Neues Deutschland, 31.5.03

Stimmen gegen Sozialabbau werden immer lauter

Vor dem G8-Gipfel: Globalisierungsgegner bereiten sich auf Großdemo vor

Von Susanne Götze, Annemasse

Vor den Großprotesten gegen den G8-Gipfel diskutieren Globalisierungsgegner die neue politische Lage nach dem Irak-Krieg. In Genf kam es zu ersten Zusammenstößen mit der Polizei. Beim letztjährigen G8-Gipfel in Kanada waren die Proteste noch von der düsteren Vorahnung eines amerikanischen Präventivkrieges geprägt. In diesem Jahr steht es für viele Globalisierungskritiker außer Frage, dass mit dem Irak-Krieg eine neue Epoche der imperialistischen Auseinandersetzung begonnen hat. Doch bei den Gegnern des G8-Gipfels stehen nicht nur die USA im Kreuzfeuer der Kritik. Immer lauter werden die Stimmen des Widerstandes gegen Sozialabbau in Europa. Die massiven Streiks überall in Europa ebenso wie die weltweite Wiederbelebung der Friedensbewegung während des Irak-Krieges sowie die wachsende Emanzipation der Bevölkerung im Irak und Afghanistan gegen die militärische Besetzung ihrer Länder machen den Menschen Mut, die im « Intergalaktischen Camp » in Annemasse (Frankreich) und auf dem offiziellen Gegengipfel im nahen Genf (Schweiz) über eine alternative Weltordnung nachdenken.

Indes befürchten die Globalisierungskritiker, ein Mal mehr von der « großen Politik » überhört zu worden. Selbst Staatschefs der so genannten Friedensdelegation wie Gerhard Schröder und Jacques Chirac setzen sich im Rahmen des G8-Gipfels wieder mit dem Imperialisten Nummer 1, wie George Bush jr. in Annemasse genannt wird, zusammen. Es gehe darum, die wirtschaftlichen Interessen am Irak zu manifestieren, so der Vorwurf der Protestbewegung. Die Gipfelgegner bekräftigen in diesem Zusammenhang ihre uneingeschränkte Solidarität zum Widerstand der Iraker gegen die militärische Besetzung ihres Landes. »Der Imperialismus ist so aktuell wie nie zuvor« , so Regina Sterner von der AG Krieg des Netzwerkes Attac während eines Workshops im Camp. Die UN-Resolution vom 22. Mai habe den USA nun die volle Kontrolle über den wirtschaftlichen und politischen Aufbau des Landes übertragen. Damit sei der Begriff des Neokolonialismus kein billiges Schlagwort mehr, sondern politische Realität. « Wir haben den Krieg in Irak nicht verhindern können« , räumt Sterner ein, « aber die Bewegung steht erst am Anfang eines langen und mühevollen Weges. » Das Potenzial sei noch lange nicht ausgeschöpft.

Eine allgemeine Aufbruchstimmung dominiert fast alle Diskussionen und Veranstaltungen im Camp. « Die Leute merken, dass es möglich ist, eine andere Welt zu gestalten« , bestätigt ein Bewohner, Student an der Freien Universität Berlin. Der Wille zur Veränderung sei durch den Zusammenbruch des sozialistischen Blocks Anfang der 90er Jahre und durch die allgemeine Meinung, der Kapitalismus sei das kleinere Übel, vorübergehend gebrochen worden, sagte er während des Workshops. Die jüngsten Ereignisse hätten die Menschen aber aufgerüttelt.

Dies ist die Meinung vieler Globalisierungskritiker in Annemasse. Sie weisen auch darauf hin, dass der klare Kurs des Sozialabbaus und das unverblümte Bestreben der Politik, dem Druck der wirtschaftlichen Interessengruppen nachzugeben, immer mehr Leute veranlasst, ihren Unmut auf der Straße kund zu tun. Den kleinen Leuten in Europa sei klar, dass Reformen wie die Agenda 2010 ihnen an die Existenz gehen würden. In dieser Situation rückten alternative Organisationen und Gewerkschaften näher zusammen. Beide hätten festgestellt, dass nationale und internationale Probleme miteinander verwandt sind und in einem Begriff gefasst werden können: Neoliberalismus. Demnach gilt es beispielsweise als unabdingbar, soziale Kürzungen vorzunehmen, um die europäischen Firmen für den internationalen Wettbewerb stark zu machen. Deshalb werde die Kritik an der politischen Entwicklung existenzieller, meinen die Workshop-Teilnehmer.

Im Zuge der europäischen Sozialreformen und der Aufrüstung der EU-Korps wird schnell klar, dass auch das alte Europa kein Gegengewicht zu den USA darstellt, sondern im Gegenteil in deren Fußstapfen steigt, so Attac-Aktivistin Sterner. Die Aufgabe der Bewegung müsse es nun sein, vor allem Arbeiter und sozial schwache Schichten mit in den Protest einzubinden. Diese Meinung findet in den Diskussionen ungebrochene Zustimmung. Nur mit der Unterstützung der von Sozialabbau Betroffenen könnten alternative Lösungen umgesetzt werden.

In diesem Kontext spielen die Gewerkschaften als Mobilisierungsträger eine wichtige Rolle. In Frankreich wird beispielsweise nächste Woche der größte Generalstreik seit 1968 erwartet.

Während die Globalisierungskritiker noch vor allem diskutieren, bereitet sich die Stadt Genf auf die bevorstehenden Massenproteste vor allem am Sonntag vor. Geschäfte und Banken sind mittlerweile geschlossen. Bei kleineren Demonstrationen kam es gestern zu ersten Zusammenstößen mit der Polizei.


media reports | evian reports | www.agp.org (archives) | www.all4all.org