Neue Zürcher Zeitung (NZZ) am Sonntag, 1.6.03

Das Woodstock der Wütenden

Die meisten G-8-Gegner marschieren in Frankreich auf statt in Genf

Was tut ein G-8-Gegner am Tag vor der großen Kundgebung? Er liegt vor seinem Zelt in der Sonne, geht zum Aufwärmen ein bisschen demonstrieren und testet die bessere Welt, für die er kämpft, in der Praxis aus.

Markus Häfliger, Genf

Auch der ernsthafteste Globalisierungskritiker verwickelt sich in Widersprüche. Dessen ist sich der 36-jährige Guy, ein gescheiter und freundlicher Engländer, bewusst. Für ihn sind die Tarife der Billig-Gesellschaft Easy Jet ein Beweis dafür, « wie verrückt der Kapitalismus ist ». Trotzdem ist Guy mit Easy Jet von London nach Genf geflogen - für 58 Franken retour. « Ich bin hier, weil ich wütend bin », erklärt er.

In einem Anzug würde Guy in der Londoner City problemlos als Banker durchgehen. Stattdessen trägt er Shorts und sitzt vor seinem Zelt am Ende der Welt, wie die Genfer Sportanlage « Bout du Monde » auf Deutsch heisst. Am Sonntag will er gegen die am G-8-Gipfel versammelten Mächtigen demonstrieren, « um ihnen zu zeigen, dass wir den Irak-Krieg und all die anderen Ungerechtigkeiten nicht vergessen werden ». Ohne Guy und ein paar Dutzend weitere Engländer wäre der Zeltplatz gähnend leer. Bis am Freitag sind bestenfalls ein paar hundert Camper angekommen.

Gelebter Sozialismus

Noch leerer ist der zweite Zeltplatz, den die Stadt Genf eingerichtet hat. Fast hundert WC-Häuschen warten seit Mitte Woche auf Tausende von « altermondialistes »; gekommen ist bis am Freitag genau einer. Wo sind bloss die Menschenmassen, vor denen sich Genfs Bankiers so sehr fürchten, dass sie ihre Marmor- und Glaspaläste mit Holzpalisaden eingebunkert haben?

Die Antwort überrascht jene, die den Franzosen vorwarfen, die G-8-Gegner in die Schweiz abzuschieben. In der Realität passiert das Gegenteil: Als am Donnerstag ein Sonderzug mit rund 1000 Deutschen in Genf eintraf, standen Busse bereit, um die Demonstranten direkt über die Grenze ins französische Städtchen Annemasse abzuschieben. Der Aufmarsch der G-8-Gegner findet vor allem in Frankreich statt. Bereits am Freitag campierten bei Annemasse mindestens 7000 Aktivisten in mehreren Zeltdörfern.

Für Feministinnen gibt es ein spezielles Frauendorf namens « G-Punkt »; Zutritt für Männer verboten. Im « Intergalaktischen Dorf » sind hingegen alle willkommen. Mehrere tausend Franzosen, Deutsche, Italiener, Spanier und sogar Polen haben sich hier eingerichtet. Schläfrig liegen sie vor ihren Zelten, schmieren sich mit Sonnencrème ein und trinken Bier. Es herrscht eine Atmosphäre wie an einem Open Air - ausser dass im « Intergalaktischen Dorf » die Werbebotschaften von Coca-Cola oder Sunrise fehlen. Stattdessen steht auf einem Transparent: « Der Sozialismus wird die Welt retten ».

Sozialismus wird im Dorf gelebt. Einen Chef gibt es nicht - jede Gruppe entscheidet selber, was sie tut. « Hier können wir diese andere Welt, für die wir kämpfen, konkret ausprobieren », sagt Malte Kreutzfeld aus Deutschland, Berufsaktivist bei der Organisation Attac. Zumindest während der Dauer eines Zeltlagers scheint « die andere Welt » zu funktionieren. « Wenn etwas am Boden liegt, hebe ich es auf und werfe es in einen Abfalleimer », versichert ein 21-jähriger Genfer Punk.

Als Prinzip gilt, dass jede und jeder sich einmal für die Gemeinschaft nützlich macht - zum Beispiel beim Kartoffelschneiden im « Mampfmobil », einer mobilen Großküche, die einem holländischen Verein gehört. Zehn Freiwillige sind mit dem « Mampfmobil » nach Annemasse gefahren - alle ehrenamtlich. Das Essen geben sie zum Selbstkostenpreis von 3 Euro ab. Wer sich auch das nicht leisten kann, darf weniger zahlen.

Vor der Demo ins Seminar

Die G-8-Gegner sind nicht nur wegen der Demonstration gekommen. « Die Leute haben auch den Anspruch, etwas zu lernen », sagt Kreutzfeld. Das tönt gut. Und es stimmt, wie ein Rundgang durch das Dorf beweist. In großen Zelten finden zeitgleich mehrere Seminare und Diskussionsrunden statt. Jeweils 20 bis 100 Leute sitzen im Gras beisammen und diskutieren Themen wie die Migrationsproblematik oder den Atomausstieg - zum Teil stundenlang. « Vor allem die jungen Demonstrationsteilnehmer wissen noch wenig über die Hintergründe der Globalisierungskritik », sagt Kreutzfeld. « Ein solches Camp ist für viele ein wichtiger Sozialisierungsprozess. »

In einem Workshop gibt es Tipps zum zivilen Ungehorsam; in einem anderen referiert Philipp Hersel, einer der führenden Köpfe von Attac Deutschland, über die Schuldenkrise der Dritten Welt. Plötzlich wird er unterbrochen. Aufgeregt berichtet ein Aktivist, dass auf der nahen Straße Lastwagen mit technischer Ausrüstung nach Evian verschoben würden. Per Megaphon verbreitet sich die Nachricht im Zeltlager, und innert Kürze sind mehrere hundert Aktivisten unterwegs, um die Lastwagen des Gegners an der Durchfahrt zu hindern. An der Straße ist von Lastwagen jedoch nichts zu sehen; nach einer Viertelstunde ziehen sich die G-8-Gegner unverrichteter Dinge in ihr Dorf zurück. Dort improvisiert eine protesterfahrene Französin unverzüglich eine weitere praktische Lektion. « Seid auf der Hut vor Gerüchten! », warnt sie die Jungen. « Bevor ihr kopflos irgendwo hinstürmt, müsst ihr abklären, wogegen ihr eigentlich protestiert. »


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