Protesten hat am Sonntag in der französischen Kleinstadt Evian das jährliche Treffen der Staatschefs der acht mächtigsten Industrienationen begonnen. Gegen den G-8-Gipfel protestierten im nahegelegenen Genf einige hunderttausend Globalisierungskritiker. Gleichzeitig versuchten Zehntausende Demonstranten mit Straßenblockaden den Beginn des Wirtschaftsgipfels zu verzögern.

Da ein Großteil der Teilnehmer des Gipfels mit Bussen nach Evian gebracht werden sollte, legten die G-8-Gegner schon bei Sonnenaufgang in Genf und an anderen Knotenpunkten den Verkehr lahm. In Annemasse unweit der Grenze zur Schweiz machten sich rund 6000 Aktivisten bereits um vier Uhr morgens auf, um die Zufahrtsstraßen zum Tagungsort zu besetzen. Obwohl die französische Polizei die G-8-Kritiker ununterbrochen mit Tränengas und Leuchtspurmunition beschoß, wurde die Straße bis in den frühen Nachmittag hinein blockiert. Ein Lastwagen der deutschen Gewerkschaft IG Metall versorgte die entschlossenen Aktivisten ständig mit frischem Wasser. In Lausanne gelang es der Polizei hingegen, die Blockaden am dortigen Hafen gewaltsam aufzulösen. Daraufhin kam es in der Stadt nach Augenzeugenberichten zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten. Die Polizei trieb schließlich rund tausend Menschen auf einem Campingplatz am Rande von Lausanne zusammen und nahm mehrere fest. Die Behörden verboten eine angemeldete und zunächst genehmigte Demonstration am Nachmittag. Die Autobahn zwischen Lausanne und Genf mußte wegen Blockadeaktionen zeitweise gesperrt werden.

In Genf waren die Brücken der Stadt das Ziel der Blockadeaktionen. Die meisten Teilnehmer des G-8-Gipfels sind in den Nobelhotels des Genfer Diplomatenviertels untergebracht, das nur über fünf Brücken erreichbar ist. Seit den frühen Morgenstunden wurden diese von jeweils rund 1000 Gipfelgegnern besetzt gehalten. Nach Angaben des Genfer Sozialforums gelang es durch die Aktionen tatsächlich, den Beginn des Wirtschaftsgipfels spürbar zu verzögern.

Außer den Blockaden fand in Genf am Sonntag nachmittag auch eine Massendemonstration gegen die Politik der G-8-Chefs statt. Der Protestmarsch wurde von der französischen Gewerkschaft CGT, verschiedenen linken Parteien sowie globalisierungskritischen Gruppen aus der ganzen Welt organisiert. Rund 200000 Menschen gingen auf die Straße. Die Veranstalter sehen in dem G-8-Treffen einen Ort, an dem die mächtigsten Industrienationen weitere Angriffe auf ärmere Staaten planen. « Ihr globalisiert die Armut und den Krieg » warf ein Transparent der Französischen KP den in Evian versammelten Staatschefs vor. Folgerichtig lautete der Schlachtruf der Demonstranten: « G 8 - illegal. Erlaßt die Schulden » oder « Gegen einen endlosen Krieg: endloser Widerstand » war auf anderen Transparenten zu lesen. Ein Teil der Gipfelgegner war schon am Vormittag im französischen Annemasse gestartet, um sich in der Schweiz mit dem Genfer Block zu vereinen. Entgegen anderslautender Gerüchte versuchte die Schweizer Polizei nicht, den Demonstrationszug aus Frankreich an der Grenze zu stoppen. Das wäre angesichts der Menschenmassen wohl auch kaum möglich gewesen. Mit dem Ruf « Grenzen auf für alle » zog die Demonstration schließlich unbehelligt an den Zöllnerhäuschen in einem Genfer Vorort vorbei. Als die beiden Blöcke wenig später in der Stadt aufeinandertrafen, brach auf beiden Seiten minutenlanger Jubel aus. Den Menschen wurde klar, wie unglaublich riesig ihre Demonstration war.

Die sechsspurige Umgehungsstraße Genfs war bis zum Horizont ein riesiges Meer von Fahnen und Transparenten. Von den Balkonen der Häuser am Rande der Route winkten unzählige Anwohner den Demonstranten. Die Sympathien gegenüber den Protesten war unter der Genfer Bevölkerung weiter verbreitet als es selbst die Veranstalter erhofft hatten.

Deutlich weniger begeistert zeigten sich die Besitzer von Nobelläden in der Genfer Innenstadt. Viele von ihnen hatten ihre Geschäfte mit Holz verkleiden lassen. Dennoch kam es nach Polizeiangaben in der Innenstadt zu Ausschreitungen und Sachbeschädigungen. Wer hinter der Randale stand, blieb unklar. In der vergangenen Woche hatte der italienische Faschistenführer Marco Carucci angekündigt, schweizerische und italienische Rechtsradikale aus dem Umfeld der Gruppe « Ordine Nuovo » würden « in Genf aktiv werden« .

Bei einer Protestaktion in der Schweiz wurde ein Mann schwer verletzt: Nach Polizeiangaben stürzte er beim Abseilen von einer Autobahnbrücke ab. Das unabhängige Mediennetzwerk indymedia teilte dagegen mit, die Polizei habe die Halteseile durchgeschnitten.


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