Köln-Nachbereitung

Eine kritische Betrachtung der Aktionen gegen die Gipfel in Köln im Juni 1999

Die Gipfel in Köln sind vorbei, und fast hätte niemand gemerkt, daß es auch Gegenaktivitäten dazu gab. Die Krönung lieferte Bundeskanzler Schröder im ZDF, als er nach seiner Meinung zur Demo am 19.6.99 befragt wurde und sinngemäß antwortete: "Die wollen doch das gleiche: Schuldenerlaß für die ärmsten Länder!". Die Betonung der Schuldenerlaßforderung, die sich nur schwer von der aktuellen Regierungspolitik der rot-grünen Regierung unterschied, trug erheblich mit dazu bei, daß der Protest gegen die Gipfel in der Öffentlichkeit kaum sichtbar war. Es kam auch zu fast keinen nennenswerten Störaktionen, den Regierungsvertretern dürften die Proteste kaum aufgefallen sein.

Lauter Latschdemos

Aber nicht nur zum Weltwirtschaftsgipfel (WWG), auch zum EU-Gipfel am 3. und 4. Juni, sowie zur G8-Außenministertagung und zur "Kosovo-Stabilitätskonferenz" im Juni in Köln regte sich kein allzu lauter Widerstand. Und wenn auf den Straßen etwas stattfand, waren es auch nicht viel mehr als Latschdemos. Latschdemos fallen in der öffentlichen Darstellung kaum auf: selten werden die Forderungen der Demo medial vermittelt, allenfalls die Zahl der Teilnehmenden wird registriert - und die blieb in Köln meist hinter den Erwartungen zurück. Selbst die Erlaßjahrkampagne mobilisierte aufgrund des gleichzeitig stattfindenden Kirchentags in Stuttgart weniger Menschen als erwartet. Beim letzten Weltwirtschaftsgipfel in Birmingham 1998 versammelten sich sogar bis zu 80000 Menschen. Die größte Demo gegen die Gipfel in Köln war die Demo der Europäischen Märsche mit einem Antifa-Block der AABO. Die Euromarsch-Demo vermochte am meisten TeilnehmerInnen (nämlich 35000) aus anderen Ländern und Städten anzulocken.

Kaum kleine Aktionen, aber eine ganze Palette von verschiedenen Aktivitäten

Latschdemos sind ein integrierbarer Protest, der zum Gipfelbrimborium mit dazu gehört. Der Polizeichef in Köln kündigte im Vorfeld an, er werde den "legalen" Protest (die angemeldeten Großdemos) zulassen, aber jegliche spontane Aktionen in der Innenstadt unterbinden. Dies geschah rigoros, es hagelte zig Platzverweise. Bei einem Verstoß gegen den Platzverweis (für das gesamte Stadtgebiet innerhalb der Ringe) wurden die Menschen verhaftet und in die Gefangenensammelstelle nach Brühl (Polizeikaserne zwischen Köln und Bonn) gebracht. Dies widerfuhr auch einigen zufällig anwesenden TouristInnen. Es kam zu fast keinen nennenswerten Störaktionen. Die Kölner Polizei mußte sich jedoch von zwei Briefen distanzieren: die BewohnerInnen von Köln-Deutz wurden aufgefordert, während der Gipfel ihre Häuser nicht zu verlassen, und AutobesitzerInnen fanden Hinweise daß ihre Fahrzeuge erkennungsdienstlich erfaßt seien und sie eine Polizei-Hotline anrufen müßten. Andererseits lief eigentlich viel in Köln, aber vieles nebeneinander her: 3 Großdemos, eine Menschenkette, 3 Alternativ- oder Gegenkongresse, zwei Karawanen, ein internationaler Aktionstag, ein Hungerstreik, und es gab zwei Bündnisse und mehrere Plena (FrauenLesben-Plenum gegen die Gipfel, das Infopoints-Treffen rund um den Infoladen Köln, usw.).

Die Demo am 29.5.99 in Köln

Die Demo der Europäischen Märsche gegen Erwerbslosigkeit, ungeschützte Beschäftigung, Rassismus und neuerdings auch gegen Krieg war mengenmäßig ein Erfolg. Diese bunte Demo verzeichnete die größte Beteiligung von Gruppen aus anderen Städten und Ländern. Die AABO (Antifaschistische Aktion/ Bundesweite Organisation) mobilisierte zu einem großen Block, außerdem gab es einen riesigen anarcho-syndikalistischen Block, einen kurdischen Block, usw.. Dennoch sollte die Demo vom 29.5.99 nicht über den grünen Klee gelobt werden. Die Demospitze der Europäischen Märsche hat nicht angemessen reagiert, als es der Polizei darum ging, die Demonstration zu trennen. Es sollten wohl symbolisch Synergieeffekte zwischen verschiedenen Spektren verhindert werden. In einem Artikel in der Zeitung "SoZ" (Köln) wird die Demo vom 29.5. in rosigen Farben gemalt und von der "Vorhut der sozialen Bewegungen in Europa" geschwaermt. Die Tatsache, daß der zweite Teil der Demo von der Polizei gestoppt wurde, währenddem die Demospitze weiter lief, wird in dem Artikel nur in einem Nebensatz beiläufig erwähnt.

Der Trennungsversuch war jedoch für alle Demoteilnehmenden vorhersehbar, bereits zu Beginn der Demo (bei Schwitztemperaturen) trat die Polizei martialisch in Kampfmontur auf. Die Polizei begleitete den Antifablock von Anfang mit einem dichten Spalier und griff mehrmals die Demo an. In den engen Straßen zog sich die Polizei trotz mehrmaliger Aufforderung durch die Demoleitung immer noch nicht zurück. Die Demoleitung wunderte sich, daß die Polizei ihr Spalier verstärkte statt abbaute und schließlich den Antifablock mit einem Kessel längere Zeit zum Stehen brachte. Die Demoleitung - garantiert ohne böse Absichten, vielleicht ist ihnen also Naivität vorzuwerfen - versuchte, die Demospitze zum Anhalten zu bewegen. An der Spitze seien GewerkschafterInnen aus Spanien und Frankreich gewesen, hieß es hinterher, die wollten nicht stehenbleiben weil das in ihren Ländern nicht so üblich sei. In Ermangelung von OrdnerInnen an der Demospitze gelang es der Demoleitung nicht, den Zug anzuhalten, die Demo lief also weiter bis zum Schluß, es gab keine Lautsprecherdurchsagen, und die meisten TeilnehmerInnen haben nicht erfahren was beim Antifablock los war. Nur die Demoleitung lief zum Antifablock zurück. Irgendwer handelte mit der Polizei aus daß der Antifablock weiter laufen dürfe, wenn der vordere Teil der Demo am Abschlußort angekommen ist, und zwar auf einer abgekürzten Strecke die nicht am Dom vorbei führt.

Die Anti-EU-Demo am 3.6. und der Kongreß am 4./5.6.

Für den fehlenden Protest während des EU-Gipfels (am 3. und 4. Juni) war auch die Tatsache verantwortlich, daß am 4.6. ein Kongreß stattfand, und eine Demo am 3.6., zu der nur 3500 Menschen kamen und wenig Menschen aus anderen Ländern, im Gegensatz zur Demo der Europäischen Märsche am 29.5. Mit der Verlegung der Demonstration auf den 29.5. gehe die Rechnung der Herrschenden voll auf, der EU-Gipfel bleibe protestfrei, hatte die Ökologische Linke argumentiert und darum die linksradikale Demonstration auf den 3.6. festgelegt. So fand am 3.6. eine äußerst berechenbare kleine bundesweite linksradikale Latschdemo weitab von der Innenstadt statt, und ansonsten blieben die Linksradikalen am 3. und 4. Juni mit ihrem Gegenkongreß der Straße fern und beschränkten sich auf verbalen Protest. Die Medien nahmen den Gegenkongreß fast nicht zur Kenntnis. Hinzu kommt, daß gar das Scheitern der bundesweiten linksradikalen Demo drohte, die hauptsächlich von der Ökologischen Linken und der Gruppe Perspektive aus Bremen organisiert wurde. Erst im letzten Moment sicherten weitere Kräfte, die Antifa KOK aus Düsseldorf und die Infopoints in Köln, eine funktionierende Organisationsstruktur (z.B. OrdnerInnen) für die Demo. Der Demoversammlungsort in der Innenstadt (Offenbachplatz) wurde polizeilich verboten, und die Erfahrungen des Antifablocks am 29.5. taten ihr Übriges, daß überhaupt wenig Menschen motiviert waren, zum 3. Juni nach Köln zu reisen. Busse wurden so gut wie nicht organisiert, mit Ausnahme eines Busses aus München, der kurz vor der Abfahrt von einem Unterstützungssonderkommando in voller Kampfmontur gestürmt wurde. Das Gepäck wurde durchsucht, Gegenstände beschlagnahmt und eine Person festgenommen. In den Tagen vor der Demo rechneten AktivistInnen in Köln mit dem Schlimmsten, und malten sich in den düstersten Farben einen unangenehmen Wanderkessel aus. Am 3. Juni begleitete die Polizei die Demo jedoch mit einem lockeren Spalier, lediglich hinter der Demo folgte ein größerer Trupp an PolizistInnen. Die Demo lief völlig ohne Zwischenfälle bis auf die Festnahme eines angeblichen "Drogendealers", die nur zufällig während der Demo stattfand, wie die Polizei beteuerte. Als die Situation zu eskalieren drohte, ließ die Polizei den Mann frei. Die Befürchtungen im Vorfeld bewahrheiteten sich nicht, führten aber zu erheblicher Einschüchterung. Um eine größere Teilnahmezahl für den 3./4. Juni zu gewährleisten, wäre es notwendig gewesen, linksradikale TeilnehmerInnen aus dem Ausland mit einem attraktiven Kongreß in der Zeit vor den Gipfeln zum Verbleib in Köln zu bewegen. Die meisten linksradikalen Gruppen aus Spanien, Italien, Frankreich und der Schweiz reisten am Samstagabend gleich nach der Demo wieder ab. Hätte der linksradikale Anti-EU-Kongreß parallel zum EU-Alternativgipfel (vom 28.5. bis zum 2.6.) stattgefunden, wäre auch Zeit für Arbeitsgruppen zur Vorbereitung von phantasievollen Aktionen am 3. und 4.6. vorhanden gewesen. Zum Anti-EU-Kongreß waren fast keine TeilnehmerInnen aus anderen Ländern angereist (im Gegensatz zu den Alternativgipfeln des Bündnis Köln 99). Indem die beiden Alternativ- bzw. Gegenkongresse nicht parallel, sondern nacheinander stattfanden, fehlte es weitgehend an einem Zusammenkommen unterschiedlicher Spektren, Synergieeffekte wurden dadurch verhindert.

Kleine unberechenbare Aktionen gegen den EU-Gipfel beschränkten sich auf Ausnahmen: die Poldermodell-Aktion am 2.6., die Aktionen des FrauenLesbenPlenums am 4.6., der Innenstadtaktionstag am 5.6. Sie erfuhren allesamt eine herbe Repression durch die Polizei.

2.6., 5.6., und andere Aktionstage: Eene mene Platzverweis - und weg bist du!

Mit Platzverweisen und großen Verhaftungsaktionen hatten 12000 PolizistInnen die wenigen Protestierenden völlig im Griff. Wir hätten viel zahlreicher sein müssen und an mehreren Orten gleichzeitig, um Überraschungseffekte erzielen zu können. So konnte mit sofortigem Platzverweis ab einer versammelten Person schon vor einer Aktion ebensolche bereits vor ihrem Stattfinden verhindert werden. Eine Öffentlichkeit zu dieser Aktionsverhinderungswelle durch die Polizei fand kaum statt. Ein Aktivist, unauffällig gekleidet, wurde am Hauptbahnhof Köln nichtsahnend namentlich von einem Zivilpolizisten angesprochen: "Guten Tag, Herr Sowieso, ich erteile Ihnen hiermit einen Platzverweis!". Eine Journalistin und ein Aktivist wurden beim harmlosen Espressotrinken in einem Café verhaftet. Auf die Polizeitaktik der Platzverweise, spätestens seit den Chaos-Tagen in Hannover gang und gäbe, gab es in Köln keine Antwort. Auch die AktivistInnen des internationalen Aktionstags vermochten nicht phantasievoll darauf zu reagieren: Die TeilnehmerInnen der Interkontinentalen Karawane blieben angesichts der am 18.6. erfahrenen Repression (stundenlanges Festsitzen in einer Straßenbahn während eines Polizeikessels an der Haltestelle, 260 Platzverweise, Handgreiflichkeiten und rassistische Äußerungen der PolizistInnen) bei der Demo am 19.6., die zum Höhepunkt ihres Europaaufenthaltes werden sollte, mehrheitlich auf dem Camp. Auch in bezug auf soziale Bewegungen die sich international vernetzen stehen wir offenbar erst am Anfang. Schließlich hätte doch jemand den Bäuerinnen und Bauern aus Indien sowie AktivistInnen aus Bangladesch, Nepal, Mexiko und anderen Ländern doch vorher beschreiben können, wie polizeiliche Repression hierzulande aussehen kann.

16.-18.6.: G7-Alternativgipfel des Bündnis Köln 99

Beim Alternativgipfel am 17./18. Juni war eine ausführliche Diskussion nicht vorgesehen. Der Kongreß war sehr akademisch, es handelte sich um eine Aneinanderreihung von Vorträgen mit anschließenden Nachfragen aus dem Publikum. Da es keine Arbeitsgruppen gab, blieb wenig Raum für Interaktion unter den Teilnehmenden. Der Kongreß bot thematisch wenig Neues, und es waren teilweise dieselben prominenten ReferentInnen eingeladen wie beim alternativen Weltwirtschaftsgipfel in München 1992 oder 1985 in Bonn: Susan George, Elmar Altvater, Vandana Shiva, usw. Auch zwischen den verschiedenen Bereichen fand kaum Interaktion statt. Am 16.6. lief ein Symposium zu Alternativen zur Globalisierung (veranstaltet vom Komitee Widerstand gegen das MAI und anderen), die dortigen Diskussionen wurden anderntags kaum aufgegriffen. Am ersten Tag des Alternativgipfels liefen drei Foren gleichzeitig: Migration, Zukunft der Arbeit und Ökonomie, und am zweiten Tag sollten diese Themen zusammenfließen, in dem TeilnehmerInnen aus allen drei Foren auf den Podien saßen. Ein erkennbarer Austausch auf dem Podium entstand jedoch nicht, trotz der Teilnahme z.B. des Hungerstreikenden Viraj Mendis (Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen) und von Detlef Hartmann (Kein Mensch ist illegal). Letzterer glänzte mit einem schön bissigen Beitrag über NGOs sowie Krieg, nur die Synchronübersetzung konnte ihm überhaupt nicht folgen.

Ausgrenzende Mobilisierung

Beide Bündnisse, das breitere Bündnis Köln 99 (anfangs Antoniterkirchenplenum genannt) und das bundesweite linksradikale Plenum (im folgenden Lira-Plenum) entwickelten trotz einer sehr langen Vorbereitungsphase wenig Mobilisierungskraft. Vielmehr sorgten sie mit gegenseitigen Abgrenzungstendenzen dafür, daß sich immer mehr Gruppen aus dem Vorbereitungsprozeß zurückzogen, an dem anfänglich bundesweit sehr viele Städte beteiligt waren. Sie wandten sich Antikriegsaktionen oder anderen Aktivitäten vor Ort zu. Einzig die Europäischen Märsche konnten durch das frühzeitige Organisieren von Bussen im In- und Ausland eine nennenswerte Anzahl von Menschen dazu bewegen, nach Köln zu kommen. Bundesweit kamen am 29.5. allerdings relativ wenige aus dem Gewerkschaftsspektrum (nur die Gewerkschaft Nahrung-Genußmittel-Gaststätten war in größerer Zahl vertreten).

Das Bündnis Köln 99

Das Bündnis Köln 99 verhedderte sich in endlosen Aufruf-Diskussionen, bei denen ernsthaft diskutiert wurde, die "Bleiberecht für alle"-Forderung entweder zu streichen (und damit das Netzwerk "Kein Mensch ist illegal" aus dem Bündnis zu drängen) oder in eine verwässernde Aufzählung zu verwandeln. Hintergrund der von der Umweltorganisation BUND aufgeworfenen Auseinandersetzung waren die Botschaftsbesetzung durch KurdInnen für die Freiheit von Öcalan (wenn kein Bleiberecht für alle, dann wohl nicht für kriminalisierte AusländerInnen?). Schließlich wurde die Forderung in eine völlig akzeptable Formulierung "für ein Europa ohne Grenzen..." umgewandelt. Gleichzeitig (und in der Aufregung weniger beachtet, dies war bestimmt auch Absicht) wurde die Forderung nach "Schuldenstreichung für alle Entwicklungsländer und Reparationszahlungen für neokoloniale Ausbeutung" gestrichen und in das Erlaßjahr-kompatible "Schuldenstreichung für die ärmsten Länder" umgewandelt.

Ein eigenständiges Profil gegenüber der Erlaßjahrkampagne, die am 19.6.99 eine Menschenkette veranstaltete, war seitens des Bündnisses Köln 99 nicht sonderlich beabsichtigt. Die Nichtregierungsorganisation (NGO) WEED aus Bonn übte im Bündnis Köln 99 eine deutliche Hegemonie in der Außendarstellung aus. Erklärtes Hauptziel auch des gesamten Alternativen Weltwirtschaftsgipfels war gemäß den Presseerklärungen von WEED die Forderung nach einem Schuldenerlaß für die ärmsten Länder.

Das bundesweite linksradikale Anti-EU-/WWG-Plenum (LiRa)

Das bundesweite Lira-Plenum führte ebenfalls endlose Aufruf-Diskussionen. Grundlage war ein Text, der in seinen Grundzügen auch vor zehn Jahren hätte geschrieben werden können (und einige munkelten, es handele sich bei der Vorlage um einen Text, der für den WWG 1992 geschrieben wurde). Die Ökologische Linke setzte hier eine bundesweite Hegemonie durch, die Schwerpunktsetzung auf den EU-Gipfel wurde mit (im Vergleich zum Aufruf) geringer Diskussion durchgesetzt. Ein großes Problem entstand bei der Verlegung des offiziellen EU-Gipfels vom 3. bis zum 6. (inklusive Wochenende) auf den 3./4. Juni. Die Europäischen Märsche entschieden sich auf einer Konferenz Ende Januar in Köln, bei der nur wenige Linksradikale und auch wenige KölnerInnen anwesend waren, für die Demo am 29.5., weil Fronleichnam (3.6.) nur in wenigen europäischen Ländern ein Feiertag ist. Die AABO mobilisierten für den 29.5. und verabschiedeten sich aus dem bundesweiten Lira-Plenum. Beim bundesweiten Lira-Plenum wurde Ende Februar diskutiert, wie darauf zu reagieren sei, und die Hälfte der Anwesenden sprachen sich für eine Vorverlegung des Gegenkongresses aus, insbesondere auch, um Linksradikale aus dem Ausland anzusprechen. Die Ökologische Linke und die Gruppe Perspektive aus Bremen nutzten die Moderatorenposition aus, um ihre Meinung durchzusetzen. Wenn die Europäischen Märsche Erwerbslose vertreten, können sie auch unter der Woche demonstrieren", fanden sie gehässig. Eine Kritik aus München an diesem Treffen wurde vom Bundesvorstand der Roten Hilfe abschlägig beantwortet und insgesamt kaum beachtet. In der Folge erschienen viel weniger Gruppen zu den bundesweiten Treffen (dieser Trend war auch beim Bündnis Köln 99 zu beobachten), die Kongreß- und Demovorbereitung wurde im kleinen Kreis weitgehend von Ökoli, Perspektive und Rote Hilfe durchgeführt, es gab keine ausführlichen Protokolle von den AGs. Schließlich wurde sogar die Beteiligung von weiteren Gruppen an der Anti-EU-Kongreßvorbereitung verhindert: War schon die Aufforderung, andere Gruppen aus dem Ausland in die Kongreßvorbereitung mit einzubeziehen, auf taube Ohren gestoßen, so wurde ein Antinationales Forum von den Gruppen Venceremos Berlin, Demontage Hamburg u.a. auf dem Kongreß rundweg abgelehnt. Der Kongreß selbst blieb so am 3./4. Juni ein kleiner Kreis, doch das ausgelagerte Antinationale Forum vermochte immerhin am meisten TeilnehmerInnen anzulocken.

"Es gibt kein richtiges Leben im Falschen" - müssen wir deswegen alles falsch machen?

Wir haben in Köln zahlreiche Fehler gemacht, und es gilt, für die nächste große Kampagne (z.B. Anti-Expo, Anti-WTO) daraus zu lernen. Beim G7-Alternativgipfel wurde ein Flugblatt (aus autonomen antiimperialistischen Kreisen) verteilt mit dem Titel "Neokeynesianische Illusionen", das sich kritisch mit dem Programm des Alternativgipfels von "Bündnis Köln 99" auseinandersetzt: "Das dortige Programm erscheint bunt bis beliebig, radikalere und reformistische Ansätze stehen unvermittelt bis widersprüchlich nebeneinander. So kann es kaum verwundern, daß ein Diskussionstitel für den 18.6. gänzlich unverhohlen nach éPerspektiven neokeynesianischer Reformalternativen' fragt". Nach einer Darstellung der Rolle des Keynesianismus im (sozialen) Krieg und der Bedeutung einer Rückkehr zu alten Regulierungsformen, erklären die FlugblattschreiberInnen: "Wenn sie [diejenigen, die nur die Organisation des Krieges verändern und verbessern wollen] nach Defizitfinanzierung rufen, dann muß ihnen gesagt werden, daß die internationalen Finanzmärkte gewaltige Spielräume der Defizitfinanzierung geschaffen haben, daß der aktuelle G7-Keynesianismus in der Form einer enormen amerikanischen Privatverschuldung den weltweiten Wachstumsmotor monetär füttert." Und anschließend zitieren sie aus dem Manifest der Interkontinentalen Karawane (ICC): "Diese Reformen bewirken keine Veränderung in bezug auf die Ballung wirtschaftlicher, politischer und technologischer Macht, in welcher all unsere Probleme wurzeln - im Gegenteil, sie haben die Tendenz, diese Mechanismen zu verstärken." Angesichts der ICC, die gemeinsam mit der "Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen" gegen die Unterdrückungen und Verwüstungen im Trikont sowie gleichzeitig gegen den rassistischen Abschiebeterror demonstriert, kommen die AutorInnen zu folgendem Ergebnis: "Allein in der konkreten Verknüpfung verschiedener Auseinandersetzungsfronten [wie antirassistischen Fluchthilfen und Widerständen gegen die sozialen Säuberungen in den Städten, in Kämpfen gegen neofaschistische Formierungen, gegen neue patriarchale Formen sexistischer Gewalt u.a.] liegt die Möglichkeit, Widerstandsstrategien auf ein Niveau zu bringen, das der komplexen Logik des abgestuften sozialen Krieges entgegenwirken kann".

Synergieeffekte am 18.6.

Wenn Gruppen aus verschiedenen Spektren und aus verschiedenen Ländern sich miteinander solidarisieren und zu einer gemeinsamen Praxis kommen, können durch diese unerwarteten Zusammenkünfte unberechenbare Aktionen geplant werden. Aus dieser Interaktion zwischen verschiedenen Gruppen können sich Synergieeffekte entwickeln, aus denen etwas Neues entstehen kann. Ein Beispiel für eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit ist der internationale Aktionstag, der von Reclaim the Streets und vielen anderen Netzwerken initiiert wurde. Der globale Aktionstag beinhaltete koordinierte Aktionen in Nigerien, Australien, den USA, Kanada, Argentinien, Uruguay, in der Tschechischen Republik, Weißrußland, Zimbabwe, Pakistan und zahlreichen anderen Ländern. In London protestierten fast 10000 Menschen in der Innenstadt mit mehreren Aktionen, und die Medien berichteten über eine "antikapitalistische Demonstration". Ansonsten fand dieser globale Aktionstag wenig Echo in den Medien. Dies liegt vielleicht auch an der Unvorstellbarkeit des Neuen, daß Gruppen in 43 Ländern auf allen fünf Kontinenten längere Zeit auf ein solches gemeinsames Datum hinarbeiten. Die Idee des internationalen Aktionstages, der in einer ähnlichen Form bereits am 18. Mai 1998 anläßlich der Konferenz der Welthandelsorganisation in Genf stattfand, ist eine Verbindung von Spaßkultur (Tanzen auf der Straße), die auf ökologische Aktionsgruppen gegen Autobahnbau (wie Earth First!) und gewerkschaftliche Basisgruppen wie seinerzeit die Liverpool Dockers in England trifft. Daraus können spannende Diskussionsprozesse entstehen mit weiteren Verbindungen, so daß andere dazu bewegt werden, mitzumachen, und die Aktion immer weitere Kreise zieht. Friede, Freude, Eierkuchen oder Repolitisierung der Love Parade? Weder noch. Auch diese neue Aktionsform trifft schnell auf die Repression durch die Polizei. In Köln scheiterte die geplante Aktion am Nachmittag des 18. Juni an einem Beinahekessel am Versammlungsort und einer Einkesselung von mehreren hundert AktivistInnen an einer Straßenbahnhaltestelle. Einzig die am Vormittag des 18. Juni durchgeführte Demonstration gegen Bayer Leverkusen (vom Werktor in die Innenstadt) blieb unbehelligt.

Es muß also (trotz Repression) versucht werden, noch mehr Leute für diese Aktionsformen zu gewinnen, gleichzeitig dürfen die Proteste nicht inhaltsleer bleiben (was böse Zungen "puren Aktionismus" nennen). Eine länderübergreifende Zusammenarbeit ist auch nicht so einfach, wie die Interkontinentale Karawane zeigte: das Projekt von rund 500 Bäuerinnen, Bauern und AktivistInnen aus Indien, Nepal, Bangladesch, Mexiko und anderen Ländern war viel zu überdimensioniert, die Inhalte blieben manchmal buchstäblich auf der Strecke. Zu viele Länder und Orte in zu kurzer Zeit wurden per Bus angefahren, und zum Schluß, beim Weltwirtschaftsgipfel in Köln, waren die Busreisenden erkennbar fix und fertig. Das Projekt zog in den Durchgangsorten erhebliche (finanzielle und personelle) Kräfte ab, die bei der Mobilisierung für Köln deutlich fehlten.

Einbindung des Protestes

In bezug auf Bewegungen wie der Schuldenerlaßkampagne Jubilee 2000 werden jedoch auch Gefahren von breiten internationalen Bündnissen sichtbar. Die Erlaßjahrkampagne unterscheidet sich fundamental von den "IWF-Mördertreff und IWF zerschlagen!"-Parolen 1988 in Westberlin. Noch 1994 hieß es beim IWF-Weltbank-Treffen in Madrid, als das Bretton-Woods-System sein 50jähriges Bestehen feierte, "50 Jahre sind genug". Die Nichtregierungsorganisation WEED (World Economy, Environment and Development) in Bonn lieferte mit ihren Analysen zur Schuldenproblematik im Vorfeld und während des Weltwirtschaftsgipfels die kritische aber brave Begleitstimme zur Schuldeninitiative der Bundesregierung und mauserte sich so zur Regierungsberaterin. Die von WEED geleistete öffentliche Darstellung "ihres" Alternativgipfels, der von der Stadt als Teil des offiziellen Rahmenprogramms zum WWG subventioniert wurde, vernachlässigte stark die anderen beiden Foren beim Alternativgipfel, das Forum "Flucht und Migration" von "Kein Mensch ist illegal" sowie das Forum "Zukunft der Arbeit" der linken NGO "medico international".

Nicht nur in Zeiten des (militärischen) Krieges, auch in befriedeten Vor- und Nachkriegszeiten ist die vielbeschworene "Zivilgesellschaft", in der sich die unterschiedlichen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) tummeln, als Ort der Herrschaftssicherung ein umkämpftes Terrain. Es gilt, sich nicht der neuen Mitte anzubiedern, die immer mehr nach rechts tendiert. Über die Zivilgesellschaft läuft die Stabilisierung von Herrschaft und der Versuch der Einbindung einst radikalerer Kräfte. Diese Einbindung geht soweit, daß ehemalige Teile der Friedensbewegung in der Grünen-Partei auf einmal humanitäre Bomben befürworten und mithelfen, einen Krieg zu legitimieren und die Besetzung eines Landes als Friedensmission zu verkaufen. Die Antikriegsproteste in Köln und anderswo (auch WEED und das Bündnis Köln 99 positionierten sich gegen den Krieg) trafen auf wenig Resonanz in den mainstream-Medien.

In geordneten Bahnen, leicht kontrollierbar durch den Staat, ist Protest kaum mehr öffentlich sichtbar. In Köln wurde über die Medien ein solcher Jubel über den Besuch der Staatgäste inszeniert, daß der vorhandene Ärger über Personenkontrollen und Verkehrsbehinderungen bis hin zu einem eigentlichen Belagerungszustand von 12000 PolizistInnen, kaum eine kritische Äußerung fand. Während der Kosovo-Stabilitätskonferenz in Köln war keine Antikriegsstimme zu hören, es blieb in dieser Hinsicht beim Schweigen im Blätterwalde. Nur mit einer internationalen Vernetzung von sozialen Bewegungen, die sich neue und unberechenbare Aktionsformen einfallen lassen, kann die Lethargie in der Gesellschaft aufgebrochen werden. Die interkontinentale Vernetzung muß sich aber auch auf konkrete Handlungsmöglichkeiten vor Ort runterbuchstabieren lassen. Eine Adressenliste macht noch keine Bewegung aus, die Diskussion muß sich auf eine konkrete Praxis beziehen, nicht auf abstrakte Phrasen. Es müssen lokale Freiräume geschaffen werden, in denen Menschen aus unterschiedlichen Bereichen zusammenkommen und sich gegenseitig informieren, Erfahrungen austauschen, sich weiterbilden und versuchen, Gegeninformationen zur herrschenden Meinung in die Welt zu setzen, um Diskussionen in Gang zu bringen, die schrittweise dazu beitragen, nebst fundierten Analysen der gegenwärtigen Situation und der Veränderungen seit zwei Jahrzehnten auch Perspektiven der Aufhebung der Verhältnisse zu eröffnen. Mit Abgrenzungen gegenüber breiteren Bündnissen, wie sie Köln praktiziert wurden, werden jedoch die Nichtregierungsorganisationen sich selbst und ihren regierungskompatiblen Vorschlägen überlassen, und auch die Linksradikalen bleiben unter sich, so daß keine öffentlich wahrnehmbare Auseinandersetzung gegen diese kapitalismusverbessernden Positionen stattfinden kann.

Sandra K.

Eine ausgewählte Kurzübersicht

11.5.-3.6.:   Fahrradkarawane "Geld oder Leben"
22.5.-20.6.:  Interkontinentale Karawane (ICC)
28.5.-2.6.:   EU-Alternativgipfel (Bündnis Köln 99)
29.5.:        Demo der Europäischen Märsche
3./4.6.:      Offizieller EU-Gipfel
3.6.:         Anti-EU-Demo (bundesweites linksradikales Anti-EU-/WWG-Plenum)
4.6.:         FrauenLesben-Aktionstag
5.6.:         Innenstadtaktionstag und FrauenLesbendemo gegen den
              Abschiebeknast in Neuss
4./5.6.:      Anti-EU-Kongress (bundesweites linksradikales Anti-EU-/WWG-
              Plenum)
15.6.:        Grüne ließen hungerstreikende Flüchtlinge aus dem Kölner
              Grünen-Büro polizeilich räumen (Karawane für die Rechte 
              der Flüchtlinge und MigrantInnen)
17./18.6.:    G7-Alternativgipfel (Bündnis Köln 99)
18.-20.6.:    Offizieller G7-Gipfel (G8 mit Russland)
18.6.:        Internationaler Aktionstag
19.6.:        Menschenkette (Erlassjahrkampagne) und Demonstration gegen 
              den G8-Gipfel (Bündnis Köln 99)

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