Frankfurter Rundschau, 2.6.03

Ausbruch aus dem intergalaktischen Dorf

Einige gewaltbereite Globalisierungskritiker ramponieren den Ruf einer mächtigen sozialen Bewegung

Von Volker Schmidt (Annemasse)

Die Polizei hatte ihre Lehren gezogen aus den Krawallen vergangener Gipfel, vor allem dem in Genua vor zwei Jahren. Das G-8-Treffen in Evian schützten schweizerische wie französische Uniformierte mit einer Doppeltaktik: hartes Vorgehen gegen Steinewerfer, Randalierer und Blockierer sowie Deeskalation am Rande genehmigter Demonstrationen. Die Globalisierungskritiker dagegen suchen offenbar noch eine ähnlich geschlossene Strategie. Die Vielfalt der Demonstrationskulturen - vom Schwarzen Block bis zu Pazifisten - fiel wesentlich stärker auf als das breite Themenspektrum, das oft als diffuser Antikapitalismus wahrgenommen wird.

Der gemeinsame Nenner der vielen Gruppen, die sich als Kritiker eines neoliberalen Umbaus der Weltwirtschaft verstehen, war zumindest beim Gipfel stark genug, um Zusammenhalt zu gewähren: "G 8 illégal" lautete die zentrale Parole. Die Staatschefs der acht Großen bildeten eine Art Weltregierung ohne demokratische Legitimation - auf diesen Vorwurf können sich viele verständigen: Öko-Gruppen wie Greenpeace, Kriegsgegner wie "Resist the War" oder Pax Christi und Entwicklungshilfe-Organisationen. Die Unterschiede traten aber bei Zeltlagern und Gegenveranstaltungen in Genf und im Vorort Annemasse auf französischer Seite deutlich zu Tage. Dort diskutierten Gruppen und Grüppchen heftig, quälten sich mit den theoretischen Ansätzen der akademischen Globalisierungskritik und den Mühen basisdemokratischer Konsensfindung.

Zur Theorie gesellt sich die Praxis der Bezugsgruppen, die Delegierte zu Organisationstreffen entsenden, deren Überlegungen dann im Plenum entschieden werden: So versuchten die Aktivisten von Attac Deutschland sich in ihrem Zeltlager über Vorgehensweisen gegen den Gipfel zu einigen. Vor dem Wochenende schien noch Konsens zu bestehen: Der Fokus lag auf der Großdemo am Sonntag zum Auftakt des G-8-Gipfels, und die sollte friedlich verlaufen, allenfalls mit einer symbolischen Blockade der Autobahn enden. Gegen zehn Uhr am Morgen sollten die Demonstranten zur Großkundgebung aufbrechen, beidseitig von Genf und von Annemasse auf die schweizerisch-französische Grenze zu. Zumindest im "Intergalactic Village", dem von vielen Gipfelkritikern genutzten Zeltlager in Annemasse, herrschte eine mehrheitliche Stimmung gegen offensivere Aktionen oder gar ein Eindringen in den als "Rote Zone" bezeichneten hermetisch abgeriegelten Sicherheitsbereich um Evian.

Doch im Laufe des Samstags gewannen plötzlich jene die Oberhand, die mit der Polizei Pfadfinder spielen wollten: mögliche Routen der Gipfeldelegierten auskundschaften, Blockaden koordinieren, Barrikaden bauen. Auch ein Eindringen in die waffenstarrende "Rote Zone" war auf einmal wieder Thema. Damit schlugen die Aktivisten vieles von dem in den Wind, was sie seit ihrer Ankunft - die meisten waren am Donnerstag gekommen, einige noch früher - diskutiert hatten. Etwa, dass man den Gipfel ohnehin nicht würde verhindern oder auch nur ernsthaft beeinträchtigen können und deshalb allenfalls symbolische Blockaden sinnvoll seien. Stellen dafür waren seit langem mit der Polizei abgesprochen. "Es bringt nichts, sich auf deren Level zu begeben und militärische Strategiespielchen zu veranstalten", sagte ein deutsches Attac-Mitglied. Auch die Erfahrung von Gipfeldemo-Veteranen zählte offenbar nicht länger. Zwei US-Amerikanerinnen, die bei den Krawall-Gipfeln in Seattle, Quebec und Genua gewesen waren, hatten in Workshops gezeigt, wie man sich dem Polizeigriff entwindet, hatten deeskalierende Verhaltensweisen gelehrt und betont: Blockaden sind eine Aktionsform für konzentrierte, gut organisierte, erfahrene Demonstranten, die wissen, was sie tun.

Zu den hastig organisierten Blockaden schlurften sonntags um vier Uhr aber unausgeschlafene Aktivisten, viele hatten noch nie an einer Blockade teilgenommen. Immerhin 3000 zogen von Annemasse aus, um neun Stunden lang eine Straßenkreuzung lahm zu legen. Die Polizei, sagten Teilnehmer übereinstimmend, habe ohne Vorwarnung Tränengas eingesetzt. Hinter brennenden Barrikaden verschanzten sich singende Sitzblockierer: Ein gefundenes Fressen für die Bild-Medien.

Schon am Samstag hatte die Polizei in Annemasse Steinwürfe mit Tränengas beantwortet. Die Bereitschaftspolizei trieb die zirka 3000 Demonstranten rasch auseinander. In Genf lieferten sich militante G-8-Gegner und die Polizei in der Nacht zum Sonntag schwere Auseinandersetzungen. Rund 300 Jugendliche zogen durch die Innenstadt, zerstörten Schaufenster, setzten Barrikaden in Brand und warfen Molotow-Cocktails. In Lausanne gelang es der Polizei am Sonntag dann erst nach Stunden, gewaltbereite Demonstranten zu verjagen. Bei Aubonne schnitt ein Polizist nach offiziellen Angaben ein Seil durch, an dem ein Engländer hing, der angeblich die Autobahn blockieren wollte. Der 39-Jährige stürzte demnach mehr als 20 Meter in die Tiefe.

Bei der Sonntagsdemonstration regelten dann Attac-Ordner den Verkehr teils selbst, weil sich Ordnungskräfte nicht blicken ließen. Die Behörden hatten an den Veranstaltungsorten des Gegengipfels in Genf und Annemasse portable Toiletten platziert, die Verkehrsbetriebe stellten Sonderbusse. "Die haben hier das Camp genehmigt und die Wiese gemäht, damit sich unsere Energie weitab vom Schuss totläuft", beschwerte sich ein Globalisierungskritiker. Ein anderer wollte gesehen haben, wie schwer Bewaffnete schnell in den Büschen verschwanden, als sich Gipfelgegner näherten.

Vielleicht hatte die zentrale Demonstration nicht die 120 000 Teilnehmer, die ein Sprecher bei der Kundgebung am Grenzübergang auf der Autobahn verkündete. Ein eindrucksvoller Protestmarsch war sie allemal und ein weit überwiegend friedlicher bis Sonntagabend auch. Gegen die Rentenreform streikende Lehrer und Schüler führten den Zug an. Mit den Protestierern gegen den deutschen SPD-Parteitag tauschten die Gipfelgegner Grußworte aus: So sollte der Umbau der Sozialstaaten in die Liste der Themen der Globalisierungskritiker eingehen.

Die Bilder der Krawalle im Umfeld werden stärker im Gedächtnis bleiben. Auch brennende Barrikaden vermitteln kaum den Eindruck, eine gewalttätige Staatsmacht habe sich an friedlichen Sitzblockierern vergangen. Attac-Aktivisten hatten die Straßensperre bei Annemasse maßgeblich mitorganisiert. Sich deutlicher von solchen Aktionen zu distanzieren, auf die Kraft der Argumente und die Zahl der Engagierten zu vertrauen: Das könnte die Lehre sein, die die Globalisierungskritiker aus diesem Gipfel ziehen müssen.


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