Frankfurter Rundschau, 30.5.03

Evian vor dem Gipfeltreffen der G-8-Staaten: Welche Strategie verfolgen Demonstranten?

Im Sonderzug der Globalisierungskritiker zum G 8-Gipfel in Evian fahren lauter nette Leute mit

Von Volker Schmidt (Annemasse)

Fragt ein Polizist den anderen: "Was machen wir hier eigentlich?" Sagt der andere: "Keine Ahnung, sind doch lauter nette Leute." Knapp tausend Globalisierungskritiker, ein ganzer Sonderzug voll, und das halbe Dutzend Polizisten am Frankfurter Hauptbahnhof hat nichts zu tun, als mit ihnen über die Weltwirtschaftsordnung zu plaudern. Den Zug hat Attac Deutschland gechartert, er ist am frühen Abend in Berlin losgefahren zum G8-Gipfel in Evian am Genfer See, macht um drei Uhr nachts in Frankfurt Station. Pünktlich nach Fahrplan. Am Fenster spielt ein Kassettenrekorder Bob Marley: "Get up, stand up".

Die Zugfahrer haben die Zeit genutzt. Ein paar haben diskutiert, ein paar haben gefeiert. Ein ganzer Gesellschaftswagen voll hat sich bis lange nach Mitternacht die Köpfe zerbrochen: Was machen wir, wenn die Polizei das und das tut? Wie reagieren wir, wenn der Bundesgrenzschutz Leute rausholt aus dem Zug? Sollen wir dann den Grenzbahnhof besetzen? Bei der Einfahrt in Frankfurt johlen die Zugfahrer lauter als die müde dreinblickenden Zusteiger. In einem vorderen Waggon lassen ein paar Stimmen die internationale Solidarität hochleben. Dann wird es ruhig.

Kurz vor sechs, Sonnenaufgang über dem Schwarzwald. "Aufwachen, wir nähern uns der Grenze", quäkt der Abteillautsprecher, "bitte alle illegalen Drogen vernichten." Ein Hauch von Gras schwebt durch die Gänge. "Ihr wisst, in Freiburg steigen die Grenzer zu, wir wollen niemanden provozieren, begrüßt sie mit einem Lächeln." Das fällt nicht leicht um diese Zeit, übernächtigt und mit der Angst vor Polizeischikane im Nacken. Erfahrene Gipfel-Stürmer erzählen von Genua und Berlusconis "Fascho-Bullen". Ängstliche Gesichter bei den Kirchentagsschwänzern von Pax Christi, bei G8-Protest-Neulingen und Attac-Schnupperern.

Zum Gipfel selbst, in den Nobelbadeort Evian, werden die Protestler ohnehin nicht gelangen: Sperrgebiet. Sie wollen es umzingeln, Eindringen in die "Rote Zone" ist nicht geplant. Wer mit dem deutschen Zug kommt, campt im "intergalactic village" in Annemasse, weitere Zeltplätze liegen in Genf. Bis zur Ankunft der "illegalen Acht", wie sie die Regierungschefs hier nennen, wollen sie diskutieren und trainieren: Verhalten bei eskalierenden Demonstrationen, zum Beispiel. "Eine andere Welt ist möglich - aber welche?", heißt ein geplanter Workshop: Der Widerstand gegen die gnadenlose Liberalisierung der Märkte ist auf der Suche nach einer positiven Utopie. Eine, die Spaß nicht ausschließt: Jeden Nachmittag stehen Konzerte an.

Deutsche und Schweizer kontrollieren die Ausweise, filzen hier und da einen Rucksack. Keine Hunde, viel "Bitte" und "Danke". Am Grenzbahnhof werden zwei Reisende zum Verhör abgeführt. Einer ist seit einer Demo gegen Rechtsradikale einschlägig polizeibekannt, der andere, heißt es unter den Zugfahrern, ist dank FBI im Computer, weil er einen Flug für den 11. September 2001 gebucht hatte und dann nicht geflogen ist: Terrorismus-Verdacht. Beide sind schnell wieder frei. "Wir fahren vollzählig weiter nach Basel", kommt es aus dem Lautsprecher. Applaus antwortet. Richie Havens singt "Freedom".

Auf dem Weg nach Genf verteilt einer Rosen: für die Polizisten, die bestimmt zu hunderten am Bahnhof stehen werden. Es soll sie weniger aggressiv stimmen. Ein Fundamentalist nölt: Rosen ohne Dornen seien das, womöglich pestizidverseucht, in Sklavenarbeit geschnitten. In Genf wartet kein einziger Polizist. Nur Busse, mit denen die Gipfelgegner nach Annemasse gefahren werden. Die städtischen Verkehrsbetriebe haben "Pace"-Fähnchen auf die Busdächer gesteckt, das ist allemal konsensfähig. An der Grenze zu Frankreich, wo das Camp liegt, bekommen die Protestierer eine kleine Motorrad-Eskorte. Es sind viele Rosen da für die paar Flics.


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