Gleicher als Andere 3

Dritter Teil: Grundrisse einer Politik der freien Kooperation

One rule: no rules!
Janet Jackson, FreeXone

Words are not cheap; in der Regel sind sie hart erstritten, Ausdruck historischer Findungs- und Selbstvergewisserungsprozesse. Deshalb können wir sie nicht beliebig wechseln. Weil wir an vielen unterschiedlichen Geschichten Anteil haben, arbeiten wir mit unterschiedlichen Begrifflichkeiten.

Die hier benutzten Begrifflichkeiten sind nicht das, worauf es letztlich ankommt. Die einen möchten das, was hier als Grundrisse einer Politik der freien Kooperation beschrieben ist, vielleicht als postmodernen Sozialismus bezeichnen; es sei ihnen unbenommen.(38) Andere möchten das hier zusammengetragenen Konzept vielleicht überhaupt nicht mit einem hochtrabenden Namen versehen, sondern sehen es als dürftigen Notbehelf, die weiterreichenden Utopien ihrer eigenen (z.B. feministischen) Bewegung mit anderen Bewegungen zu kommunizieren und daraus eine ergänzende gemeinsame Praxis anzustreben, oder als ambivalentes Instrument, mit dem sich bestimmte Probleme der eigenen Bewegung testweise bearbeiten lassen. Man kann die Politik der freien Kooperation als Antwort auf die Frage lesen "Was heißt antikapitalistische Politik heute?" (39) oder "Was ist radikaler Reformismus?" Man kann sie genauso lesen als Antwort auf die Frage "Is there a collective story?" (40), d.h. wie lassen sich trotz Objektivismuskritik und Autonomie unterschiedlicher Bewegungen allgemeinere Bestimmungen formulieren, zumindest als vereinbarte Arbeitsgrundlage einer übergreifenden emanzipativen Bewegung. Entsprechend sind die dargestellten fünf "Politiken" teilweise "zweisprachig" benannt; es macht die Sache vielleicht leichter.

1. Abwicklung von Herrschaftsinstrumenten
 

Ihr wisst ebenso gut wie wir, dass Recht im menschlichen Verkehr nur bei gleichem Kräfteverhältnis zur Geltung kommt, die Stärkeren aber alles in ihrer Macht Stehende durchsetzen und die Schwachen sich fügen.
Thukydides, Der Peloponnesische Krieg

Freie Kooperation hat zur Voraussetzung, dass Kooperation und Kooperationsleistung nicht erzwungen wird. Dafür ist es nicht schlecht, wenn die entsprechenden Herrschaftsinstrumente geächtet sind und nicht eingesetzt werden; es ist besser, wenn reale Hürden und Dämme dafür existieren, die den Einsatz verhindern; es ist am besten, wenn das zugrundeliegende Gewaltpotential zum Verschwinden gebracht wird. Die Politik der Abwicklung von Herrschaftsinstrumenten stellt sich dies als einen schrittweisen, nie ganz abgeschlossenen Prozess vor. Einerseits ist die Liste möglicher Instrumente offen und Herrschaft ziemlich kreativ darin, alte zu variieren und neue zu erfinden; andererseits ist ein sofortiger Wegfall "in einem Schritt" meist weder möglich, noch in jedem Fall wünschenswert. Entscheidend ist der Prozess und das Kriterium dafür, was "vorn" ist. Dieses Kriterium ist nicht, ob einseitig überlegene Gewaltpotentiale für "etwas Gutes" eingesetzt werden, sondern ob die reale Möglichkeit, Kooperation und Kooperationsleistung zu erzwingen, effektiv geringer wird. Die in der Realität wirksamen Herrschaftsinstrumente zu benennen und abzubauen, bedeutet, in einer konkreten Kooperation die Machtfrage zu stellen: Wer hat sie, worauf stützt sie sich, wie kann sie in der Praxis zurückgedrängt und überwunden werden. Allerdings können wir diese Frage heute, angesichts der Vielfalt von Unterdrückungsverhältnissen und der Tatsache, dass fast jeder und fast jede sich in irgendeiner Hinsicht auch auf einer herrschenden Seite befindet, nur noch im Plural stellen - "Machtfragen stellen".

Intervention verhindern

Auf der Ebene unmittelbarer physischer (oder auch psychischer) Gewaltausübung geht es um das Verhindern gewaltförmiger Intervention eines mächtigeren Akteurs gegenüber einem im Verhältnis dazu ohnmächtigen. So simpel das klingt, so wenig verbreitet ist dieser Aspekt heute in der allgemeinen Anschauung. Seit Ende der Blockkonfrontation sind "gute" und "gerechte" Interventionskriege der NATO (mit welchem rechtlichen Konstrukt auch immer) an der Tagesordnung und werden auch in Teilen der klassischen Linken offen akzeptiert. Hier kann es nur ein prinzipielles Nein geben.

Intervention verhindern und verunmöglichen ist nicht dasselbe wie Pazifismus. Es gibt sehr wohl Möglichkeiten einer defensiven Verteidigungsstruktur (SDI ist nicht damit gemeint), die nur schwer zu Angriffskriegen in der Lage ist, schon gar nicht tausende Kilometer entfernt. Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit ist ein Begriff dafür, der sich auch auf nicht-militärische Bereiche übertragen lässt.(41) Auch bewaffnete antikoloniale Befreiungskriege sind in diesem Sinne keine prinzipiell zu verhindernde Intervention; die Vietnamesen sind schließlich nicht in den USA eingefallen.

Die Formen gewaltförmiger, einseitig überlegener Intervention sind vielfältig (und sie gehen durch Berufung auf demokratische Entscheidungsprozesse häufig weit geschmeidiger durch). Sie finden sich genauso in der Kriminalisierung von "illegal" Eingewanderten und der extremen Aufrüstung von Grenzen dagegen. Sie finden sich in Männergewalt gegen Frauen und in rassistischer Gewalt, mit der Kooperationsleistung erzwungen und ihr Preis diktiert wird. Es ist genauso ein Unding, dass wir gewaltsam von Polizeibeamten abgeholt werden können, wenn wir nicht zur Schule gehen, wie dass wir gewaltsam interniert und medikamentösen Therapien unterworfen werden können, weil unsere nähere Umgebung unser Verhalten "verrückt" findet. An allen diesen Punkten geht es um eine Politik, die gewaltsame Intervention verhindert und strukturell unmöglich macht - das ist das Kriterium, nicht der vermeintlich "gute Zweck". In den meisten Fällen sind die Formen bekannt, wie man dagegen einschreiten kann, und auch viele Möglichkeiten von Neuregelungen, die dem Gesichtspunkt einer strukturellen Interventionsunfähigkeit besser entsprechen.

Direkte, gewaltsame Intervention wird gerne verteidigt damit, dass man unmittelbaren Schaden für den Betroffenen verhindern möchte oder dass es die Umstände aktuell nicht zulassen, dass der Betroffene ausreichend artikuliert, was er/sie möchte. Dieser Aspekt ist äußerst eng auszulegen. Methodisch handelt es sich um einen Vorgriff auf erhoffte spätere Zustimmung, und wir setzen uns dem Risiko aus, diese Zustimmung nicht zu erhalten. Wenn wir jemand physisch davon abhalten, sich vor einen Zug fallen zu lassen, hoffen wir auf diese nachträgliche Zustimmung in naher Zukunft; wir können uns auch täuschen. Für revolutionäre Erhebungen gegen autoritäre oder faschistische Regime gilt heute zu Recht als Standard, dass die im Aufstand nicht klärbare allgemeine Zustimmung spätestens zwei Jahre später nachgeholt wird - durch Wahlen, vor allem aber durch die Aufhebung jeglicher repressiver Sondergesetze. Viel weiter lässt sich der Aspekt aber nicht ausdehnen; er darf insbesondere nicht dazu dienen, Menschen als verhandlungs- und artikulationsunfähig auszugeben und dadurch fremder Entscheidung auszuliefern. Alle Menschen können verhandeln und sich artikulieren; es ist nur sehr unterschiedlich, was das heißt. Es gibt Formen kollektiver Artikulation und Repräsentation, die wir ernst zu nehmen haben, ernster als unser eigenes Gutdünken.(42) Aus dem Risiko der Interpretation können wir uns nicht durch Entmündigung davonstehlen.

Wenn vom direkten Zwang die Rede ist, stellt sich die Frage: Können, wollen wir ohne Polizei und Gefängnisse leben? Die Antwort darauf kann die Theorie nicht geben. Was klar ist, ist der Interpretationsrahmen: gescheiterte Kooperation. Wir weigern uns z.B., in einer gesellschaftlichen Kooperation mit einem Mörder zu leben, und da es zur Gesellschaft als ganzer keine vergleichbaren und vertretbaren Alternativen gibt, müssen wir mit dieser Situation umgehen und uns soweit trennen, wie es geht. Der Betreffende kann sich dabei auf seinen Anteil am historisch-kollektiven Reichtum der Gesellschaft berufen; es ist keine Nettigkeit von uns, dafür zu sorgen, dass die Umstände der Separation möglichst gut sind. Der Interpretationsrahmen ist nicht: Strafe, Vergeltung, auch nicht Resozialisierung oder Erziehung. Dies steht uns nicht zu. Wir können Angebote machen, wie wir uns eine Kooperation wieder vorstellen können, unter welchen Bedingungen; oder wir können konkrete Kooperationen suchen, die den Betreffenden unter bestimmten Bedingungen aufnehmen. Wir sind angehalten, solche Angebote zu machen, weil es keine vergleichbare und vertretbare Alternative zur jeweiligen Gesellschaft als ganzer gibt.(43) Klar ist auch, dass im Fall von Ladendiebstahl bestenfalls die Kooperation mit einem konkreten Supermarkt als gescheitert angesehen werden kann (jedenfalls aus Sicht des Supermarkts).

Das Kriminalitätsbeispiel zeigt auch: Wo der Preis nicht ausgeglichen, gar alternativlos ist, kann die Einschränkung von Kooperationsleistungen als schlichte Erpressung ebenfalls unter den Begriff direkter Gewalt fallen. Deshalb kann die Gesellschaft als ganze ihre grundsätzlichen sozialen Unterstützungsleistungen nicht unter Bedingungen stellen. Deshalb ist Konditionalisierung von Entwicklungspolitik als "Menschenrechtspolitik" mächtiger Länder ein ziemlich suspektes Instrument. Deshalb sind Noten in einer Konkurrenzgesellschaft kriminell. Deshalb können wir auch den horrendsten Mieter nicht einfach kündigen, wenn es keine anderen Wohnungen gibt.

Es kommt nicht auf das Äußerliche oder Symbolische an, sondern darauf, was wirklich vor sich geht. Boxkämpfe sind okay, wenn sie in freier Vereinbarung stattfinden. Und beim legendären Fotoapparate-Raub im Urlaub, wenn auch unter Androhung von Gewalt vorgenommen, kann sich durchaus um die (aus Sicht der freien Kooperation unbedenkliche) spontane Erhebung einer Sondersteuer "arme Regionen" handeln.

Abbau von Verfügbarkeit

Wie im Ersten Teil erläutert, besteht strukturelle Unterordnung (die zweite Ebene von Herrschaftsinstrumenten) darin, die Regeln einer Kooperation so einzurichten, dass sich daraus systematisch unterschiedliche soziale Macht akkumuliert. Das kapitalistische Mehrwehrt ist ein klassisches Beispiel, aber es gibt viele Möglichkeiten. Nicht alle sind in gleicher Weise messbar.

Man auf dieser Ebene zwei typische Fehler machen. Der eine ist, danach zu fragen, wie Kooperationen möglichst effizient sein können, anstatt danach, wie wir in der Kooperation frei und gleich sein können. Der andere Fehler ist, es von außen für alle gerecht machen zu wollen. Stattdessen sollten wir uns auf die Herangehensweise der freien Kooperation beschränken: Was ist nötig, damit die Beteiligten den Rest frei aushandeln können? Wie wird vermieden, dass sie verfügbare Objekte sind?(44)

Aus Sicht der freien Kooperation ist eine Firma prinzipiell eine Kooperation. Im Fall eines selbstorganisierten ökonomischen Projekts ist uns das noch relativ klar; für eine großen Konzern oder Staatsbetrieb ist es aber auch nicht anders.(45)

Was bedeutet es, einen Betrieb nach der Logik freier Kooperation einzurichten? Die Regeln können von den Beteiligten geändert werden; die Beteiligten können gehen oder ihre Kooperation einschränken und dadurch Einfluss auf die Regeln nehmen; ihre Position dabei ist gleich, weil der Preis vergleichbar und vertretbar ist, den sie ein Scheitern der Kooperation kostet oder den sie für die Einschränkung ihrer Kooperation auf sich nehmen müssen. Wie sieht das aus? Jemand gründet mit anderen zusammen eine Firma; es werden Regeln vereinbart, die Arbeitsteilung, Entscheidungsfindung, Gewinnaufteilung, Arbeitsverträge betreffen und möglicherweise auch Ziel und Zweck des Ganzen. Die Firma wächst möglicherweise und stellt zusätzliche Beschäftigte ein. Die Gesellschaft redet in diese Regeln nicht hinein; die gesellschaftliche Einflussnahme beschränkt sich darauf, für das Ausscheiden von Beteiligten die Regeln einer ordentlichen Scheidung einzufordern - und die vorfindlichen Regeln in der Firma nicht zu schützen.

Das bedeutet: Im Falle des Ausscheidens eines Beteiligten wird nicht darüber spekuliert, wie es zustandegekommen ist (Zerrüttungsprinzip); es wird also z.B. eigene Kündigung nicht durch Sperrung sozialer Unterstützungsleistungen sanktioniert. Umgekehrt wird der Betrieb, wie jede ökonomische Kooperation, als Zugewinngemeinschaft betrachtet. Wer ausscheidet, kann seinen Anteil (Nettogesamtkapital minus ursprüngliche Einlagen geteilt durch Beteiligte) herauslösen und mitnehmen - er kann ihn auch der Firma leihen, falls diese solche Modelle vorsieht. Falls der Betrieb keinen Kapitalzuwachs verzeichnet hat, gibt es natürlich auch nichts mitzunehmen. - Dass die Gesellschaft die spezifischen, vorfindlichen Regeln des Betriebs nicht schützt, erhält seine Bedeutung, wenn Beteiligte eine Betriebsversammlung einberufen und erklären, dass sie die Regeln ändern wollen: Die Arbeitsteilung, die Entscheidungsfindung, die Gewinnaufteilung, die Arbeitsverträge, möglicherweise auch Ziel und Zweck des Ganzen. In diesem Fall einigen sich die Beteiligten entweder, oder sie einigen sich nicht. Wenn sie sich nicht einigen, gibt es mehrere Möglichkeiten: Niemand will das Projekt weiterführen; einige wollen das Projekt weiterführen, andere nicht; mehrere Gruppen wollen das Projekt weiterführen, aber nicht miteinander. Im ersten Fall endet der Betrieb, verbleibendes Nettogesamtkapital wird aufgeteilt wie beim Ausscheiden Einzelner. Im zweiten Fall führen die den Betrieb weiter, die es wollen, und die anderen scheiden aus und nehmen ihren Anteil mit. Im dritten Fall teilt sich der Betrieb, wie eine Amöbe, proportional zur Stärke der verschiedenen Gruppen.

Diese Herangehensweise schützt das Eigentum derer, die einen Betrieb gründen (oder in ihn einsteigen); es schützt allerdings nicht ihre spezifische Position. Falls ihnen die Entwicklung nicht zusagt, können sie es lassen und mit ihrem Anteil (Einlage plus etwaige Zugewinnanteile) nochmal von vorn anfangen.

Würden sich dadurch alle Betriebe in belegschaftsgeführte verwandeln? Wahrscheinlich nicht. Es würde verschiedenste Modelle geben. Auch die "Kapitalisten" des Betriebs können durch die Möglichkeit ihres Ausstiegs Druck auf die Regeln ausüben; falls sie über Fähigkeiten und Sachverstand verfügen, die in der Kooperation sonst nicht so gut vertreten sind, würde das Eindruck machen. Es spricht viel dafür, dass sich für sehr große und lang bestehende Betriebe die Wahrscheinlichkeit erhöht, zu mehr oder minder belegschaftsgeführten Modellen überzugehen. Es ist aber nicht gesagt; auch die Spezifika von Arbeitskultur, Branche, Marktsituation usw. mögen eine Rolle spielen. Niemand muss die Regeln ändern. Aber alle könnten.

Betriebe in dieser Weise als freie Kooperationen zu behandeln, setzt ferner voraus, dass soziale Sicherungssysteme existieren, die allen zumindest ein qualitativ ausreichendes Überleben garantieren, unter angemessener Berücksichtigung der individuellen Situation und des gesellschaftlichen Lebenshaltungsstandards. In voller Konsequenz könnte das heißen, dass die verschiedenen Sicherungssysteme zu einem einzigen Grundsicherungssystem zusammenfallen, das vollkommen unabhängige Leistungen zuweist, sozusagen eine Pro-Kopf-Ausschüttung eines Basisanteils an der gesellschaftlichen Wertschöpfung und am gesellschaftlichen Reichtum. In diesem Fall wären die Löhne vergleichsweise niedrig, und an Stelle mehrerer Versicherungssysteme und Lohnnebenkosten würde eine einzige Abgabe oder Steuer treten, die kapitalorientiert und nicht beschäftigtenorientiert erhoben würde. Zwischenstufen wären möglich und mit Sicherheit notwendig.

In einer solchen Struktur würden die Menschen als Arbeitende frei und gleich kooperieren. Sie wäre nicht, wie oft der Einwand lautet, an die Situation in hochentwickelten Industrieländern gebunden. Wo monetäre Sicherheitssysteme instabil und unsicher sind oder nur ein geringerer Teil der Wertschöpfung staatliche und betriebliche Haushalte passiert, besteht existenzsichernde Grundsicherung darin, Zugang zu Land zu haben, und wird unter Umständen eher kollektive als individualisierte Formen annehmen (also Zuteilung von Land an Familien und Gruppen).(46)

Was bedeutet eine solche Herangehensweise für die Kapitalmarktseite? Eine Kooperation als ganze kann man nicht kaufen. Man kann ihr Geld leihen, und man kann dafür eine Beteiligung am etwaigen Gewinn erwarten. Man erwirbt damit jedoch keine Bestimmungsrechte über die Kooperation; egal, ob das Geld vom Staat oder von Privaten kommt. Das ist der springende Punkt. Nur dadurch wird vermieden, dass Arbeit verfügbar ist, dass sie keine aktive Kooperation, sondern Sklavenarbeit ist. Man kann Geld auch im Ausland investieren. Eine Politik des Abbaus von Verfügbarkeit schließt nicht aus, dass z.B. Entwicklungsländer globales Kapital ins Land lassen. Sie orientiert nur darauf, dass auch in diesem Fall die Struktur als freie Kooperation interpretiert und behandelt wird (also genau das Gegenteil von dem, was die Bestrebungen des MAI waren).(47) Als reine Kapitalinvestition beinhaltet sie Anteile am Gewinn, aber keine Bestimmungsgewalt. Als Auslandsniederlassung ist sie eine Kooperation, deren inländische Mitarbeiter den gleichen Status haben - man kann also gehen, aber man kann die Firma nicht ohne weiteres mitnehmen, wenn man geht. Eine solche Struktur hebt das Dilemma nicht auf, Kapital anziehen zu wollen, ohne sich vollständig abhängig zu machen; aber es macht dieses Dilemma von Seiten der betreffenden Länder bearbeitbar und liegt auf der Linie einer Politik, die viele Länder des Südens hier durchzusetzen versuchen.

Obwohl solche Formen von Betrieben als Kooperation der Logik z.B. der Aktiengesellschaft diametral entgegenstehen, sind sie rechtlich ohne weiteres möglich. Man kann sie fördern. Man kann sie betreiben. Man kann die bestehenden Arbeitsstrukturen in einer Weise reformieren, die sich den Abbau von Verfügbarkeit zum Kriterium macht. Dies gilt für alle Akteure: Arbeitende, Gewerkschaften, soziale Bewegungen, Staat, Konsumenten, Kommunen. Es gilt auch für die "neuen Unternehmer", die sich viel auf ihre soft skills und ihren partnerschaftlichen Stil einbilden und hier nachlesen können, was es heißt, damit wirklich ernst zu machen.

Eine solche Politik, die beim Abbau von Verfügbarkeit an den jeweils vorhandenen Strukturen ansetzt und sie im Sinne freier Kooperation transformiert, bedeutet nicht, dass die bestehenden Eigentums- und Verfügungsverhältnisse als sakrosankt betrachtet werden müssten. Das tut selbst der existierende Realkapitalismus nicht, der kleines Eigentum systematisch enteignet (durch Steuern, Inflation, Wegfall von Ansprüchen), während er großes Eigentum systematisch beschenkt (durch Steuerausnahmen, Subventionen, "Staatsverschuldung", Übernahme von Kosten usw.). Eine Politik, die Eigentum und Verfügung umverteilt oder in andere Eigentumsformen überführt, bis hin zur formalen Enteignung, Aufteilung, Verstaatlichung usw., ist aufgrund des kollektiven und historischen Charakters von Arbeit grundsätzlich legitim. Nur löst sie damit noch nicht das Problem von Freiheit und Gleichheit. Die Politik der Abwicklung verändert den Charakter von Kapital und Eigentum. Sie zielt wie beschrieben darauf ab, den Charakter als Herrschaftsinstrument abzubauen, egal wo dieses Eigentum allokalisiert ist.

Auch für die ökonomische Kreativität der real life economics oder einer Wirtschaft von unten findet sich hier das zentrale Kriterium, ob eine andere Logik von Arbeit als Kooperation entsteht, oder lediglich selbstorganisierte Verfügbarkeit. Dieses Kriterium lautet: die Verfügbarkeit in der Arbeit abzubauen; allen Strukturen gegenzusteuern, wo die einen "liefern" und die anderen bestimmen; ökonomische Einheiten jeder Art grundsätzlich als Kooperationen aufzufassen und nach dem Leitbild freier Kooperation einzurichten. Wenn es irgendetwas gibt, was wir uns unter "wirtschaftlicher Freiheit" vorstellen können, dann ist es das.

Entprivilegisierung der formalen Arbeit

Wir erleben heute, dass sich Diskriminierung (die ausschließende Solidarität von Privilegierten gegen den "Rest", um die eigenen Privilegien zu erhalten und die "Anderen" verfügbar zu machen) entformalisiert. Wir sind da ganz modern und flexibel. An die Stelle von offener formalrechtlicher Apartheid tritt die Privilegisierung eines bestimmten Modells von "Arbeit" und "Arbeitenden", das sich als "formale Arbeit" bezeichnen lässt und in dem qualifizierte, privilegierte Lohnarbeit und unternehmerische Arbeit sich annähern. Formale Arbeit findet auf "Arbeitsplätzen" statt, d.h. sie basiert auf offiziellen, rechtlich garantierten Verträgen, ist verhältnismäßig gut bezahlt, und schließt in hohem Maße "unternehmerische" Aspekte von Arbeit mit ein, d.h. sie verfügt ihrerseits partiell über andere Arbeit und fordert/erlaubt stärker die Subjektivität des Arbeitenden in der Arbeit (Motivation, Engagement, Kreativität etc.). Es ist die Arbeit, die weder prekär, noch illegalisiert, noch monoton, noch minderbezahlt, noch biographisch zerstückelt ist und deren Subjekte sich von den "Zumutungen" des sonstigen Lebens und aller anderen Formen von Arbeit weitgehend freihalten können.

Formale Arbeit ist, das zeigt die Aufzählung, Sache einer soziologischen Minderheit. Sie ist gleichzeitig das zentrale Instrument moderner Diskriminierung, denn diese Minderheit genießt weitreichende Privilegien und dominiert massiv die symbolische Ordnung der Gesellschaft, d.h. deren Selbstwahrnahme und Selbstinterpretation. Formalarbeiter finden, dass sie alle anderen ernähren und die eigentlich produktive Arbeit leisten, von der alle anderen leben. Obwohl diese Selbstwahrnahme, mit eigener Hände Arbeit das zu schaffen, wovon alle anderen leben, total drollig ist, wenn wir sie mit der realen Tätigkeit von Lehrern, Anwälten, Zahnärzten, Steuerberatern, Politikern, Aufsichtsräten und Werbegrafikern vergleichen, ist sie gesellschaftlich ungebrochen dominant. Sie stempelt alle andere Arbeit zu Leistungsempfängern ab. Nur wer Formalarbeiter ist, genießt volle Freizügigkeit, hat realistische Aussichten auf Alterssicherung, kann seine Ausgaben von der Steuer absetzen und ist vor Razzien und investigativen Nachprüfungen weitgehend sicher (wenn er's nicht drauf anlegt). Er kann die Bezahlung und die Bedingungen seiner Arbeit einklagen und seine Arbeitsstätte einigermaßen frei wechseln. Er hat Urlaub, eine feste Begrenzung seines Arbeitstages und gut funktionierende pressure groups. Er muss nicht "um Erlaubnis bitten, wenn er mal pinkeln will".(48)

Die Privilegien der formalen Arbeit sichern die Verfügung über alle andere Arbeit und alle anderen Arbeitenden, die wahlweise als "informelle Arbeit", "Reproduktionsarbeit", "soziales Kapital", "einfache Arbeit", "unqualifizierte Beschäftigung" bezeichnet oder überhaupt nicht gesehen wird, weil sie z.B. als illegalisierte Arbeit oder als Billigarbeit in anderen Ländern an den Rand der gesellschaftlichen Wahrnahme gedrängt ist.

Eine Politik der freien Kooperation muss formale Arbeit entprivilegisieren. Im Rahmen der heutigen Nationalgesellschaft sind wiederum Formen einer unabhängigen Grundsicherung ein zentrales Instrument, das dieses Kriterium erfüllen kann. Der Aspekt der notwendigen Entprivilegisierung formaler Arbeit geht jedoch weit darüber hinaus, bis in die ideologischen Apparate, und kann für verschiedene Kooperationen Unterschiedliches heißen. Verallgemeinert lässt sich sagen, dass in jeder Kooperation die formale Arbeit die ist, die als die "eigentliche" angesehen wird, bestimmte formale Kriterien erfüllt und bestimmte Privilegien genießt, während sie andere Arbeiten unsichtbar macht und unterordnet. Z.B. ist in einem Krankenhaus die formale Arbeit heute die Arbeit, die Ärzte tun. Es ist das, worum es zu gehen scheint und das, worum sich alles dreht (ganz wörtlich, die Stundenpläne des anderen Personals zum Beispiel); während sie in Wirklichkeit nur einen kleinen Teil dessen ausmacht, was in einem Krankenhaus an Arbeit stattfindet.

Aneignung von Räumen und Zusammenhängen

In der erzwungenen Kooperation werden Räume und Zusammenhänge den Individuen und Gruppen zugeteilt nach Maßgabe dessen, ob man den verordneten Kooperationszielen dient. Wer mitmacht, darf sich breitmachen; dadurch reproduzieren sich die Ziele scheinbar wie von selbst. Im demokratischen Kapitalismus erfolgt die Zuteilung nach dem Maßstab der "positiven Teilnahme am Verwertungsprozess".

Man muss sich darunter zunächst ganz konkrete Räume vorstellen. In der Regel gibt es prunkvolle Konferenzräume, aber keine vernünftigen Jugendzentren; es gibt massenweise städtische Räume für Männer, aber wenige für Frauen; die gesamte Verfügbarkeit und Zugänglichkeit von Raum ist strukturiert und gestaffelt nach sämtlichen Macht- und Unterdrückungsverhältnissen, nach Klasse, Geschlecht, Alter, Hautfarbe, Einkommen usw. Dass Räume umverteilt werden, autonom "von unten" angeeignet, ist ein wesentliches Kriterium einer Politik der freien Kooperation - nicht aus Gründen einer "gerechten" Verteilung, sondern um der Herstellung, Gestaltung und Kontrolle von Öffentlichkeit als Herrschaftsinstrument zu begegnen.

Mindestens so wichtig wie Räume sind Zusammenhänge. Mit dieser etwas unbeholfenen Bezeichnung sind all die Möglichkeiten gemeint, mit anderen zu kommunizieren, in Kontakt zu stehen, sich informiert und qualifiziert zu halten, im weitesten Sinne gesellschaftliche Potentiale individuell zu nutzen und Zugang dazu zu erhalten. Heute ist z.B. ein erheblicher Teil solcher Möglichkeiten über formale Arbeitsplätze kodiert, weshalb der Verlust eines formalen Arbeitsplatzes auch als gesellschaftlicher Ausschluss erlebt wird. Das liegt nicht "in der Natur der Sache", sondern an der konditionierten Zuteilung von Räumen und Zusammenhängen, und erzeugt mit den Druck, wieder in dieser Weise arbeiten zu wollen.

Wir können entsprechend Strukturen der Zuteilung von Räumen und Zusammenhängen als Machtinstrument in jeder Kooperation erkennen. Wir finden dieselben Muster in der räumlichen Struktur unserer Innenstädte, in den Arbeitskreisen und "Plattformen" einer Partei, in der globalen Struktur von Wissenschaft und Kunst, und darin welche Themen und Personen beim häuslichen Mittagessen welchen Raum einnehmen. All dies ist nicht einfach der Ausdruck von Herrschaftsverhältnissen, sondern ebensosehr ein Instrument ihrer Verteidigung, Etablierung, Ausweitung, und deshalb Ziel einer Politik der Abwicklung. In all diesen Kooperationen kann man darangehen, sich Räume anzueignen und Zusammenhänge anderweitig und selbständig zu organisieren; gleichzeitig wird man bestehende Monopole unter Druck setzen, aufweichen und brechen müssen.

All dies ist gängige Praxis von sozialen Bewegungen und alternativen Projekten. In der Praxis verschwimmt jedoch häufig das entscheidende Kriterium: Räume und Zusammenhänge für eigene Zwecke und nach eigenen Regeln zu rekrutieren, und nicht als ein outsourcing, das die herrschenden Monopolstrukturen und ihre Vorgaben letztlich flexibel bestärkt.

Direkte Überlebenssicherung

Existentielle Abhängigkeiten zurückzudrängen, ist ein weiteres Kriterium einer Politik der Abwicklung von Herrschaftsinstrumenten - oder positiv formuliert: Formen direkter Überlebenssicherung zu etablieren, die diesen existentiellen Abhängigkeiten begegnen. Auch dieses Element umfasst "materielle" wie "immaterielle" Aspekte und findet sich in allen Bereichen gesellschaftlicher Kooperation.

Ein Beispiel für eine solche Politik ist die von Richard Douthwaite beschriebene Politik der short circuits. Die Einbindung in globale Strukturen ökonomischen Austauschs und ökonomischer Arbeitsteilung ist demnach nur vertretbar, wenn es für jeden Aspekt zumindest eine lokale oder regionale Alternativstruktur gibt, eine zweite Struktur, als Sicherheitssystem und als Garant einer gewissen Unabhängigkeit. Gedacht ist an Ernährungssicherheit, lokal verfügbares technisches Wissen, regionale Austauschsysteme, die auch unabhängig vom nationalen oder globalen Handels- und Finanzsystem noch funktionieren.(49) Aber auch Formen von community building und consciousness raising und die Förderung direkter, komplexer Strukturen in "sozialer Nähe" erfüllen dieses Kriterium. Die existentielle Abhängigkeit von fremder Interpretation und Wertschätzung, von Vernetzung und Integration durch Andere wird dadurch gebrochen, die eigene Erpressbarkeit verringert. Direkte Überlebenssicherung steht in scharfem Gegensatz zu allen Projekten, welche diese Überlebenssicherung langfristig gefährden wollen, um sie zu einem späteren Zeitpunkt zu "verbessern". Darunter fallen die meisten, klassischen "Entwicklungsprojekte" ebenso wie das individuelle Projekt "Leben kann ich, wenn ich pensioniert bin". Aus diesem Kriterium heraus abzulehnen sind auch technologische Großprojekte, deren Effekte definitiv nicht rückholbar sind (Kernenergie); die darauf hinauslaufen, vorhandene Strukturen von Überlebenssicherung zentralisierten technologischen Abhängigkeiten zu unterwerfen (gentechnologische Landwirtschaft); oder die Verbesserung von Umweltbedingungen durch hochtechnisierte Verfahren von "Heilung" umgehen wollen (die meisten gentherapeutischen Projekte und die Projekte eines Natur- und Umweltschutzes durch zentralisierte Globalplanung). Das Kriterium der direkten Überlebenssicherung ist immer wieder: Können wir auch Nein sagen? Werden wir auch in Zukunft noch Nein sagen können? Es erfordert, sich im Zweifelsfall für unmittelbarere, direktere Verfahren zu entscheiden anstatt für komplizierte, angeblich in der Zukunft einlösbare Versprechen. Und es widerspricht auch allen Ideen, mit dem eigenen Leiden Politik machen zu wollen, die eigene Abhängigkeit gewissermaßen richtig demonstrieren zu wollen in der Hoffnung, dass jemand reagiert. Dass der Staat eigentlich zuständig wäre, ist kein Grund, das Schuldach nicht selbst zu reparieren; dass jemand anders sich eigentlich um einen kümmern sollte, ist kein Grund, nicht selbst Spaß zu haben.

2. Politik der Beziehungen - alternative Vergesellschaftung

Jedesmal haben wir aufs Neue wiederholt, dass unser Vorschlag einfach lautet, sie sollten ihr spontanes Verhalten anderen Frauen gegenüber in soziale Formen übersetzen.
Libreria delle donne di Milano, Wie weibliche Freiheit entsteht

Die Politik der Abwicklung beschäftigt sich damit, Herrschaftsinstrumente abzubauen und zu beseitigen, Machtfragen zu stellen. Sie sagt uns allerdings noch nicht allzuviel darüber, wie wir unsere Verhältnisse, unsere Kooperationen, dann regeln. Auch wenn es dafür keine fixen Modelle geben kann, gibt es doch Erfahrungen und Kriterien, welche Formen an die Stelle herrschaftsförmiger Kooperation treten können und wie einem Umschlagen in erneute Herrschaftsbeziehungen gegengesteuert werden kann.

Davon handelt die Politik der Beziehungen - oder der alternativen Vergesellschaftung. Das Verhältnis zur Abwicklung - wie auch den anderen der fünf "Politiken" - hat man sich nicht als zeitliche Abfolge vorzustellen, sondern als Gleichzeitigkeit. Die eine ist ohne die anderen nicht möglich.

Prinzip des Verhandelns

Die Situation, vor der wir am meisten Angst haben, ist die, in der wir nichts mehr zu verhandeln haben. Dabei ist uns egal, ob die unverrückbare, fremde Entscheidung, der wir unterworfen sind, auf demokratische Meinungsbildung, juristische Urteile, eherne Prinzipien oder persönliche Willkür zurückgeht. Das Entscheidende ist, dass wir gar nichts mehr daran machen können, kein kleines Bisschen, dass wir nichts mehr zwischen uns und die Gewalt schieben können, ob sie nun Todesurteil, Vergewaltigung, Folter oder völlige Einsamkeit heißt - oder, in jungen Jahren, das Anziehen der Jacke des Grauens, die so furchtbar kratzt, dass wir es absolut nicht aushalten können. Unsere Vorstellung von Schutz wie auch von Freiheit beruht wesentlich darauf, solche Situationen vermeiden zu können. Es ist uns wichtiger als fast alles andere. Verhandeln zu können, ist uns wichtiger als Glück.(50)

Wo wir dagegen verhandeln können, sind wir in unserem Element. Verhandeln ist der wilde Dschungel der Kooperation. Das Verhandeln endet erst mit dem Tod; und auch sonst hadern wir immer ein wenig mit der Naturgesetzen, weil sich mit denen nicht verhandeln lässt.

Verhandeln ist ein aufregender, tückischer, unordentlicher Prozess. Erstens können wir dabei alles mit allem in einen Topf werfen. Das Frauenplenum kann die Zustimmung zu einem politischen Aufruf davon abhängig machen, dass auch die Männer der Gruppe das Klo putzen. Die Frauen der Chiapas-Gemeinden konnten ihre Teilnahme am Aufstand von der Bereitschaft der Männer zu revolutionären Veränderungen innerhalb der Community abhängig machen. Zweitens gibt es keine Regeln für die Verhandlung. Ob über eine Frage mit Mehrheit abgestimmt werden kann oder nicht, ist selbst Gegenstand der Verhandlung; genauso, ob sie durch Berufung auf frühere Entscheidungen entschieden wird oder nicht, ob sie innerhalb einer bestimmten Frist entschieden werden muss oder nicht usw. Drittens setzt Verhandeln (im Unterschied zu demokratischen Entscheidungsprozessen oder "vernünftigen Dialogen") nicht voraus, dass die Beteiligten einander in hohem Maße ähnlich sind oder bewusst bestimmte Grundauffassungen und Werte teilen. Verhandeln findet auch zwischen Akteuren statt, die denkbar verschieden voneinander sind. Es hängt nicht von bestimmten sprachlichen Formen ab; verhandelt wird auch durch die Praxis.(51) Wer verhandelt, muss keinen theoretischen Grundlagenkurs machen. Er braucht nicht mehr - und nicht weniger - als die Fähigkeit und Bereitschaft zu einem (wie auch immer artikulierten) "Dann eben nicht".

In ihrer Haltung zum Verhandeln ist freie Kooperation vorwiegend Anti-Politik. Sie widerspricht allen Versuchen, das Verhandeln einzuschränken und ordnungspolitisch zu regeln: "das gehört nicht hierher", "darüber reden wir später", "das hatten wir schon geklärt", "du verstehst gar nichts von der Sache", "mit denen verhandeln wir nicht". All dies sind, aus Sicht der freien Kooperation, illegitime und abzulehnende Versuche, einseitig Definitionsmacht über den Prozess des Verhandelns zu gewinnen. Und keine harmlosen. "Politischer Streik", "wilder Streik", "Nötigung", "Illoyalität in der Organisation", "Maschinenstürmerei": dies sind ordnungspolitische Begriffe, mit denen massive Interventionen gegen die Freiheit der Verhandelnden gefahren werden.

Die moderne Definition des "Politischen" oder der "Ökonomie" sind, wie gezeigt worden ist, Macht- und Diskurspolitiken, mit denen gezielt die Sphären getrennt werden sollen, über die verhandelt wird, und mit wem sie verhandelt werden. Es ist der Kern der Trennung von "Politischem" und "Privatem", dass keine "gemischten" Verhandlungen erlaubt sind und dass weite Bereiche dadurch der kollektiven Verhandlung entzogen werden. Es ist der Kern der modernen Auffassung von Ökonomie, dass sie bestimmte Formen von Verhandeln zulässt und andere ausschließt, dass sie bestimmte Akteure als Verhandelnde zulässst und andere nicht. Dadurch wird eine bestimmte Form von Rationalität geschaffen und "ökonomische Gesetze" erzeugt, die nur darauf beruhen, das das gesamte Terrain und sein Gegenstand vorab definiert, strukturiert und durch entsprechende Herrschaftsinstrumente abgesichert ist.(52)

Freie Kooperation setzt nicht an der Regulierung des Verhandelns an, sondern bei den Akteuren. Ob eine Verhandlung frei und gleich ist, hängt nicht von den Regeln ab, sondern von den Akteuren: ob sie in der Lage - und notfalls auch bereit sind - zum "dann eben nicht", und ob dies zu einem vergleichbaren und vertretbaren Preis möglich ist. Auf dieser Basis können die Akteure auch über die Regeln der Verhandlung verhandeln. Sie können Regeln schaffen und ändern, sich daran halten oder dies nicht mehr tun. Freie Kooperation setzt nicht die Regeln, sie stärkt die gleiche Verhandlungsposition der Akteure. Die Aspekte "wissenschaftlicher Erkenntnis", "demokratischer Mehrheiten" oder "gesellschaftlicher Notwendigkeiten" werden demgegenüber in ihre Schranken verwiesen.

Die Frage der unangenehmen und unerwünschten Arbeiten in einer Kooperation regelt sich dann z.B. dadurch, dass sie entweder gleichmäßig verteilt werden, oder besonders gut bezahlt sind, oder überhaupt nicht gemacht werden. Wer letzteres nicht will, muss neu verhandeln und sein Gewicht in der freien und gleichen Kooperation in die Wagschale werfen.

Was sich aus der Bejahung des Verhandelns nicht ableiten lässt, ist ein bedingungsloses Ja zu Märkten. Aus Sicht der freien Kooperation sind Märkte ambivalent. Märkte sind ein klassischer Ort von Verhandlungen. Märkte sind aber auch ein Instrument, sich Verhandlungen zu entziehen und aus konkreten Kooperationen auszubrechen. Die Utopie der modernen Ökonomie, die "unsichtbare Hand des Marktes", zielt genau darauf ab, einen abstrakten Mechanismus zu etablieren, der konkreten Verhandlungen konkreter Akteure weitestgehend entzogen ist. (53) Der Markt als preisbildendes Abstraktum und einziges Wirtschaftsregulativ für sämtliche Produkte und Dienstleistungen widerspricht allen wesentlichen Aspekten des Verhandelns. Unter solchen Bedingungen können wir nicht mehr alles mit allem in einen Topf werfen; wir finden keine konkreten Gegenüber mehr, mit denen wir verhandeln könnten; wir können keinen Einfluss mehr auf die Regeln der Kooperation nehmen, weil wir die Kooperation als ganze nicht mehr zu einem vertretbaren Preis ablehnen können.

Andererseits können Märkte auch einen positiven Beitrag zu freier Kooperation leisten. Märkte können uns unabhängig vom einzelnen Kooperationspartner machen. Sie können es erleichtern, eine konkrete Kooperation abzulehnen, weil wir im Wortsinne zum vergleichbaren Preis auf eine andere Kooperation wechseln können - sprich, bei jemand anders kaufen oder an jemand anders verkaufen, bei einer anderen Kooperation arbeiten oder uns jemand anderen für die eigene Kooperation suchen. Auch letzteres muss nichts Schlechtes sein: Das Gewicht eines Menschen mit spezifischen Fähigkeiten und Kenntnissen, die wir selbst nicht besitzen, könnte in einer Kooperation überstark werden, wenn wir nicht die Möglichkeit hätten, uns notfalls eine andere Fachkraft zu suchen.

Das Paradox löst sich, wenn wir wiederum auch Märkte als Kooperationen betrachten. Es sind allerdings spezifische Kooperationen. Ein Markt ist eine Dachkooperation, bei der grundsätzlich drei Gruppen von Beteiligten kooperieren: Erzeuger, Verbraucher, und Marktbetreiber. Letztere stellen die Infrastruktur bereit und üben eine gewisse Regelaufsicht aus, ohne die kein Markt funktioniert. Innerhalb dieser Dachkooperation findet eine Vielzahl von Einzelkooperationen statt, nämlich Kaufvorgänge. Das Spezifische an diesen über den Markt vermittelten Einzelkooperationen ist, dass die Beteiligten weitgehend darauf verzichten, die Voraussetzungen der Kooperation selbst zu gewährleisten bzw. darüber zu verhandeln; sie erwarten dies von der Dachkooperation. Dadurch kann eine Vielzahl von (Einzel-)Kooperationen in sehr kurzer Zeit stattfinden.

Für kapitalistische Kooperation sind die Voraussetzungen der Kooperation, dass die Ware bestimmten Standards genügt und tatsächlich geliefert wird, dass bezahlt wird, und dass Kompensation geleistet wird wenn eines davon nicht erfüllt ist. Für freie Kooperation sind die Voraussetzungen andere. Es sind die bekannten: Dass die überkommenen Rechte und Regeln verändert werden können (also in diesem Fall die Regel der Kauf/Verkaufsbeziehung); dass die Beteiligten die Kooperation verlassen oder ihre Kooperationsleistung einschränken können, um Einfluss auf die Regeln zu nehmen (also nicht kaufen, nicht verkaufen oder nur beschränkte Mengen kaufen bzw. verkaufen); dass dies für alle zu einem vergleichbaren und vertretbaren Preis möglich ist. Dies muss der Markt als Dachkooperation leisten, weil die Einzelnen es nicht können (sonst wäre es kein Markt mehr).

Genau dies erkennen wir in realen Bestrebungen wieder. Etwa wenn Entwicklungsländer sich als Anbieter oder Nachfrager zusammenschließen; wenn sie langfristige Verträge, Absatzgarantien oder Ausfallgarantien verlangen; wenn sie die einheimische Produktion von Gütern subventionieren, von deren Einfuhr sie nicht vollständig abhängig werden wollen. Wenn in Erzeuger-Verbraucher-Genossenschaften Erzeuger und Verbraucher kollektiv miteinander verhandeln, um die Regeln ihres gemeinsamen Marktes so anzupassen, dass beide Seiten damit leben können. Wenn Strukturen alternativen Handels mit Produzenten in Ländern des Südens aufgebaut werden, in denen die spezifische Verhandlungsposition der Anbieter gestärkt werden soll.

Auch hier setzt eine Politik der freien Kooperation nicht die Regeln, sondern stärkt die gleiche Verhandlungsposition der Akteure. Sie strebt eine plurale Konkurrenz von Marktbetreibern an und fördert diejenigen, die Erzeugern und Verbrauchern in höherem Maße die Voraussetzungen freier Kooperation verschaffen können. Das ist das entscheidende Kriterium - und nicht, ob der betreffende Markt besonders "bio", ausschließlich lokal, oder besonders profitabel ist.

Realistische Kooperation

Eine freie Kooperation ist keine urkommunistische Gemeinschaft, in der alle alles brüderlich teilen und sich schwesterlich füreinander aufopfern. Es ist eine Kooperation, in der wir frei sind, zu gehen, einzuschränken und Einfluss auf die Regeln zu nehmen; und in der wir einander gleich sind, weil wir das in gleicher Weise und zu ähnlichem Preis tun können.

Eine politische Gruppe, ein selbstorganisiertes Projekt oder eine soziale Bewegung kann verlangen, dass alle Beteiligten ihr gesamtes Vermögen und Einkommen in einen gemeinsamen Topf werfen; ihre gesamte Zeit der gemeinsamen Kooperation zur Verfügung stellen; oder alle ihre sonstigen Beziehungen den Werten und Zielen dieser Kooperation unterwerfen. Sie wird nur auf Dauer niemand finden, der oder die das mitmacht. Sie wird Menschen anziehen, die mit solchen Prinzipien nichts zu verlieren haben (weil sie nichts besitzen; weil sie sonst nichts zu tun haben; weil sie keine anderen Beziehungen haben, die ihnen wichtig wären). Sie wird vielleicht durch hohen moralischen Druck Einzelne auf Zeit binden können, die sich zu derart totalem Altruismus verpflichtet fühlen; aber diese werden sich früher oder später entnervt wieder abwenden und auf längere Zeit für Formen alternativer Vergesellschaftung "verbrannt" sein. Auch das ist eine Form der Verhandlung: so nicht.

Auch eine Gesellschaft, die sehr weitgehend nach der Logik freier Kooperation organisiert ist, wird nicht vollständig nivelliert sein. Soziale Unterschiede werden geringer sein, aber es wird sie geben; Menschen werden unterschiedliche Fähigkeiten und unterschiedliche Leistungsfähigkeiten haben; sie werden gleichzeitig an verschiedenen Kooperationen teilhaben, in denen sie sich unterschiedlich stark engagieren; und sie werden immer noch Grund haben, einander historisch gewachsene Privilegien, Vorteile, Vorsprünge übel zu nehmen. Trotzdem werden sie kooperieren. Wenn sie sich dabei nicht von einer Moral des Aushaltens, Angleichens und Kompensierens leiten lassen, sondern von einer fundamentalistischen Moral der totalen Selbstauslieferung, werden sie scheitern. Noch viel mehr gilt das für eine Situation, wo freie Kooperation keine gesellschaftlich mächtige Logik, sondern eine konkrete Utopie ist, die im Widerspruch zur herrschenden Logik steht.

Die Faustregel realistischer Kooperation lautet: Für jeden Einzelnen muss es besser sein, dass er/sie an dieser Kooperation teilnimmt, als wenn er/sie es nicht tut; und für die Kooperation muss es besser sein, dass der/die betreffende Einzelne dabei ist, als wenn er/sie es nicht ist. Andernfalls ist die Kooperation entweder ausbeuterisch und erzwungen, oder moralisch überzogen und auf Dauer nicht haltbar. Dabei gibt es natürlich viele Möglichkeiten, in welcher Hinsicht es "besser" sein kann, für die Kooperation oder für den/die Einzelne. Aber irgendetwas muss die Kooperation jedem und jeder Einzelnen bieten können, und jeder und jede Einzelne der Kooperation, und dieses Etwas muss mehr sein als die Möglichkeit, sich moralisch gerechtfertigt zu fühlen.

Eine soziale Bewegung kann zum Beispiel nicht erwarten, dass sich Jüngere ihr anschließen aus schierer Bewunderung für historische Leistungen. Der Einzelne kann nicht erwarten, dass ein Projekt ihn erträgt, ganz gleich wie er sich aufführt. Er kann nicht einmal erwarten, dass eine konkrete Kooperation dazu verpflichtet ist, ihn auf jeden Fall aufzunehmen. Sie ist es nicht.

Es gibt nur eine Ausnahme von dieser Regel: Wenn es für den Betreffenden keine vergleichbare und vertretbare Alternative zu dieser Kooperation gibt. Dann müssen beide Seiten mit dieser Situation umgehen, dass ein "Weiterschicken" - aus Sicht der freien Kooperation - nicht möglich ist. Wir können uns aussuchen, wen wir in unser Projekt oder unseren Betrieb aufnehmen. Wir können uns nicht aussuchen, welche Flüchtlinge wir in unsere Gesellschaft lassen.

Anerkennung

Unterschiede sind das beherrschende Thema postmoderner politischer Reflexion. Unterschiede zwischen Gruppen, historisch herausgebildeten Identitäten, zwischen den Subjekten verschiedener Emanzipationsbewegungen - aber auch Unterschiede innerhalb dieser Gruppen, Grenzüberschreitungen dieser Identitäten, Unterschiede zwischen relativ Privilegierten und relativ Ausgeschlossenen innerhalb der jeweiligen Emanzipationsbewegung, zwischen "Normnahen" und "Normfernen". Jeder Befreiungsprozess löst früher oder später eine zweite und dritte Befreiung aus, in der das sicher geglaubte Subjekt dieser Befreiung zerfällt, sich pluralisiert. (54)

Eine Politik der Anerkennung ist etwas anderes als die liberale Idee der Toleranz - wonach jeder nach seiner Facon selig werden mag, solange er bestimmte Grenzen einhält, bezüglich derer es wiederum keine Toleranz gibt. Anerkennung braucht den Konflikt und die Auseinandersetzung. Wir können Anderssein akzeptieren und als eine produktive Praxis begreifen, wenn wir dieses Anderssein kennengelernt und zumindest Umrisse davon begriffen haben.

Das ist keine selbstlose Haltung; wir tun es, weil wir kooperieren wollen. Und wir tun es, weil wir uns selbst damit verändern können. Das Problematische am Anderssein ist meist nicht, dass uns etwas fremd und unbekannt ist, sondern dass es unterschwellige Bezüge aufweist zu Teilen und Aspekten von uns selbst, die wir verdrängen, unterdrücken, kontrollieren, ablehnen. Vieles davon ist Projektion, einiges davon ist real. Und durch dieses wirre Gelände von Anderssein und versteckter Ähnlichkeit, Projektion und realem Unterschied, Abgestoßensein und Angezogensein müssen wir durch, wenn wir als Subjekte kooperieren wollen.(55) Billiger geht es nicht, wenn unsere Kooperation nicht brüchig und oberflächlich sein soll.

Anerkennung beginnt damit, etwas/jemand als anders zuzulassen und nicht nur als Abweichung. Die Libreria-Gruppe spricht von der Notwendigkeit zwischen "sozial älteren" und "sozial jüngeren" Frauen in der Gruppe und in der Bewegung. Die einen haben ein Übermaß an Erfahrung, die anderen ein Übermaß an intakten Ansprüchen; erst wenn beiden Seiten das klar ist, können sie das Anderssein in ihrer Kooperation produktiv machen. Zur Anerkennung sind wir nur fähig, wenn wir uns selbst nicht als homogen und "schlüssig" wahrnehmen, sondern als konflikthafte, mitunter schwierige Integration unterschiedlichster Aspekte, Komponenten und Möglichkeiten.

Ermöglichung

Jede Kooperation verfügt über ein bestimmtes Kapital. Das mag Geld und Besitz sein; oder eine bestimmte Menge an Arbeitsstunden, die die Einzelnen der Kooperation zur Verfügung stellen; bestimmte Erfahrungen, Kontakte, Wissen; oder bestimmte Zugriffsmöglichkeiten auf das materielle und immaterielle Vermögen der Einzelnen. Die Kooperation setzt ihr Kapital ein, um bestimmte Ziele zu erreichen. Wenn eine Kooperation jedoch über den Einsatz des kollektiven Kapitals immer nur gemeinsam entscheiden will, wenn sie jeden einzelnen Einsatz erschöpfend gemeinsam aushandelt, dann führt dies unweigerlich zu Erstarrung und Konservatismus.

Politik der Ermöglichung

Daher muss jede Kooperation - ob Gruppe oder Gesellschaft, Beziehung oder Betrieb - auch Strukturen der Ermöglichung erfinden und praktizieren. Ermöglichung heißt, dass die Kooperation kollektives Kapital auch für Projekte verwendet, von denen nicht alle überzeugt sind oder über deren Einzelheiten nicht alle ausführlich beraten; ja auch für Projekte, die der Mehrheit der Beteiligten zum aktuellen Zeitpunkt nicht einmal verständlich sind. Funktionierende Formen von Ermöglichung leisten das, was bei Brecht "Freundlichkeit" heißt: Wir bekommen etwas, worauf wir keinen hundertprozentigen Anspruch haben, was unsere Kooperation aber in der Lage und bereit ist, uns zu geben.

Eine Kunstausstellung trug vor einiger Zeit den schönen Titel "Dinge, die wir nicht verstehen". Genau darum geht es. Wir erwarten von einer Kooperation, dass wir - nicht immer und nicht unbeschränkt, aber eben doch als grundsätzliche Möglichkeit - ihre Unterstützung auch erhalten können für Dinge, die sie nicht versteht. Ohne das können wir keine Beziehung führen, ohne das kann keine Gruppe, kein Betrieb, keine Gesellschaft kreativ und offen sein. Ohne das gibt es nichts Neues, wird eine Kooperation nicht in der Lage sein, sich zu verändern.

gibt viele Formen, wie Ermöglichung praktiziert werden kann. Marktfrauen in Indonesien zahlen die Pfennigbeträge bei ihren Einnahmen in eine gemeinsame Kasse, die sie am Ende des Markttages unter sich verlosen. Jede für sich könnte mit dem von ihr eingezahlten geringen Betrag nicht viel anfangen; als kollektives Kapital, das alle wiederum einer Einzelnen zur Verfügung stellen, lässt sich damit jedoch etwas machen. Wer ausgelost wurde, scheidet für die nächsten Runden aus, bis alle einmal dran waren. Persönlich wie gesellschaftlich kennen auch wir eine Vielzahl von Formen der Ermöglichung. Letztlich müssen sich alle daran messen, ob sie besser sind als Losen.

Ermöglichung kompensiert ein Stückweit das, was wir verlieren, wenn wir auf herrschaftsförmige Beziehungen verzichten. In der Form der Ermöglichung machen wir uns und unsere Kooperationsleistung anderen tatsächlich verfügbar - nicht weil wir müssen, sondern weil wir es können. Nicht als erzwungene Kooperation, sondern als freie Gegenseitigkeit. Mitunter ist dies ein schmaler Grat. Das Kippen von Ermöglichung in Ungleichheit ist eines der Risiken, die wir für freie Kooperation auf uns nehmen.

Disloyalität zum Bestehenden

Freie Kooperation kennt Loyalität zu Menschen, aber keine zu Strukturen - und auch nicht zu Kooperationen. Eine Kooperation nach dem Grundsatz der Disloyalität zu behandeln, heißt, ihr Scheitern nicht auszuschließen und ihrem Weiterbestand keinen Wert an sich beizumessen. Wir fragen also nicht nur: Wie könnten die Dinge in dieser Kooperation anders geregelt sein? sondern auch: Wie wäre es, wenn diese Kooperation beendet würde? Ist es für mich wirklich besser, dass sie existiert, als wenn es sie nicht mehr gäbe?

Nur aus einer solchen Perspektive gewinnen wir einen freien Blick und die Möglichkeit auch zu radikaleren Änderungen einer Kooperation. Gute Kooperationen werden von den Beteiligten ständig auf diesen Prüfstand gestellt, sie werden sozusagen innerlich ständig testweise geschlossen, um festzustellen, ob ihre Eigendynamik und ihre Sachzwänge tatsächlich notwendig und es tatsächlich wert sind. Wir gewinnen daraus auch eine Kritik der Eigentums- und Verfügungsverhältnisse in der Kooperation. Wenn wir uns scheiden lassen und das Vermögen aufteilen, ist das wirklich schlechter für uns? Wenn wir in einem entwickelten Industriestaat die Produktionsstruktur abwickeln und verkaufen, reicht dies aus, um jedem Einwohner ein einigermaßen erträgliches Einkommen für den Rest seiner Tage zu sichern; gewährleistet die Produktionsstruktur das so auch? Für alle? Wenn wir in einem agrarisch dominierten Land die Fläche in Subsistenzeinheiten aufteilen, erlaubt dies in den meisten Fällen das Überleben aller Einwohner ohne Elend; leistet die aktuelle Verwendung des Bodens das auch?

Disloyalität zum Bestehenden heißt auch, dass wir eine Kooperation nicht gegen den Willen der Beteiligten aufrechterhalten können. Auch wenn wir Strukturen erreicht haben, die ein relevantes Maß an freier Kooperation verwirklichen, können wir nicht gewährleisten, dass diese Strukturen nicht auch wieder aufgegeben werden. Wir können das nicht verhindern. Es geht nicht alles verloren dabei. Wir selbst haben uns verändert dadurch; und das Soziale hat ein Gedächtnis für Experimente.

3. Entfaltung sozialer Fähigkeiten - subjektive Aneignung

"Wie viele Männer leben hier?" fragte Tino.
"Fünf", antwortete Lilith.
"Nur fünf Männer." Tino schüttelte den Kopf. "Kein Wunder, dass ihr nichts gebaut habt."
"Wir bauen uns selbst", erwiderte Wray. "Wir bauen hier eine neue Lebensweise. Du weißt nichts über uns. Warum stellst du keine Fragen, anstatt blöd daherzureden?"

Octavia Butler, Rituale

Unsere herrschende Geschichtsschreibung ist eine Geschichte technischer, nicht sozialer Fähigkeiten. Wir bauen Reihenhäuser, Nuklearfabriken und Marssonden, aber was unsere sozialen Fähigkeiten anlangt, schlafen wir praktisch auf der nackten Erde. Das liegt nicht an einem angeblichen "Hinterherhinken" unserer sozialen Fähigkeiten hinter den technischen, so dass das Soziale den technischen Errungenschaften immer erst nachträglich "angepasst" werden müsste, sondern es liegt an der systematischen Unterdrückung von sozialen Fähigkeiten bzw. der Möglichkeiten, sie zu erwerben und autonom weiterzugeben. Herrschaft erfordert Dressur, das ständige Wiederverlernen "dysfunktionaler" sozialer Fähigkeiten.

Das Folgende ist keine Liste von Fertigkeiten, die man unterrichten oder zu denen man gezielt "erziehen" könnte. Es ist der Hinweis auf bestimmte typische Probleme, die aus realen Experimenten mit freier Kooperation bekannt sind, und der Hinweis auf individuelle Voraussetzungen, die für die Bearbeitung dieser Probleme wichtig sind. In diesem Sinne geht es um "subjektive Aneignung": nicht der herrlichen technischen Möglichkeiten oder der historischen Stufe der Produktivkräfte, sondern von Erfahrungen, die gemacht werden, wo immer Ansätze von freier Kooperation praktisch erprobt werden.

Selbstreflexion

Freie Kooperation erfordert ein gewisses Maß an Selbstreflexion, der Aufklärung über uns selbst und insbesondere das, wofür wir "selber nichts können": historisch entstande und überkommene Unterschiede, Privilegien, Empfindlichkeiten, spezifische Fähigkeiten und spezifische Blindheiten, Ängste und Sehnsüchte. Sonst kommen wir miteinander nicht klar. Dafür müssen wir alle Ideen von einem abstrakten "Idealmenschen" verabschieden, demgegenüber alle konkreten Unterschiede bloß "Verunreinigungen" sind, die es gilt zum Verschwinden zu bringen. Das größte Problem ist nicht, wie wir sind, sondern dass wir uns nicht klar machen, dass auch wir selbst "irgendwie" sind - nicht die Norm, nicht normal, nur ein Entwurf unter vielen.(56)

Selbstreflexion ist die Bedingung von Anerkennung. Aber Selbstreflexion entsteht andererseits hauptsächlich aus konkreten Konflikten um Anerkennung. Ihr Maßstab ist nicht, selber "besser" zu werden, sondern anderen (und sich selbst) weniger im Weg herumzustehen. Das macht alle Versuche fatal, Männern "weibliche Fähigkeiten" beizubringen ("soft skills"), damit das Patriarchat noch bessere Fortschritte macht. Deshalb sind New Age und afrikanisches Trommeln nicht der vorrangige Weg, wie wir unsere historischen Deformationen bearbeiten können. Es gibt keine Alternative zur Auseinandersetzung mit Menschen - auch kollektiv und abstrakt, aber zuerst und immer wieder individuell und konkret.

Eine Politik der Entfaltung sozialer Fähigkeiten besteht in diesem Punkt vor allem darin, dass wir voneinander Selbstreflexion einfordern. Sie besteht ferner darin, dass wir Räume schützen, fördern und schaffen, in denen Konflikte um Anerkennung, auf einer möglichst freien und gleichen Basis, geführt werden können. Erst in dritter Linie besteht sie in der individuellen Arbeit der Auseinandersetzung damit - in dem, was Spivak "unlearning our priviledges as our loss" nennt.(57)

kollektive leadership

Jede Kooperation braucht ein bestimmtes Maß an leadership.(58) Wenn wir unsere Unterschiedlichkeiten, Interessen, Vorstellungen auf den Tisch gelegt haben, muss es auch irgendwie weitergehen. Gerade eine Politik des Verhandelns, die sich nicht an objektivierbaren Kriterien oder an Effizienzidealen orientieren will, braucht kreative Lösungen, wie die unterschiedlichen Auffassungen und Absichten zusammengebracht werden können. Irgendjemand muss auch was vorschlagen. Und es reicht nicht, irgendetwas vorzuschlagen, sondern etwas das geeignet sein kann, für diese Kooperation in der aktuellen Situation zu "passen"; etwas worauf man sich möglicherweise einigen kann. Leadership bedeutet, Vorgriffe zu formulieren, wie eine kollektive Orientierung aussehen könnte. Es macht keinen Sinn so zu tun, wie wenn das nicht nötig wäre. Das ist auch nicht das Problem. Dominanzstrukturen entstehen, wenn es immer dieselben sind, die diese Vorgriffe formulieren. Idealerweise ist leadership daher in einer Kooperation kollektiv verteilt: jeder und jede macht es mal.

Wenn eine Kooperation sich darauf beschränkt, die dominante leadership einzelner Akteure abzuschaffen, ohne gleichzeitig mehr kollektive leadership zu entwickeln, wird sie scheitern. Entweder wird einfach nichts mehr passieren, weil die Positionen der einzelnen Akteure nicht mehr zusammengeführt werden können, oder die Kooperation zerfällt. Das muss nicht das Schlechteste sein; das Prinzip der Disloyalität empfiehlt, auch diese Möglichkeit leidenschaftslos zu prüfen. Wenn die Beteiligten die Kooperation aber aufrecht erhalten wollen, müssen sie leadership entwickeln. Dieses Problem zu leugnen, heißt nur, dass sich leadership "hintenrum" entwickelt, unter der Hand und tendenziell unbemerkt, was die Sache nicht besser macht.

Dies kann jedoch keine Rechtfertigung für Dominanzstrukturen sein. Eine Politik, die kollektive leadership entwickeln will, muss dominante leadership sehr wohl bremsen, um Räume zu öffnen, in denen kollektive leadership Fuß fassen kann. Sie muss akzeptieren, dass das Einbrüche an "Effizienz" mit sich bringt. Sie muss bereit sein zu experimentieren, sich Zeit lassen und sich das auch etwas kosten lassen. Sie muss untersuchen, welche Umstände der Kooperation die leadership Anderer behindern. Und sie muss sich klarmachen, dass eine Veränderung der Strukturen und der Verteilung von leadership auch zu einer Veränderung der Orientierung und der Kriterien der Kooperation führt. Wenn die Kooperation sich durch kollektive leadership nicht in ihren Regeln und Zielen verändert, dann ist diese kollektive leadership sehr wahrscheinlich nur scheinbar.

Selbstbewusstsein

Selbstbewusstsein ist die Übersetzung von "consciousness". Consciousness-Politik wird von allen Emanzipationsbewegungen betrieben; die eingehendsten Ausführungen dazu finden sich innerhalb der schwarzen Befreiungsbewegung, die auch den Begriff geprägt hat. Erzwungene Kooperation traumatisiert. Die Wahrnahme, gesellschaftlich schwächer zu sein, führt zur Interpretation, weniger wert zu sein. Herrschaft implementiert in den Unterdrückten Elemente von Selbsthass, Selbstzweifel, Selbstablehnung. Wer sich in der erzwungenen Kooperation bewegt, muss in seinem Handeln die eigene Minderwertigkeit akzeptieren. Die Solidarität der Privilegierten mit sich erstreckt sich auch auf die Verteidigung von Normen, denen gegenüber die Nicht-Privilegierten alltäglich ihr "Versagen" bewiesen bekommen. Materielle Unsicherheit, latente und offene Gefährdung, die Erfahrung nicht verteidigt zu werden, all dies mündet in Entsolidarisierung, Ohnmacht, dem Gefühl ein halber Mensch zu sein. Consciousness-Politik ist eine Korrektur der Werte und der Aufbau von Erfahrungen und Strukturen, die der inneren Aushöhlung durch die Macht entgegenwirken; sie ist kulturelle und politische Agitation, Propagieren von Selbstbewusstsein, Organisation community-orientierter Strukturen.

Für eine Politik der Entfaltung sozialer Fähigkeiten bedeutsam ist, dass es neben und zwischen der (nicht zu ersetzenden) Consciousness-Politik konkreter Emanzipationsbewegungen einen völlig ungedeckten, realen Bedarf gibt für eine vermittelnde und verallgemeinernde Form von Consciousness-Politik. Vereinfacht gesagt: Die Abschaffung formaler Ungleichheiten und die gleichzeitige Arroganz der Macht führt dazu, dass sich Elemente der geschilderten Traumatisierung bei allen finden. Selbst die Privilegierten wissen, dass sie nur solange etwas wert sind, wie sie "leisten". Allen wird vermittelt, dass es auf sie als Personen überhaupt nicht ankommt; dass die Gesellschaft ihnen nichts schuldet; dass sie sich am besten dreimal täglich dafür entschuldigen sollen, dass sie einfach so herumatmen, obwohl sie immer noch keinen Oscar gewonnen haben. Auf einer bestimmten Ebene erzeugt die Gewinner-Gesellschaft bei allen das Gefühl, Besiegte zu sein, weil es immer noch jemand gibt, der besser, größer, reicher ist. "This sense of defeat is basically what we are fighting against ... people must develop a hope, people must develop some form of security to be together to look at their problems, and people must in this way build up their humanity. This is the point about conscientisation and Black Consciousness."(59)

Macht und Reichtum der erzwungenen Kooperationen legen es nahe, unsere Versuche mit freier Kooperation als unsinnig, ohnmächtig, und immer wieder als einfach schlecht zu bewerten. Wir sind geneigt, sie als vorläufig, unvollständig, und deshalb mit weniger Sorgfalt zu behandeln - wie wenn die herrschende Logik der erzwungenen Kooperation ewig, perfekt wäre und in irgendeiner Weise unsere Sorgfalt verdiente. Freie Kooperation erfordert daher, dass die Beteiligten sich gegenseitig darin unterstützen, ein angemessenes Selbstbewusstsein zu entwickeln. Es wird sonst niemand tun. Wir leben und kooperieren tatsächlich in Säugetier-Nestern, von denen aus wir die gewaltigen, hochgerüsteten Paläste der Dinosaurier beäugen. Wir bauen uns selbst. Wir empfinden oft als defizitär, was in Wirklichkeit die Schönheit des Neuen ist. Wir müssen uns immer wieder klarmachen, dass die Riesen auf der anderen Seite trotz ihrer enormen Körpermaße und hochspezifischen Fähigkeiten im Grunde nicht bis drei zählen können. Wir könnten tatsächlich in keiner offenen Feldschlacht bestehen. Aber das ist auch nicht die Art, wie wir gewinnen werden.

Gestaltung (agency)

Erzwungene Kooperation erzeugt typische Phantasien von Ohnmacht und Größenwahn: Wenn wir unglaublich mächtig wären, könnten wir alles ändern; da wir es aber nicht sind, lassen wir es lieber bleiben. Wir gewöhnen uns daran, Probleme zu verdrängen, die wir eigentlich sehen, und unsere Umwelt nicht zu gestalten, obwohl wir es könnten. Wir erwarten, dass uns jemand sagt, was zu tun ist, und dass wir uns bei jemand beschweren können, wenn es nicht klappt. Wir erwarten sogar, dass uns jemand in eine Ecke führt, uns einen Pinsel in die Hand gibt und sagt: "Hier, gestalten!" und nennen das dann Zivilgesellschaft und Partizipation.

Freie Kooperation ist dagegen auf die Fähigkeit der Einzelnen zur aktiven Gestaltung angewiesen. In einer Kooperation von Freien und Gleichen gibt es niemand mehr hinter uns. Aktive Gestaltung sucht sich selbst ihr Feld und ihr Objekt, sie definiert selbst ihre Ziele. Sie ist Selbstbeauftragung.(60)

Von einem politischen Standpunkt aus sind wir ständig versucht, hier zu hierarchisieren. Für die Politik der freien Kooperation ist aktive Gestaltung jedoch selbst ein Kriterium. Sie schickt die verschiedenen Aktivitäten nicht durch ein allgemein gültiges Raster von "wichtig" und "unwichtig". Sie fördert auch Kaninchenzüchtervereine. Die Einzelnen können sich darüber streiten, was sie für wichtig und nicht wichtig halten, und müssen dies ständig aufs Neue zu einem Ausgleich bringen. Aber für eine politische Bewegung hat die gesellschaftliche Aktivität der verschiedensten Akteure kein Rekrutierungsfeld von unbezahlter "Governance"-Arbeit zu sein; ein verfügbares Angebot, aus dem man auswählt, was einem in den Kram passt.

Unabhängigkeit

Kooperation hat eine Schwerkraft. Weil wir so überaus stark auf Kooperation angelegt sind, besitzt jede Kooperation ein hohes Maß an Bindekraft. Auch erzwungene Kooperation besitzt diese Bindekraft; aber genauso freie Kooperation.

Olivia Butler hat in der "Xenogenesis"-Trilogie beeindruckende Bilder dafür gefunden.(61) Wir bilden uns im Verhältnis zu Menschen, mit denen wir kooperieren, in Annäherung und Abgrenzung; ohne Kooperation zerfallen wir förmlich, verlieren jede Gestalt. Kooperationen zu verlassen, ist körperlich schwer. Gleichzeitig ist keine Kooperation, in der wir uns befinden, umfassend frei gewählt. Wir wählen aus einem notwendig begrenzten Angebot aus, und in viele geraten wir einfach. Deshalb hadern wir auf einer bestimmten Ebene mit jeder Kooperation, weil wir um ihre Kraft wissen, der gegenüber wir unsere Unabhängigkeit immer wieder neu beweisen müssen. Auch wenn wir das Band nicht zerreißen, müssen wir es immer wieder spannen bis kurz davor. Wir verlieren sonst das Unterpfand unserer Freiheit und Gleichheit: gehen zu können. Wir verlieren den Einfluss auf die Regeln.

Freie Kooperation muss daher die individuelle und kollektive Unabhängigkeit gegenüber Kooperationen akzeptieren und fördern. Im Grunde brauchen wir all das, was stört: Rückzüge, Denkpausen, Überprüfungen, Konflikte um der Konflikte willen, Auseinandersetzungen die nur dem Test dienen wie weit wir sie aushalten; wie weit wir innerlich von den Kooperationen weggehen können, in denen wir leben und die wir kennen. An keinem anderen Punkt wird so deutlich, dass ein reines Effizienz- und Vernünftigkeitsdenken die Voraussetzungen unserer Freiheit und Gleichheit untergräbt. Wir müssen das schon aushalten. Und eine Politik der freien Kooperation bedarf der immer wieder erneuerten Erfahrung, dass die Regeln, so gut sie auch sein mögen, nicht heilig sind. "Some of them can be bent. Others can be broken."(62) In letzter Instanz heißt Politik nichts anderes, als die Regeln zu übertreten.

4. Praktische Demokratiekritik - emanzipative Demokratisierung

Es gilt, sich nicht weiter vom Mythos Demokratie blenden zu lassen, sondern Demokratie als Regelwerk zu begreifen, das die Disziplinierung von Interessenskonflikten in der patriarchal-kapitalistischen Gesellschaft betreibt.
Claudia Bernhard, Kritik der historischen Demokratie

Seit dem Ende des Kalten Krieges erleben wir eine Welt im Wahl-Wahn. Die Probleme der Welt sollen sich angeblich dadurch lösen lassen, dass überall repräsentative Strukturen politischer Vertretung etabliert werden, die den Modellen Westeuropas oder der USA entsprechen. Die Vorstellung von Demokratie und Demokratisierung reduziert sich weitgehend darauf.

Nun sind Wahlen an sich nicht unbedingt schlecht, eher so wie Hustensaft: Gegen Husten hilft er, gegen Fußpilz nicht; und dass er den Hustenreiz unterdrückt, kann manchmal nützlich und manchmal schädlich sein. Im Kontext neokolonialer Politik ist allzu deutlich, dass Wahlen gern eingefordert werden, um sich unangenehme Verhandlungen vom Hals zu schaffen: Bauen wir eben eine neue Partei auf. Wahlen haben auch sonst den Nachteil, dass sie nur eine äußerst rudimentäre Form des Verhandelns sind. Einerseits erlauben sie eine Entscheidung nur in Paketen, nach dem Muster des "Geht doch rüber!", andererseits setzen sie meist das Bestehen starrer Regelwerke gerade voraus. Auf die sechs Siebtel des Eisbergs, die unter der Oberfläche liegen, haben wir keinen Einfluss. Auch die offensive Wendung des Demokratisierungs-Gedankens, wie wir sie aus den 70er Jahren kennen, ist mit Vorsicht zu genießen. Die Gesellschaft nach innen in immer weiteren Bereichen dem Prinzip von Wahlen, Repräsentation und demokratischer Entscheidungsfindung zu unterwerfen, kann sehr wohl bedeuten, dass die gesellschaftliche Eingriffstiefe von Herrschaft zunimmt, unsere Möglichkeiten uns zu entziehen und zu verhandeln aber sinkt. Mehrheitsentscheidungen gerantieren an sich keine Freiheit und Gleichheit.

Strukturen gewählter Repräsentation können auf keinen Fall als Grund anerkannt werden, dass wir unsere Möglichkeiten freier Kooperation aufgeben sollten - bis hin zur Separation. Wahlen sagen auch nichts über die Legitimität politischer Gewalt. Gewalt ist legitim, um sich gegen erzwungene Kooperation zur Wehr zu setzen, d.h. wenn man uns weder verhandeln noch fair gehen lässt; sie lässt sich nicht rechtfertigen mit der Durchsetzung von "Gerechtigkeit" für alle, sondern nur mit der Wiedergewinnung von eigener Kontrolle über den "eigenen Anteil" an der Kooperation oder mit der Unterstützung anderer, die ihre Ziele erklären, aber selbst nicht gegen überlegene Gewalt durchsetzen können.

Man muss die Kirche also im Dorf lassen, sich vom Vexierbild "Demokratie" lösen, so oder so. Wo die Alternative zur Wahl die Autokratie Einzelner oder überkommener Dynastien ist, die nicht mit sich verhandeln lassen, sind Wahlen vorzuziehen. Wahlen sind jedoch nicht das Idealbild freier Verhandlung und Kooperation. Diese kann man sich ebensogut in Form nicht-hierarchischer Netzwerke vorstellen, die aus Sicht der freien Kooperation allerdings auch kein Wert an sich sind. Wahlen können Macht begrenzen, sie können sie aber auch steigern; und dass sie Macht begrenzen können, kann für oder gegen freie Kooperation eingesetzt werden.(63)

Die Theorie der freien Kooperation ist auch in diesem Punkt keine spekulative Theorie, die bestimmte, fixe Modelle kollektiver Entscheidungsfindung favoritisiert oder gar utopisch "vorschreibt". Sie verhält sich zu diesen Modellen erst einmal agnostisch; das Modell sagt nichts über seine konkrete Wirkung auf Freiheit und Gleichheit. Stattdessen formuliert freie Kooperation eine Politik, die sich in verschiedensten Modellen anwenden lässt und "quer" zu ihnen liegt - eine Politik, den Herrschaftstendenzen der historischen Demokratie (und "Demokratisierung") gegenzusteuern und freien und gleichen Einfluss auf die Regeln zu fördern; welches auch immer diese Regeln sein mögen. Auch diese Politik erstreckt sich grundsätzlich auf alle Orte und Formen von Kooperation, von der Wohngemeinschaft bis zur internationalen Ebene, auch wenn dies im Folgenden nicht jedesmal mit Beispielen ausgeführt ist.

Egalitärer Korporatismus

Eine Politik der freien Kooperation stärkt Formen von Korporatismus, wenn sie egalitär sind. Für eine Politik des Verhandelns macht es Sinn, dass diese auch zwischen "funktionalen" Kollektiven stattfindet, weil niemand die spezifischen Interessen und Bedürfnisse z.B. von Produzenten und Verbrauchern, "white collars" und "blues collars", Großbetrieben und kleinen Initiativen etc. hinreichend von außen erkennen und stellvertretend vertreten kann. Dies gilt auch für Identitäts-orientierte Kollektive, also die "klassischen" und "neuen" Strukturen von Selbstrepräsentation, die sich aus gesellschaftlichen Unterdrückungsstrukturen ergeben (also z.B. Strukturen der Selbstrepräsentation von Frauen, LohnarbeiterInnen, Nicht-Weißen, postkolonialen Nationen, aber auch von "Illegalen", Kindern, Behinderten usw.). Es gilt in allen diesen Fällen auch für die "andere" Seite.

Runde Tische sind okay, auch wenn dies für bestimmte traditionelle linke Vorstellungen blasphemisch erscheint. Sie sind okay unter bestimmten Voraussetzungen. Sie müssen tatsächlich etwas zu sagen haben, also reale Entscheidungsbefugnisse übertragen bekommen. Sie müssen egalitär sein im doppelten Sinne: die Stimme aller Beteiligten am Tisch wiegt gleich, und am Tisch müssen alle vertreten sein, die von seinen Entscheidungen gravierend betroffen sind. Ferner müssen die Konsequenzen der Nicht-Einigung für die Beteiligten ähnlich gravierende Auswirkungen haben. Es macht einen Unterschied, ob Tarifverhandlungen auf der Grundlage eines prinzipiellen Inflationsausgleichs (oder einer grundsätzlichen Relation von Gewinnen und Löhnen) stattfinden, oder nicht; ob die Trasse durchs Naturschutzgebiet gebaut wird, wenn die Beteiligten des Runden Tisches sich nicht über das Wie einigen, oder ob sie dann nicht gebaut werden kann. Und schließlich darf die Form des Runden Tisches den Beteiligten, einzeln und kollektiv, keine bestimmte Interpretation des behandelten Problems verpflichtend vorgeben. Es muss für die Beteiligten möglich sein, ihre eigene Interpretation zu vertreten, und es muss für den Tisch möglich sein, zu einer anderen Interpretation des Problems zu gelangen als ursprünglich angedacht.

Solche Strukturen und Voraussetzungen bergen eine Fülle von Problemen, aber sie sind harmlos gegen das Problem, wie eine Regierung oder Partei stellvertretend für alle "Gerechtigkeit" herstellen soll. Es sind Strukturen, die aus herrschaftskritischer Sicht immer ein bisschen "schmutzig" sind, weil sie u.U. Unterdrücker und Unterdrückte an einen Tisch setzt. Sie ändern nichts an der Notwendigkeit, Herrschaftsinstrumente abzuwickeln oder grundsätzliche gesellschaftlichen Voraussetzungen für einen "vergleichbaren und vertretbaren Preis" zu schaffen. Aber sie bieten Raum zur Selbstartikulation der Beteiligten und Raum für konkrete Problemlösungen im Sinne der realistischen Kooperation. Sie sind das wesentliche Element einer Entstaatlichung gesellschaftlicher Entscheidungsprozesse.

Die Kritik am "herrschaftsignoranten" Charakter Runder Tische hat ihre Berechtigung, geht jedoch häufig an der Tatsache vorbei, dass der Einfluss der weniger Privilegierten auf einen übergeordneten "demokratischen" Entscheidungsprozess eher schlechter ist und dass Strukturen korporativer Entscheidungsfindung immer stattfinden, nur nicht offen und nicht egalitär. Es spricht daher nichts dagegen, weite Bereiche dessen, was heute an gesellschaftlicher "Umverteilung" und staatlicher "Steuerung" stattfindet, an Strukturen eines egalitären Korporatismus zu übertragen. Es wäre mit Sicherheit kein Nachteil für die Bezieher von staatlichen Unterstützungsleistungen, wenn diese Gegenstand "runder Tische" wären, anstatt von Regierungen gottgleich festgelegt zu werden. Für viele Bereiche, vom Bildungssektor über das Sozialwesen bis zur konkreten Wirtschaftspolitik, hat die Erfahrung gezeigt, dass die Mehrzahl der Beteiligten im heutigen Regelungssystem praktisch keine Stimme hat. Entstaatlichung als positives Ziel bedeutet nicht Ökonomisierung und Verschlankung, sondern Rückverlagerung von Entscheidungen in egalitär-korporative Organe. Für eine Gesellschaft, die bereits einen weitgehenden Abbau von Verfügbarkeit vollzogen hat, kann man sich unter dem "Absterben des Staates" eigentlich nichts anderes vorstellen, als die weitgehende Übertragung gesellschaftlicher Entscheidungsfunktionen an egalitär-korporatistische (und autonom-dezentrale) Strukturen.

Autonome Dezentralisierung

Die heutige Globalisierungs-Debatte hat die Linke mit dem "Nationalstaats-Paradox" konfrontiert, die Stärkung nationaler Entscheidungsbefugnisse und Kontrollmöglichkeiten zu fordern, obwohl der Nationalstaat selbst traditionellerweise als eine Form von Herrschaft analysiert wird. Dieses Paradox löst sich nur, wenn wir es in einer übergreifenden Perspektive autonomer Dezentralisierung aufheben.

Die Herrschaftsfunktion des Nationalstaats, und die Herrschaftsfunktion seiner Entwertung durch eine schrankenlose Globalisierung, beruhen auf dem gleichen Prinzip. Je größer eine Kooperation wird, desto schwieriger wird es für uns als Einzelne, Einfluss auf die Regeln zu nehmen. Unser Gewicht wird gering. Dies trifft jedoch nicht alle Akteure in gleichem Maße, und auch nicht alle Regeln.

Wir können uns das an der "statistischen" Betrachtung von revolutionären Prozessen klarmachen. Um eine gegebene Gesellschaft revolutionär zu verändern, müssen die Einzelnen in Wort und Tat mit den herrschenden Regeln brechen, worauf sie mit Nachteilen und Repression zu rechnen haben, ihre Situation also schlechter wird. Nur im Fall einer erfolgreichen Revolution würde sich ihre Situation (alles im Rahmen dieses Idealmodells) bessern. Einzelne oder eine kleine Anzahl von Menschen können diese Veränderung nicht bewirken, nur eine große Anzahl. Die Einzelnen können sich, weil die herrschenden Regeln nun mal die herrschenden sind, nicht ohne Nachteile und Repression darüber verständigen oder absprechen; sie haben keine andere Kommunikation als die, dass einige für andere sichtbar die Regeln in Wort und Tat übertreten, und andere sich entscheiden können mitzutun oder nicht. Wenn schon sehr viele teilnehmen, wird die Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs höher, und das Risiko selbst teilzunehmen wird geringer; wenn nur sehr wenige teilnehmen, ist der Erfolg unwahrscheinlich, und das Risiko, wenn man sich selbst anschließt, ist sehr hoch. Das müssen auch die in Betracht ziehen, die die Ziele der Revolutionäre teilen; denn ein Umsturzversuch, an dem viele teilnehmen, der aber gerade noch scheitert, verbaut auf lange Zeit die Möglichkeit eines Erfolgs.

Da sich nicht alle absprechen können, wird es zu Beginn immer nur Einige oder eine geringe Anzahl von Menschen geben, die sich auflehnen. Rein statistisch betrachtet sind Revolutionen daher unmöglich aufgrund der Größe der gesellschaftlichen Kooperation. Auch wenn 90 Prozent einen Sturz des Regimes wünschen, und bereits 40 Prozent die Macht dazu hätten, werden sie niemals den Punkt zu Beginn des Aufstands überwinden, wo das "Einsteigen" ein unverhältnismäßig großes Risiko darstellt.

Wie wir wissen, finden Revolutionen trotzdem statt. Dies ist möglich, weil die Gesellschaft keine Ansammlung von monadischen Individuen ist, sondern ein Geflecht von Kooperationen, die ihrerseits größere Kooperationen bilden. Schon wenige Großkooperationen können reichen, dicht an die "ausreichenden" 40 Prozent zu kommen; schon eine Anzahl von kleineren Kooperationen kann ausreichen, eine "ihrer" Großkooperationen in diesem Sinne zu beeinflussen; schon wenige Einzelne können genug sein, um einige kleinere Kooperationen dahin zu bringen, teilzunehmen und den Ausschlag zu geben. Der Prozess verläuft schneller, und er vollzieht sich in "Treppenstufen". Nur weil wir das wissen und einbeziehen, können wir uns auch zu einem Zeitpunkt "zu Beginn" offen entscheiden und die "statistische Unmöglichkeit" von Revolutionen überwinden.

Veränderungen in einer Gesellschaft sind also leichter möglich, wenn die Nachteile, die Einzelnen und Gruppen aus Regelverletzungen erwachsen, vertretbar sind; wenn die Gesellschaft in ihrem Inneren reich strukturiert ist, d.h. viele verschiedene Kooperationen verschiedener Größe und wechselseitiger Durchdringung umfasst; wenn diese Kooperationen für sich und untereinander gut und direkt kommunizieren können. Nur das kompensiert das "Schrumpfen" der Einzelnen im Verhältnis zu großen Gesamtkooperationen.

Es schrumpfen aber nicht alle gleichermaßen. Da Kapital (im umfassenden Sinne) in einer Gesellschaft nicht herumliegt wie Sand, sondern Haufen und Strukturen bildet, können Einzelne und Gruppen, die aktuell mit großen Haufen arbeiten, sehr wohl grundlegende Veränderungen einleiten - weil schon eine geringere Anzahl von ihnen groß genug ist, um nicht mehr bedroht zu sein, und weil sie dieses Kapital einsetzen können, um die Rationalitätskriterien für die Entscheidung aller anderen zu beeinflussen. Deshalb spielen Facharbeiter und Soldaten eine zentrale Rolle in allen historischen Revolutionen; deshalb können Konzernchefs, Manager, Generäle und Regierungen sehr viel leichter "putschen" und tun dies auch ständig, ganz legal.

Große Kooperationen sind nicht an sich schlecht, aber sie sind gefährlich in dem Maß, wie sie die Gesellschaft "mediatisieren", d.h. andere Kooperationen und Untergliederungen ausschalten und die Gesellschaft individualisieren, so dass die Einzelnen "schrumpfen". Das ist schlecht am Nationalstaat, und das ist schlecht an dem, was heute als Globalisierung bezeichnet wird. Wir können uns große Kooperationen nur leisten, wenn es ein ausdifferenziertes System von Untereinheiten gibt, die mit einem hohen Maß an Autonomie ausgestattet sind. Im Grunde ist das Argument ganz einfach: Wir können als Einzelne (oder als kleine Gruppen) nur dann frei und gleich mit einer großen Kooperation in Beziehung treten, wenn es ein System von Zwischenkooperationen gibt, auf die wir mehr Einfluss haben und die im Verhältnis zur großen Einheit die Bedingungen der freien Kooperation erfüllen, die wir selbst nicht erfüllen können: alle Regeln zur Disposition stellen; gehen und einschränken können und dadurch Einfluss nehmen; die Kooperation zu einem vergleichbaren und vertretbaren Preis scheitern lassen. Daraus leitet sich alles Weitere ab, über dessen Details man sich dann streiten kann: Staaten, Regionen und Kommunen, deren Boden und Natur nicht beliebig "nach oben" verkauft werden kann; spezifische Behinderungen und Kontrollen für alle Akteure, die aktuell mit großen "Kapitalhaufen" arbeiten; besonderes Augenmerk auf die "Rückholbarkeit" von Kompetenzübertragungen von "unten" nach "oben"; und viel Geld und Zeit ausgeben für jede Form von "Binnenstrukturierung", die nur zu kriegen ist.

Sozialistisch inspirierte Systeme haben sich grundsätzlich schwer damit getan, solche "Zwischenkooperationen" zu akzeptieren. Sie neigten prinzipiell zu einer Politik der "Mediatisierung", d.h. der Auflösung von gesellschaftlichen Entscheidungsebenen, Strukturen und Kompetenzen, die zwischen dem Staat und den Individuen stehen. Dies ist nicht nur ein klassischer Fall einer falschen Vergötzung von "Effizienz", sondern auch eine Fehlauffassung dessen, was "Revolution" heißt: nämlich die Übernahme möglichst vieler Entscheidungen durch die Individuen in ihren vielfältigen Kooperationsformen, um sich nicht länger einer Fremdbestimmung durch eine zentrale Politik auszuliefern. In diesem Sinne ist revolutionäre Politik eben immer auch praktische Anti-Politik, und die Utopie freier und gleicher Selbstbestimmung immer auch konkrete Anti-Utopie.

Affirmative action

Wenn eine Kooperation an dem Punkt ist, dass sie anerkennt, dass eine Gruppe historisch wie aktuell massiv benachteiligt ist, dann kann sie sich nicht mit "demokratischen" Konsequenzen begnügen - der Abschaffung formalrechtlicher Nachteile, dem prinzipiell gleichen Zugang zu den Entscheidungsprozessen, nicht einmal mit der Herstellung von materieller "Chancengleichheit" (was ja sowieso nie passiert).(64) Herrschaft wirkt; die Privilegierten haben ein reichhaltiges, vielschichtiges System von Vorteilen erworben, mit denen sie auch jedes "formal gleiche" Spiel gewinnen können. Es bedarf schon der ausgleichenden Ungerechtigkeit, um die Gewichte real zu verschieben, und dies auf lange Zeit. (65)

Affirmative action bezeichnet Maßnahmen zur spezifischen Bevorzugung von Angehörigen gesellschaftlich benachteiligter Gruppen. Affirmative action ist ein relativ entwickeltes Politikfeld in den USA, zunächst für Schwarze, später auch für Frauen und zunehmend für weitere Gruppen. Programme zur affirmative action spielen auch im heutigen Südafrika eine große Rolle. In Europa sieht es eher dürftig aus. Affirmative action umfasst Instrumente wie Quotenregelungen für Einstellungen oder die Zusammensetzung von Gremien ebenso wie spezifische Qualifikationsangebote. Sie ist nicht notwendig staatliche Politik, sondern findet in allen möglichen Kooperationen statt - in Betrieben, Gruppen und Lebenszusammenhängen, von der bekannten "quotierten" Redeliste und besonderen Rechten in Organisationen und Institutionen bis zu verschiedensten konkreten Vorrechten, die als gezielter Ausgleich für anerkannte Benachteiligung verstanden werden.

Affirmative action funktioniert jedoch nur, wenn sie sich nicht auf "nachholende" Instrumente wie Quoten und Förderprogramme beschränkt, sondern auch die Kritik an der herrschenden Norm fördert und vorantreibt. Sie ist auch inhaltlich parteilich. Sie ist nicht "gerecht"; sie bemisst sich am Ziel, bislang benachteiligten Gruppen einen realen Vorteil zu schaffen, um ihren Machtrückstand aktiv zu kompensieren.

Affirmative action ist eine Anwendung der Maxime, dass die Regeln geändert werden können. Sie kann auf allen Ebenen von Gesellschaftlichkeit, für jede Form von Kooperation betrieben und durchgesetzt werden. Zu prüfen ist allenfalls, ob es aus Sicht der freien Kooperation legitim ist, dass eine übergeordnete Kooperation (in diesem Fall die nationale Gesellschaft) untergeordneten Kooperationen Vorschriften darüber machen kann, wie sie sich zusammenzusetzen haben. Dies ist zu bejahen für entsprechende Gesetze, die sich auf den öffentlichen Sektor und große Kooperationen beziehen. Da die Gesellschaft größeren Kooperationen faktisch einen nicht unerheblichen Teil des gesellschaftlichen Kapitals überlässt, kann sie dies an die Bedingung knüpfen, allen gesellschaftlichen Gruppen real gleichen Zugang zu diesen Kooperationen zu ermöglichen und sie angemessen in ihren Entscheidungsstrukturen zu repräsentieren. Aus Sicht der freien Kooperation gilt dies nicht nur für große Betriebe, sondern genauso auch für große gesellschaftliche Organisationen und für politische Repräsentativorgane, sprich Parlamente, Regierungen, Ministerien, staatliche Bürokratie und große gesellschaftliche Entscheidungs- und Verfügungsstrukturen wie Medien und Bildungssysteme.

Political correctness

Was affirmative action für die soziale Ebene von Herrschaftsinstrumenten (die Diskriminierung) ist, ist political correctness für die institutionelle Ebene (die Kontrolle von Öffentlichkeit). Political correctness, ursprünglich ein Kampfbegriff der amerikanischen politischen Rechten, bezeichnet heute die Politik, das gesagte und geschriebene Wort (oder auch bildliche Darstellungen) auf diskriminierende Inhalte und Formulierungen hin zu untersuchen und auf nicht-diskriminierende Formen hinzuwirken. (66) Die Inkriminierung und Sanktionierung bestimmter Formulierungen ("fighting words") ist stark umstritten (obwohl die Bußgelder für Beamtenbeleidigung z.B. wesentlich ausgefeilter und von empfindlicher Höhe sind). Dies bildet jedoch nur den oberflächlichsten Teil von political correctness. Weiter gefasst, handelt es sich um den Anspruch, auf der Ebene der symbolischen Ordnung, des Dargestellten, bisherige Dominanzstrukturen zu brechen und diese Darstellung inhaltlich zu "quotieren" - sprich, diejenigen zu Wort kommen zu lassen und symbolisch zu repräsentieren, die traditionell von der herrschenden Dominanzordnung ausgespart werden.

Freie Kooperation legitimiert mit Sicherheit keine preskriptive Politik, die Allen bestimmte Sprachcodes vorschreibt. Sie legitimiert jedoch wie im Fall der affirmative action bestimmte Bedingungen für die Verwaltung gesellschaftlichen Kapitals. Auch dabei geht es nicht vorrangig um den negativen Aspekt, also "Sprachkontrolle", sondern um einen positiven Aspekt: die Verpflichtung, der inhaltlichen Repräsentation von benachteiligten Gruppen besonderes, ja überproportionales Gewicht beizumessen. Dies kann für Medien, wissenschaftliche Institutionen etc. ab einer bestimmten Größe ohne weiteres verlangt werden. Eine so verstandene political correctness schreibt keine inhaltlichen Normen vor; sie öffnet nur ein Feld der Kritik an bisher herrschenden Normen.

Unabhängige Grundsicherung

Es ist von erheblicher Komik, dass Abgeordnete für sich in Anspruch nehmen, durch relativ hohe Gehälter ihre inhaltliche Unabhängigkeit zu wahren und sich nicht-erpressbar zu machen - dass die meisten dieser Abgeordneten es aber nicht für nötig halten, eine derartige Unabhängigkeit und Nicht-Erpressbarkeit auch für den Souverän, nämlich die Bevölkerung, zu gewährleisten. Was für Abgeordnete gilt, sollte auch für uns gelten. Nur die Garantie eines unabhängigen, qualitativ ausreichenden Existenzgeldes schafft für die Individuen die Voraussetzung, sich nicht um jeden Preis verkaufen zu müssen. Es gewährleistet ihre politische Freiheit; denn politische Freiheit heißt vor allem, sich nicht in erzwungene Kooperationen irgendwelcher Art hineinbegeben zu müssen. Wo dies nicht in Form direkter monetärer Leistung möglich ist (und in den hochindustrialisierten Staaten des Nordens ist es ohne Weiteres möglich), kommen andere Formen in Betracht - Landzuteilung, oder Zugang zu gesellschaftlichem Kapital, das für Strukturen von Selbstorganisation und Selbstversorgung genutzt werden kann.

Eine Politik der freien Kooperation, darauf sei an dieser Stelle nochmals hingewiesen, beschränkt sich nicht auf erwünschte staatliche Aktivitäten. Menschen und Kollektive überall auf der Welt betreiben eine Politik der unabhängigen Grundsicherung, indem sie beständig nach Mitteln und Wegen suchen, direkt an den ungeheuren, aufgehäuften Bergen von gesellschaftlichem Kapital zu partizipieren, ohne die dafür aufgestellten Bedingungen erzwungener Kooperation zu erfüllen. Auch hier ist das demokratische Pathos, gegen Korruption, Patronage und Leistungserschleichung zu kämpfen, politisch meist ein rechtes Programm, das sich im Wesentlichen gegen diese Massenpolitik der "kreativen Grundsicherungs-Vorwegnahme" richtet. "Es heißt, die Grundlagen des ganzen sozialen Systems zu verkennen, wenn es in letzter Zeit üblich geworden ist, die Bezieher 'falscher', d.h. erschlichener Pensionen, zu denunzieren. Das wirkliche Problem ist, dass jemand, der nichts hat, sich als Blinden ausgeben muss, um eine Hilfe zu erlangen ..."(67)

5. Organisierung

Wenn wir die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass alle Frauen in einem lesbischen Kontinuum leben - vom Baby an der Mutterbrust bis zur erwachsenen Frau, die orgasmische Empfindungen hat, während sie ihr eigenes Kind säugt, und die sich durch den Geruch ihrer Milch vielleicht an den Milchgeruch ihrer Mutter erinnert; oder von zwei Frauen wie Virginia Woolfs Chloe und Olivia, die ein Labor miteinander teilen, bis zu der Greisin, die mit 90 Jahren, von Frauen gepflegt und berührt, stirbt - wenn wir diese Möglichkeit in Betracht ziehen, dann sehen wir vielleicht auch, wie wir uns selbst ständig in dieses Kontinuum hinein- und wieder hinausbewegen, gleichgültig, ob wir uns als Lesben bezeichnen oder nicht.
Audre Lorde, Zwangsheterosexualität und lesbische Existenz

Von Gayatri Spivak stammt der Satz "There are no rules but the old rules."(68) Wir finden überall Regeln vor. Wir wissen nicht genau, wie notwendig oder willkürlich sie jeweils sind, aber sie sind da. Wir kennen keine anderen Regeln als die, die schon da sind. Die neuen kennen wir nicht, oder nur in Ansätzen, in Experimenten, nicht aus einem derart umfassenden Praxistest. Da wir von Kooperation abhängig sind, sind wir davon abhängig, dass Kooperation irgendwelche Regeln hat. Das verschafft den bestehenden Regeln, den herrschenden, einen enormen Vorsprung. Dass man uns innerhalb dieser Regeln bestimmte Wahlen und Entscheidungen treffen lässt, ist marginal gegenüber der Tatsache, dass wir eine komplette Welt voller bestehender Regeln erben.

Aus dieser Abhängigkeit können wir uns allein nicht befreien - nicht im Kopf, nicht in der Praxis, nicht in der Auseinandersetzung mit der Macht der "alten Regeln". Um frei und gleich zu werden, benötigen wir eine Politik, die vom gemeinsamen Umbau der Regeln handelt, von der gemeinsamen Neuerfindung der Welt, wie wir sie kennen.(69) Dieser Aspekt wird hier mit "Organisierung" bezeichnet. Organisierung meint eine Politik, die eine Annäherung von inhaltlichen Positionen und strategischen Zielen durch einen kontinuierlichen Austausch betreibt. Organisierung meint nicht "formale Organisation". Es ist eine Politik, die eine Verbindung der Kräfte anstrebt bei dem Projekt, eine andere Logik des Sozialen auf den verschiedensten Feldern von Kooperation zum Tragen zu bringen; eine Logik, auf die man sich im Prozess der Organisierung ansatzweise, versuchsweise, testweise einigt, ohne die eigenen, spezifischen Ansätze darüber aufzugeben. Welche Elemente muss eine solche Politik haben? Was ist heute dabei wichtig?

Dies ist gleichbedeutend mit der Frage "Wer soll das alles durchsetzen?", die sich gewöhnlich an Ausführungen über politische Utopie anschließt. So kompliziert und vielschichtig Herrschaft ist, so vielschichtig und vielgliedrig sind auch die Prozesse der Befreiung. Wir können uns heute kein historisch privilegiertes Subjekt mehr vorstellen, das die Veränderung der Verhältnisse bewirkt - keine nach Funktion, Ideologie oder Identität ausgewiesene Klasse, Gruppe, Organisation. Wir können uns heute auch keinen privilegierten Ort und keine privilegierte Form dieser Auseinandersetzung vorstellen. Und wir können uns nicht mehr vorstellen, dass dieser Prozess von formalen politischen Organisationen dominiert wird. Es geht um ein ganzes Bündel von Prozessen, einen komplexen Prozess, in dem Organisationen und soziale Bewegungen, Alltagsabsprachen und kulturelle Bewegungen, soziales Experimentieren, kulturelles Imaginieren und politische Kämpfe eine Rolle spielen und einander nicht untergeordnet werden können.(70)

Wir haben heute keinen Mangel an Instrumenten und Techniken, mit denen auf die Regeln Einfluss genommen werden kann. Wir haben keinen Mangel an möglichen und auch jetzt schon aktiven Subjekten. Die Frage der Durchsetzbarkeit verschiebt sich zur Frage nach der möglichen Gemeinsamkeit. Hier ist ausführlich dafür argumentiert worden, dass es eine sich herausbildende Gemeinsamkeit gibt, Elemente einer Annäherung von Auffassungen, die mit der Theorie und Praxis der freien Kooperation ansatz- und vorschlagsweise beschrieben werden kann. In diesem Kapitel wird versucht, bestimmte Elemente zu beschreiben, die wichtig sind, um sich wechselseitig bei der Durchsetzung einer solchen Logik zu unterstützen.

Hierbei ist der Aspekt des Kontinuums klärend, wie ihn Audre Lorde in der oben zitierten Passage verwendet. Ein Kontinuum hat kein Oben und Unten. Die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Handlungsbereiche sind darin nach dem Prinzip der Selbstähnlichkeit miteinander verbunden; es gibt keine Hierarchie zwischen den verschiedenen Politiken der Emanzipation und der freien Kooperation. Ein Kontinuum weist Zonen stärkerer und schwächerer Verdichtung auf, aber es hat keine klaren Grenzen.

Wir sollten uns die Politik der freien Kooperation ebenfalls als ein Kontinuum vorstellen, in das wir ein- und austreten, das wir manchmal als solches gar nicht erkennen, in dem wir uns aber teilweise bereits bewegen. Organisierung bedeutet, mögliche Gemeinsamkeit in gewollte Verbundenheit zu überführen, sich als Teil eines strategischen Kontinuums zu sehen. Die Formen dieser Verbundenheit können enger oder lose sein, aber es ist mehr als ein Netzwerk, denn es ist eine orientierte Gemeinsamkeit. Sie hat Grundlagen. Sie hat ein Eintrittsticket, das mindestens aus der Überzeugung besteht - wie auch immer formuliert oder artikuliert -, dass Herrschaft existiert und dass Emanzipation nichts Lächerliches ist. "Emanzipation ist heute, nochmals gesagt, eine unermessliche Frage, und ich muss sagen, dass ich denen gegenüber keine Toleranz aufbringe, die sich - Dekonstruktivisten oder nicht - bezüglich dieses großen Diskurses der Emanzipation ironisch verhalten."(71)

Solidarität

Eine Politik der Organisierung erfordert Solidarität, und zwar eine Solidarität, die nicht-taktisch, aber strategisch ist. Solidarität bedeutet gegenseitige Unterstützung beim Versuch, Einfluss auf die Regeln zu nehmen und sich gegen erzwungene Kooperation zu wehren. Solidarität kann den Nachteil kompensieren, den wir als Einzelne - oder als einzelne Gruppe, Bewegungen, Kooperation - in der Auseinandersetzung mit Mächtigeren haben, die Herrschaftsinstrumente einsetzen. Solidarität hilft, den Preis der Nichtkooperation und der Einflussnahme vergleichbarer und vertretbarer zu machen, als es die Kooperation zulässt, in der die Auseinandersetzung stattfindet. Das ist auch die Linie, auf der sich Solidarität mobilisieren lässt. Irgendwie ist uns nicht so klar, warum wir für "2,5 Prozent mehr im Druckergewerbe" auf die Straße gehen sollen, obwohl wir gar keine DruckerInnen sind; aber es ist uns klar, dass wir solidarisch gefordert sind, wenn den Betreffenden die Möglichkeit zur freien und gleichen Verhandlung genommen oder beschnitten wird.

Die Solidarität, die hier eingefordert ist, ist nicht-taktisch. Sie bemisst sich nicht daran, ob die jeweiligen Ziele der Anderen uns passen; sie bemisst sich daran, ob sie an freier Verhandlung gehindert werden. Sie ist jedoch strategisch insofern, als sie sich nicht mobilisieren lässt für andere Kollektive, deren Ziele der sozialen Logik von Emanzipation oder freier Kooperation klar widersprechen. Wir unterstützen keine Befreiungsbewegung, mag sie auch unterdrückt sein, von der wir mit hoher Sicherheit annehmen, dass sie selbst ein unterdrückerisches Regime errichten würde. Wir setzen uns nicht für die Freiheit eines Musikers gegenüber seiner Plattenfirma ein, der eindeutig sexistische oder rassistische Videoclips drehen lässt. Das kann niemand von uns verlangen. Solidarität ist keine moralisch erpressbare Einbahnstraße. Sie ist selbst Gegenstand von Verhandlungen - nicht auf taktischer, aber sehr wohl auf strategischer Grundlage.

Bündnischarakter

Organisierung findet in Bündnissen statt. Sie erfordert, politische Zusammenarbeit - in welcher Form auch immer - als die Zusammenarbeit von Gruppen zu sehen, die sich nicht auf einen gemeinsamen weltanschaulichen, praktischen oder organisatorischen Nenner bringen lassen. Jede Partei, jede Organisation, jede soziale Bewegung, jeder Musikstil ist ein Bündnis; dies ist sein jeweiliges Kapital, das es nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen gilt. Organisierung als Prozess von Bündnissen zu begreifen, erfordert eine Praxis der Anerkennung, die sowohl gegenseitige Kritik als auch Respekt umfasst. Der Bündnischarakter ist wertvoller als Effizienz, Größe, aktueller Einfluss, taktische Spielräume. Denn funktionierende Bündnisse - und nur immer wieder in Frage gestellte Bündnisse sind funktionierende Bündnisse - sind Orte, an denen Übersetzungsarbeit zwischen verschiedenen Sprachen, Strömungen, Traditionen, Erfahrungen stattfindet. Ohne eine solche Übersetzungsarbeit kann eine andere Logik des Sozialen nie durchgesetzt werden. Deshalb erlangen für Prozesse postmoderner Organisierung "gemischte" und teilbereichsübergreifende Zusammenhänge besondere Bedeutung.

Bündnisse sind hoch empfindliche, strategisch extrem wertvolle Kooperationen. Wenn es um Bündnisse geht, geht es ans Eingemachte. Eine Politik, die aus gemeinsamen Grundlagen angeblich konsequente Folgerungen ableitet, über denen sie das ursprünglich konstitutierende Bündnis verliert, kann nicht richtig sein.

Loyalität

Loyalität meint das Festhalten an Ergebnissen von Anerkennungs- und Selbstreflexionsprozessen, auch wenn die Kräfteverhältnisse und die äußeren Umstände sich verändern. Dies gilt sowohl zwischen Personen als auch zwischen Gruppen. Organisierung kann nur erfolgreich sein, wenn sie die "Konjunkturzyklen" überwindet, in denen politische Zusammenhänge regelmäßig wieder hinter erreichte Anerkennungsprozesse zurückfallen, sobald die dominierenden Gruppen mit ihren alten Ansätzen wieder Morgenluft wittern. "Gemischte" und übergreifende Zusammenhänge neigen dazu, erreichte feministische, anti-rassistische oder anti-autoritäre Standards schnell wieder abzustoßen, sobald ihnen die politische Konjunktur dies nahelegt. Das 20. Jahrhundert hat dies bei fast allen Befreiungsbewegungen gezeigt, nachdem sie ihre Macht festigen konnten; die aktuelle Zeit zeigt dies bei den Tendenzen, in der Auseinandersetzung mit neoliberalen Umstrukturierungen wieder zu den "harten Themen" zurückkehren zu wollen. Es gibt dieselben Prozesse auch zwischen Individuen in Kooperationen. Auch hier geht es nicht nur um politische Organisationen und soziale Bewegungen, sondern genauso um kulturelle Bewegungen und Gruppen jeder Art, bis hin zu Lebensgemeinschaften. Eine Politik, die die gesellschaftliche Stärke und Schwäche von Teilbewegungen, Themen und Positionen einfach abbildet, ist das Gegenteil von Organisierung, wie sie hier verstanden wird.

Kritische Artikulation

Wie Solidarität die organisierte Antwort auf direkten Zwang ist, der Bündnischarakter die organisierte Antwort auf strukturelle Unterordnung und Loyalität die organisierte Antwort auf Diskriminierung, so ist die kritische Artikulation die organisierte Antwort auf die Kontrolle von Öffentlichkeit. Wie die anderen Elemente den Bruch mit dem absoluten Primat des "eigenen Zusammenhangs", mit einem reinen politischen Effizienzdenken und mit der interessensmäßigen Homogenität erfordern, so erfordert kritische Artikulation den Bruch mit der Einheitlichkeit, nach innen und außen.

Postmoderne Organisierung kann die Regeln nicht in eigener Regie und aus eigener Kraft ändern. Sie ist wesentlich "Intervention", d.h. sie greift ein in gesellschaftliche Auseinandersetzungen, provoziert sie, regt sie an, wirft Interpretations- und Lösungsmöglichkeiten hinein.(72) Im Sinne der freien Kooperation kann sie den realen gesellschaftlichen Zusammenhang weder stellvertretend repräsentieren noch umfassend steuern. Sie setzt nicht Lösungen durch, sondern korrigiert und kompensiert den Preis, zu dem einzelne Akteure handeln und verhandeln können.

Aufgrund der Komplexität von Herrschaft und der Schwerkraft der bestehenden Regeln ist es eines der zentralen Elemente von Organisierung, alternative Sichtweisen in Theorie und Praxis vorzuführen und vorstellbar zu machen. Die Schwerkraft der Regeln bringt die Individuen zum Schweigen. Die eigene Unzufriedenheit erscheint ihnen irrational, falsch, makelhaft. Durch ihr Schweigen, gegenüber anderen wie auch sich selbst, erkaufen sich die Individuen Ruhe, aber es hilft ihnen nicht. "My silence did not protect me. Your silence will not protect you."(73) Politische Organisierung beginnt damit, und mündet immer wieder darin, das sagbar zu machen, was schwierig zu sagen ist.(74) Auch hier sind wir wieder bei Kafka und der Sehnsucht nach dem Wort, das eine Axt ist für die gefrorenen Verhältnisse in uns und um uns.(75)

Kritische Artikulation ist nur möglich, wenn politische Organisierung den Raum dafür eröffnet, nicht nur das zu sagen, was selber schon hinreichend Schwerkraft besitzt. Sie muss sich als Katalysator für das Neue begreifen, für das was sie selbst noch nicht kennt; als Schutzraum für andere Interpretationen, als Humus für alternative Experimente und andere Regeln. Sogar sich selbst gegenüber und der Schwerkraft ihrer eigenen Regeln.

Individuation

"Eines der Kriterien, mit dem wir die Richtigkeit unserer Politik überprüften, war auch das Kriterium des persönlichen Gewinns. Gemeinsam kontrollierten wir, ob die Einzelnen der Politik nicht geopfert wurden." (76) Postmoderne Organisierung handelt nicht von letzten Wahrheiten und geoffenbarten Sicherheiten. Sie muss damit umgehen, dass sie sich irren kann. Ihr Kapital sind konkrete Menschen und der konkrete Nutzen, den Menschen daraus ziehen, sich als Teil von ihr zu begreifen und zu orientieren. Natürlich kann dieser Nutzen nicht einfach nach den Kriterien der herrschenden Regeln und der herrschenden "Vernünftigkeit" gemessen werden; aber er kann auch nicht suspendiert werden mit den Formeln vom "späteren Nutzen" und der "großen Sache". Für eine Politik des Opfers ist kein Platz.(77)

Individuation heißt, dass wir diesen individuellen Nutzen nicht schematisieren können und das auch nicht müssen. Es gibt legitime Formen von Interessenpolitik, aber politische Organisierung ist etwas anderes: der positive Bezug auf eine andere Logik des Sozialen, eben die der freien Kooperation. Wir sind mehr als bestimmte Interessen; wir sind Entwürfe im Feld der Widersprüche. Es sind diese konkreten Entwürfe, aus denen Utopien gebaut werden. Deshalb gibt es keine abstrakten Subjekte. Deshalb können wir nicht "an uns selbst vorbei" befreit werden.

Eine Politik der Individuation bedeutet, dass man Menschen nicht verheizt. Sie bedeutet auch, dass man sich bewusst ist, dass politische Organisierung immer zwischen Personen stattfindet: sie verändert die Logik, wie wir - über alle Brüche und Spaltungen hinweg - miteinander umgehen. Wir verlieren dadurch eine gewisse Scheinsicherheit des vermeintlich Berechenbaren, aber wir gewinnen daraus eine gewisse Gelassenheit. Es geht um einen größeren Zusammenhang, und wenn Strukturen und Projekte zusammenbrechen, sind immer noch die Menschen übrig, die es neu und besser versuchen können. Postmoderne Organisierung ist keine Politik von Hasardeuren, keine Politik des "Coups". (78) Es geht um lebbare Politikstile, mit denen Menschen alt und glücklich werden können, und zumindest einige von ihnen auch sympathisch.

All dies charakterisiert eine gewisse Reife von Organisierungsprozessen. Der Bruch mit dem absoluten Primat des "eigenen Zusammenhangs", mit politischem Effizienzdenken, Homogenität, "Einheitlichkeit" und "Integration", die Entfaltung von Solidarität, Bündnis, Loyalität, kritischer Artikulation und Individuation, all dies verändert Kooperationen, Gesellschaften, Individuen, Beziehungen. Organisierung eröffnet einen neuen, ungekannten sozialen Raum; einen Raum, in dem die Zukunft immer aufs Neue Platz findet. Auch wenn es zum Wesen des Neuen gehört, dass es ins Alte nicht wirklich hineinpasst.

Die Uhr von Lund

Ihr wart lange genug Figuren in einem Uhrwerk, das ihr nicht gebaut habt.
Hört auf damit.

Ihr lebt in einer Welt, in der es keinen erhöhten Punkt gibt, von dem aus man besser sehen könnte als durch eure Augen. Ihr seid die einzigen: es wird niemand anders kommen, der für euch sorgt. Ihr seid so gut wie jeder andere; also könnt ihr so gut wie jeder andere Einfluss auf die Regeln nehmen.
Hört auf, euch auf das zu verlassen, was euch weder frei noch gleich machen wird. Seid unzufrieden mit euch und mit anderen. Verliert den Respekt.
 

Nehmt euch die Regeln vor.

Rüstet ab: euch und andere. Verhandelt; respektiert euch und alle anderen als Menschen, die verhandeln. Lernt das, was notwendig ist, um Vorschläge zu machen. Begreift, dass ihr Privilegien habt und akzeptiert, dass es notwendige Kompensationen gibt. Organisiert euch. Wo immer ihr geht und steht und was immer es heißt: organisiert euch!

Wenn eine Kooperation euch nicht zusagt, verhandelt. Wenn die Verhandlung nicht zu einem Ergebnis führt, mit dem ihr zufrieden seid, trennt euch. Wenn ihr euch nicht trennen könnt, trennt euch so weit als möglich. Wenn das Ergebnis euch nicht zusagt, verhandelt neu.
Wenn man euch nicht verhandeln lässt, übt Druck aus: schränkt eure Kooperation ein, oder stellt sie unter Bedingungen. Wenn man euch zwingt, wendet Gewalt an. Wendet so wenig und so reversible Gewalt an wie möglich, aber so viel wie nötig. Denkt daran, dass Gewalt vielerlei bedeuten kann, und dass sie nur dazu dient, dem Zwang zu begegnen, mittels dessen man euch weder verhandeln noch fair gehen lässt.
Achtet keinen Besitz, keine Verfügung, keine Regeln, nur weil sie bestehen. Verlangt das auch nicht von anderen. Respektiert den Fakt, dass ihr immer irgendeine Struktur vorfinden werdet, aber nicht das Recht, das darin angeblich liegt.
Ordnet alle eure Beziehungen - alle privaten, politischen, gesellschaftlichen, die zu Einzelnen, zu Gruppen, zum Ganzen - nach dem Bild von Beziehungen zwischen Menschen, die sich als frei und gleich betrachten. Menschen, die gehen können; die verhandeln; die sich weigern, aufkündigen, zurückziehen, einschränken, Bedingungen stellen. Die das nicht immer erklären können müssen. Menschen, die das auch wirklich tun, immer wieder.
Lernt das zu schätzen, auch wenn es nicht bequem ist. Es ist das Tor zur Welt, zu einer Welt, die mehr ist als ihr selbst. Ändert Besitz, Verfügung, Regeln so, dass der Preis für alle vergleichbar und vertretbar ist, die Kooperation zu verlassen oder einzuschränken. Erwartet nicht, dass das über Nacht geht. Wartet nicht darauf, dass es irgendwann geht. Lasst euch nicht abspeisen damit, es werde von allein geschehen.
Organisiert euch. Übt Druck aus. Und immer wieder: verhandelt.

Es gibt nichts anderes.
Glaubt niemand, der euch Regeln aufschwatzen will, die das überflüssig machen sollen.

Räumt alles weg, was zwischen euch und der Möglichkeit steht, so zu leben. Tut es nicht blindlings. Aber tut es gründlich. Tut es nicht allein. Wenn ihr es allein tut, seid vorsichtig. Seid radikal: Spart keine eurer Beziehungen aus. Lasst euch nicht frustrieren. Geht den Weg bis zum Ende.

Seid die Letzten. Verneigt euch nicht.



 
 

Anmerkungen

Gustafsson-Zitat: Die Uhren haben mich lange krank gemacht, in: Die Stille der Welt vor Bach, München 1984, S. 50 ff.

Einleitung

Eingangszitat: Jean-Jacques Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, Stuttgart 1998, S. 70 f.

(1) Thierry Foucher, Vom Prinzchen, das immer Nein sagt. In: Hoppla - Das Kindermagazin zum Mitmachen, Mitlachen, Mitlernen. Weltbild Verlag, Augsburg, Nr. 115 - 4/99, S. 42-45. Die Tierart wurde geändert: Bei Foucher sind es drei Affen. Affen geben dem ganzen einen rassistischen Anstrich (die Illustrationen zeigen denn auch einen afrikanischen Kontext: die in Afrika müssen halt die einfachsten Dinge noch lernen), und Affen würden sich im Zusammenhang dieser Einleitung nach allzu billiger Polemik anhören. Bären sind besser.

(2) Albert Camus, Der Mythos von Sisyphos, Hamburg 1959, S. 35 ff.

(3) William Gibson zitiert den Ausdruck als Bild für jemanden, der sowohl weiße als auch schwarze Magie betreibt. "'Mit beiden Händen austeilen' ist so'n Ausdruck bei uns. Heißt so ungefähr, sie haben ihre Finger auf beiden Seiten drin. Auf der weißen und der schwarzen." William Gibson, Biochips, in: Die Neuromancer Trilogie (Ausgabe in einem Band), Frankfurt/Main 1996, S. 433.

(4) Georg Büchner, Dantons Tod, in: Werke und Briefe, München 1980, S. 10.

(5) George Orwell, Farm der Tiere, Zürich 1974, S. 137.

(6) "Sich nicht zu verneigen": Vergleiche die eingangs zitierte Passage aus dem Gedicht von Lars Gustafsson.

Erster Teil, erstes Kapitel

Andy und Larry Wachowski, The Matrix. Transskript der Filmfassung.

(7) Es gibt Mr. Rhineheart, und es gibt die Frage nach der Matrix, die uns umtreibt.

Erster Teil, zweites Kapitel

Interview mit Themba Sono, Der SPIEGEL, Nr.33/2000.

(8) Zur Idee der Gleichheit in der amerikanischen Tradition vgl. David Brion Davis, Freiheit-Gleichheit-Befreiung. Die Vereinigten Staaten und die Idee der Revolution, Berlin 1990, S. 18 ff.

(9) Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW 1, S. 385.

(10) Boris Vian, Die Reichsgründer oder Das Schmürz, uraufgeführt Paris 1959. Das Schmürz ist ein Wesen, von dem die anderen Personen keinerlei Notiz nehmen, das sie aber ständig ohne ersichtlichen Grund treten, ein "Fußabtreter" für die anderen. Es darf weder sprechen, noch greift es in den Gang der Handlung in irgendeiner Weise ein. Vgl. Martin Esslin, Das Theater des Absurden, Reinbek 1965, S. 196 ff.

(11) Engels, Anti-Dühring, MEW 20, S. 106.

(12) Marx, Kapital, 3.Band, MEW 25, S. 868.

(13) In der Spätphase der DDR gab es theoretische Versuche, Ideenpluralismus, Organisationspluralismus und institutionelle pluralistische Demokratie marxistisch zu begründen, mithin also eine reale marxistische Konflikttheorie auszuarbeiten, und daraus Reformen für den realsozialistischen Staat abzuleiten. Praktisch werden konnten diese Überlegungen durch die "Wende" nicht mehr. Ihr Einfluss auf den westlichen Marxismus scheint heute gering zu sein. Das Bekenntnis zum herrschenden System institutioneller, repräsentativer Demokratie und zum gesellschaftlichen Pluralismus wird hier nach wie vor entweder antikommunistisch begründet, d.h. mit der Erfahrung der staatlichen Machtkonzentration im Realsozialismus, oder gramscianisch mit dem "westlichen Weg zum Sozialismus" sowie einer den herrschenden Verhältnissen angepassten Auffassung von "Zivilgesellschaft". Das klingt moderner und weitgehender, ist aber tatsächlich sehr viel altdenkerischer: "Zivilgesellschaft" und plurale Demokratie können es sich in diesem Konzept nämlich ohne weiteres herausnehmen, sich zum Richter über das Richtige aufzuschwingen und dies mit Gewalt durchzusetzen, während der Reformmarxismus der späten DDR sich einer Vorstellung von gesellschaftlichen Gegensätzen annäherte, zwischen denen nicht objektiv entschieden werden kann, weil es keine "höhere Warte" gibt, von der aus diese Objektivität möglich wäre. Die praktische Relevanz zeigt sich in den Positionen zum NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien, wie auch in der Haltung zur neoliberalen Sozialreform von oben.

(14) Artikel 2. Zur näheren Einschätzung der "Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" siehe Walter Markov und Albert Soboul, 1789. Die Große Revolution der Franzosen, Köln 1977, S. 139 ff. Die Erklärung bemüht sich in der Tat, eine Freiheit zu definieren, die den aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen möglichst wenig schadet. Das Recht auf Eigentum wird in Art. 2 und Art. 17 als "unverjährbar", "unverletztlich" und "heilig" festgeschrieben, die konkreten Freiheiten ebenso konkret beschränkt. Markov/Soboul geben auch das schöne Zitat von Loustalot in der von Prudhomme herausgegebenen Zeitschrift "Revolutionen von Paris", Nr. 8: "Wir sind schnell von der Sklaverei zur Freiheit fortgeschritten, wir marschieren noch schneller von der Freiheit zur Sklaverei."

(15) "Es ist aber nichts Ungerechtes an den größeren Vorteilen weniger, falls es dadurch auch den nicht so Begünstigten besser geht." Dieser Grundsatz, sowie der einer formalen Gleichheit der Grundrechte und -pflichten, "dürften eine faire Grundlage dafür sein, dass die Begabteren oder sozial besser Gestellten - was beides nicht als Verdienst angesehen werden kann - auf die bereitwillige Mitarbeit anderer rechnen können, sofern eine funktionierende Regelung eine notwendige Bedingung für das Wohlergehen aller ist." (John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/Main 1979, S. 32.) Rawls' Suche nach den "Grundsätzen, denen freie und gleiche Menschen unter fairen Bedingungen zustimmen würden", d.h. sein Konzept der Rekonstruktion eines fiktiven Gesellschaftsvertrags, ist etwas ganz anderes als Rousseaus Frage aus dem Contract social, wie die Menschen unter den Bedingungen ihrer Vergesellschaftung so frei und gleich bleiben könnten wie vorher. Das "Fairness"-Konzept beinhaltet drei zentrale Einschränkungen der Freiheit und Gleichheit: Ob die Gesellschaft "gerecht" ist, ist objektivierender Betrachtung zugänglich, kann also "erkannt" werden; die Beteiligten können ihre Kooperation nicht aus freien Stücken aufkündigen, einschränken oder neuverhandeln; eine Politik, die Herrschaftsinstrumente erkennt und zurückdrängt, wird nicht für nötig erachtet, weil es einen Herrschaftsbegriff bei Rawls nicht gibt. Diese drei Bestimmungen sind typisch für die meisten aktuellen politischen Konzepte, die von sozialer "Gerechtigkeit" (und nicht Gleichheit) reden. Alle drei Bestimmungen werden von der Theorie der freien Kooperation nicht geteilt.

(16) vgl. Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, S. 21.

(17) Das Zusammenfallen von (radikal verstandener) Freiheit und Gleichheit gehört durchaus zur Tradition beider Begriffe. Vgl. Georges Lefebvre: "Für die Franzosen von 1789 waren Freiheit und Gleichheit untrennbar miteinander verbunden, im Grunde zwei Wörter, die dasselbe bedeuten. Hätten sie wählen müssen, so wäre ihnen die Gleichheit am wichtigsten gewesen, und wenn die Bauern, die ja ihre überwältigende Mehrheit bildeten, der Freiheit zujubelten, so dachten sie dabei an die Abschaffung der Macht des Grundherrn, der jetzt einfacher Bürger sein sollte." Georges Lefebvre, 1789. Das Jahr der Revolution, München 1989, S. 195.

(18) Freiheit und Gleichheit in der Kooperation ist nicht dasselbe wie das, was häufig unter "having a choice" beschrieben wird. Es geht nicht darum, dass wir biographische Wahlmöglichkeiten in einem gesellschaftlichen Supermarkt der Möglichkeiten haben - z.B. zwischen Karrierefrau und Mutter. Diese neoliberale "Wahlfreiheit" ist lediglich eine "pluralistisch-preskriptive" Politik: Wir können zwischen verschiedenen Lebensmodellen wählen, aber wie wir auch wählen, wir gewinnen keinen Einfluss auf die Regeln, wir "kaufen" ein fertiges Paket, das wir so zu akzeptieren haben.

Erster Teil, drittes Kapitel

Tracy Chapman, Fast Car, auf: Tracy Chapman, 1988.

(19) vgl. Libreria delle donne di Milano, Wie weibliche Freiheit entsteht. Eine neue politische Praxis, Berlin 1988, und Michaela Wunderle (Hrsg.), Politik der Subjektivität. Texte der italienischen Frauenbewegung, Frankfurt/Main 1977.

(20) Frei und gleich zu sein, heißt nicht nur nicht unterworfen sein, sondern auch fähig zur Interaktion, zum Austausch, zur "Transzendenz" der eigenen Erfahrung - nämlich der Auseinandersetzung mit anderen, ihrer Erfahrung, ihrer Weltsicht und Praxis. Dass wir das können, und dass das jemand mit uns tut, gehört unverzichtbar dazu, dass man "jemand ist". Die Vision dessen ist nicht nur eine Antwort auf die Farblosigkeit einer oberflächlich verstandenen "Interessenpolitik", die in keiner Weise ausreichend ist, sondern auch eine Antwort auf die reale Pathologie der herrschenden verkürzten Begriffe von Freiheit und Gleichheit. Eine Gesellschaft, wo Freiheit und Gleichheit nicht als soziale Intersubjektivität begriffen wird, erzeugt die typischen Empfindungen, dass die eigene Person keinen Wert hat, dass eigentlich auch sonst nichts Wert hat, und dass wir umfassend ohnmächtig und letztlich nicht gefragt sind.

Zweiter Teil, erstes Kapitel

David Fincher, Fight Club, USA 2000, Schlussszene.

(21) Zeitgenössische westliche Philosophie bearbeitet hauptsächlich das Problem, wie trotz der Kritik an westlichen Rationalitätskonzepten und westlichem Universalismus objektive Geltungsansprüche behauptet werden können - mit anderen Worten, wie die Macht der Regeln nicht nur gewaltsam, sondern auch argumentativ verteidigt werden kann. Die Theorie bedient sich dazu verschiedener Taschenspielertricks wie "notwendigen Voraussetzungen", "impliziten Zustimmungen" und "logisch enthaltenen Konsequenzen", versucht also eine universalistische Meta-Rationalität zu begründen. Ansprüche und Zumutungen können von den einzelnen Akteuren dann nicht mehr abgelehnt werden, bzw. die Akteure können höchstens nachweisen, dass die konkrete Regelmaschine nicht hinreichend der idealen Regelmaschine entspricht. Zu Rawls s. Anm. 15. Zu Habermas vgl. z.B. die Passage aus "'Vernünftig' versus 'wahr' - oder die Moral der Weltbilder": "In einer Assoziation von Freien und Gleichen müssen sich alle gemeinsam als Autoren der Gesetze verstehen können, an die sie sich als Adressaten einzeln gebunden fühlen. Deshalb ist hier der im demokratischen Prozess rechtlich institutionalisierte öffentliche Gebrauch der Vernunft der Schlüssel für die Gewährleistung gleicher Freiheiten. Sobald moralische Grundsätze im Medium des zwingenden und positiven Rechts Gestalt annehmen sollen, spaltet sich die Freiheit der moralischen Person auf in die öffentliche Autonomie des Mitgesetzgebers und in die private Autonomie des Rechtsadressaten, und zwar so, dass sich beide reziprok voraussetzen. Diese komplementäre Beziehung zwischen Öffentlichem und Privatem spiegelt keine Gegebenheiten. Sie wird vielmehr durch die Struktur des Rechtsmediums begrifflich erzeugt. Deshalb ist es Sache des demokratischen Prozesses, immer wieder von neuem die prekären Grenzen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen zu definieren, um allen Bürgern in Formen der privaten wie der öffentlichen Autonomie gleiche Freiheiten zu gewährleisten." In: Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/Main 1996, S. 126 f., Hervorhebungen von mir.

(22) Phil Alden Robinson, Sneakers, USA 1991.

(23) "Die zwei Vergewaltigungen während der Brixton Riots 1985 unterstreichen diesen Punkt. In der Frauenzeitung 'Monochrome' berichtete eine Frau, wie sie als 'Kriegsbeute' behandelt wurde und beschreibt, dass sie sich sicherer fühlte, als sie gegen die Bullen kämpfte, als danach in dem polizeifreien Gebiet. Schlecht für ein befreites Gebiet ... Die Frage was wir tatsächlich tun, wenn die Bullen sich verpisst haben, ist bisher nahezu vollständig von den Straßenrevolutionären ignoriert worden." Anonymer Beitrag in Class War, "What do we do when the cops fuck off?", London 1991. Abdruck in deutscher Übersetzung in: Franck Düvell, England: Krise, Rassismus, Widerstand. Materialien für einen neuen Antiimperialismus Nr. 3, Berlin 1992, S. 189 f.

(24) Redaktion alaska, 150° West, 60° Nord. Eine Standortbestimmung jenseits vom Neuen Internationalismus, alaska 223, 12/1998.

(25) David Fincher, Fight Club. In der Romanvorlage von Chuck Palahniuk ist die Szene nicht enthalten.

(26) Maivân Clech Lâm spricht von den "magischen" Praktiken des weißen Feminismus, nämlich dem Glauben, Bezeichnungen und symbolische Handlungen könnten wichtiger sein als die dahinterstehende reale Praxis. Feeling Foreign in Feminism, Forum entwicklungspolitischer Aktionsgruppen 185/186, September 1994, S. 6 ff.

(27) Dies ist eine Stelle in meiner Abhandlung, die man leicht zum Kotzen finden kann, weil sie so widerlich abgeklärt über Kämpfe und Emotionen konkreter sozialer Emanzipation daherredet. Auch hier gilt natürlich, dass es die eigenständige Leistung konkreter Emanzipationsbewegungen und konkreter Menschen ist (und nicht der verallgemeinernden Theorie), über solche seltsamen (und oft notwendigen) Phasen inzwischen reden zu können.

Zweiter Teil, zweites Kapitel

Der Bär im großen blauen Haus, Folge "Küchenzauber".

(28) Diesen Einwand erhebt Gero von Randow in seiner ZEIT-Rezension zum "Alien"-Buch (Spehr, Die Aliens sind unter uns!. Herrschaft und Befreiung im demokratischen Zeitalter, München 1999): "Freiwilligkeit des Zusammenschlusses setze voraus, dass jeder jederzeit kündigen, aussteigen kann, und das zu einem 'vergleichbaren und vertretbaren Preis' - doch halt, sind das nicht ebenfalls normative Kriterien, und wer setzt dann die Norm?" Gero von Randow, Neues von links, ZEIT Nr.1, 29.12.1999.

(29) Der mathematische Beitrag ist der von Gödel. In der postmodernen Philosophie wird unterstrichen, dass Theorie damit unmittelbar zur Machtfrage wird: Die Frage, welche Theorie zu benutzen oder nicht zu benutzen ist, ersetzt zunehmend die Frage, was in diesem oder jenem Fall "richtig" ist. "Wissen und Macht (sind) zwei Seiten derselben Frage: Wer entscheidet, was Wissen ist, und wer weiß, was es zu entscheiden gilt? Die Frage des Wissens ist im Zeitalter der Informatik mehr denn je die Frage der Regierung." Jean-Francois Lyotard, Das postmoderne Wissen, Wien 1999, S. 35.

(30) Foucaults Diskursbegriff hebt am nachdrücklichsten die Trennung zwischen Theorie und Praxis, Begriff und Handeln, Philosophie und Alltag auf. Auf dem Weg vom Bett zur Kaffeemaschine durchschreiten wir die verschiedensten Konzeptionalisierungen bezüglich Arbeitsgesellschaft, Körpermanagement, Lustprinzip versus verschobener Bedürfnisbefriedigung, Maschinengebrauch bis hin zu den ganz simplen Annahmen, dass der Kaffee noch da steht, wo wir ihn gestern abend hingestellt haben.

(31) Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/Main 1976.

(32) Auch die herrschende Theorie und Konzeptionalisierung von Erfahrung ist nichts anderes als Übersetzung und Bündnis. Wer sich wie BILD hinstellt und tönt "Lass dich nicht täuschen", versucht das zu verschleiern. Wenn wir uns in vollständiger Übereinstimmung mit den herrschenden Konzeptionalisierungen befinden, glauben wir die Dinge zu sehen, "wie sie sind" - dabei ist das die eigentliche Ideologie.

(33) Gayatri Spivak u.a., The Post-modern Condition: The End of Politics?, in: Spivak, The Post-Colonial Critic, New York 1990, S. 17 ff.

(34) Das ist das Argument von Ernesto Laclau in "Beyond Emancipation", in: Emancipation(s), London 1996, S. 1 ff: Dass Emanzipationstheorien paradox sind, heißt nicht, dass sie nicht die Praxis verändern können. Für die marxistische Tradition ist es ein geläufiges Paradox, dass "der Erzieher erzogen werden muss", siehe Feuerbachthesen.

Zweiter Teil, drittes Kapitel

Rousseau, Abhandlung ..., S. 103.

(35) Anne Huffschmid, Die Zapatistinnen - wer sie sind und wofür sie kämpfen, in: Andreas Simmen (Hrsg.): Mexico. Aufstand in Chiapas, Berlin 1994.

(36) Der Begriff der Avantgarde hat derzeit keine gute Presse. Diese Situation ist jedoch durch und durch unbefriedigend. Es ist korrekt, sich von allen Positionen abzugrenzen, die einer Organisation ein Erkenntnisprivileg gegenüber den "Massen" zusprechen. Aber um eine andere Logik des Sozialen durchzusetzen und immer wieder weiterzuentwickeln, braucht es sehr wohl Menschen und Kooperationen, die damit anfangen; es braucht Menschen und Kooperationen, die immer wieder aufs Neue mit Formen experimentieren, die eben nicht Allgemeingut sind. Es braucht Avantgarde, in dem Sinne, wie Mamphela Ramphele es am Beispiel von Geschlechterbeziehungen formuliert: "Successful transformation of gender relationships will need more than just a theoretical understanding of the problem. It requires courage and the determination to take risks, because there is no possibility of growth without pain. Both men and women will have to confront their own fears of exchanging the known for the unknown, and put tradition at risk before a new pattern of gender relations can emerge." (Mamphela Ramphele, The Dynamics of Gender Within Black Consciousness Organisations. A Personal View, in: Barney Pityana u.a., Bounds of Possibility. The Legacy of Steve Biko and Black Consciousness, Kapstadt 1991, S. 227.) räzise das ist der schale Nachgeschmack des rituellen der-Avantgarde-Abschwörens: dass sich dahinter in Wahrheit Unsicherheit und Unbeweglichkeit verbirgt. Dass die Bereitschaft fehlt, die Risiken einzugehen, die es erfordert, "gleicher als andere" sein zu wollen.

(37) Es ist die typische Verachtung des Menschen und des Sozialen, dass heutzutage Börsen "empfindlich" sein dürfen, während Menschen "belastbar" sein sollen; dass man an den ach so "komplexen" Wirtschaftskreisläufen möglichst nicht herumdrehen darf, während man glaubt Menschen problemlos "flexibel" herumschieben zu können.

Dritter Teil

Janet Jackson, FreeXone, auf: The Velvet Rope.

(38) Roger Burbach, Orlando Núnez und Boris Kagarlitsky, Globalization and its Discontents. The Rise of Postmodern Socialisms, London 1997. Laclau und Mouffe sprechen von "postmarxistisch", im Doppelsinn von "jenseits des Marxismus" und "Weiterentwicklung des Marxismus". Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 1991.

(39) vgl. Spehr, Zur Erneuerung linker Perspektiven oder Was heißt Antikapitalismus heute? Vortrag auf dem Neoliberalismus-Symposium des AStA der Uni Oldenburg, 14.11.99 (masch.)

(40) vgl. Spivak, s. Anm. 33.

Dritter Teil, erstes Kapitel

Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, V 89, Stuttgart 1966.

(41) Die Diskussion um "strukturelle Nichtangriffsfähigkeit" ist eine der Debatten aus der Zeit des Kalten Krieges, die mit dem Übergang zur "Neuen Weltordnung" nahezu spurlos verschwunden sind, obwohl sie nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hätten.

(42) Bei einem Komapatienten versuchen wir zu rekonstruieren, welche Entscheidungen er wohl getroffen hätte; dies ist eine extreme Situation. Dagegen gibt es viele Möglichkeiten, wo Menschen für andere in ihrer Artikulation nicht hinreichend greifbar erscheinen, wir aber auf kollektive Artikulationen zurückgreifen können, die allemal besser sind als unser eigenes Gutdünken. Natürlich gibt es kleine Kinder, mit denen wir nicht beliebig disputieren können, aber es gibt auch größere Kinder, die uns klarmachen können, wo wir mit unserem Rationalitätskonzept falschliegen. Es gibt eine Krüppelbewegung, mit der wir uns auseinandersetzen sollten, bevor wir über jemandes Kopf hinweg entscheiden, dessen Artikulation wir ungenügend verstehen. Kollektive Artikulationen werden immer weggedrückt, wenn das billige Argument vorgeholt wird, "wir wissen doch eh nicht was die wollen" - Frauen, Chinesen, Außerirdische ...

(43) Wenn wir eine Liebesbeziehung beenden, brauchen wir keine Angebote mehr zu machen; außer wir haben Kinder, weil es für die auf längere Zeit nämlich keine vergleichbare und vertretbare Alternative zu uns gibt. ("So don't forget, folks / That's what you get, folks / From makin' whoopee.")

(44) Das ist immer wieder der entscheidende Unterschied - zwischen Gesetzen, wie groß das Klo im Betrieb sein muss, und institutionalisierten Formen von Arbeiterkontrolle, also direktem Einfluss der Arbeitenden auf die Regeln und Prozesse in der Fabrik; zwischen Lohn für Hausarbeit und Formen der Absicherung von Frauen, die ihren Hausarbeitsplatz hinter sich lassen.

(45) Nicht jede Kooperation hat einen Haushalt; aber alles, was einen Haushalt hat, ist auf jeden Fall eine Kooperation.

(46) Landbesetzung ist in solchen Fällen das Pendant zum Kampf um ein qualitativ ausreichendes Existenzgeld hierzulande. Das Argument, eine existenzsichernde Landverteilung lasse keine Spielräume mehr für größere Projekte übrig, die "größeren Projekte" seien aber auch nicht in der Lage, durch soziale Zusatzleistungen eine allgemeine Existenzsicherung zu finanzieren, ist nichts anderes als das Eingeständnis, dass man eine "Entwicklungspolitik" als kapitalschaffende Verelendungspolitik betreiben möchte - was ja auch oft der Fall ist. - Die Ausführungen zum "Abbau von Verfügbarkeit" nehmen hier stark die Situation in demokratisch-kapitalistischen Industrieländern zum Ausgangspunkt, sie sind jedoch nicht darauf beschränkt. In einem realsozialistischen System als Ausgangslage hätten wir es mit staatlich gegründeten und kapitalisierten Betrieben zu tun; wenn wir hier die Interpretation des Betriebs als freie Kooperation umsetzen wollten, wäre entsprechend der Staat als "stiller Anteilseigner" zu behandeln, der eine Einlage tätigt, aber die Regeln nicht diktieren kann. Auch auf agrarisch dominierte Systeme lässt sich die hier eingeforderte Auffassung und Transformationslogik anwenden, die sich unter Agrarreform eben weder Parzellierung noch ausschließlich "effizienzorientierte" Kombinate mit hierarchischer Regelvorgabe vorstellt.

(47) Das MAI (Multilateral Agreement on Investment), dessen Entwurf 1997/98 für weltweite Proteste sorgte und das daraufhin vorläufig zurückgestellt wurde, zielte genau darauf ab, den Zielländern von Auslandsinvestitionen jede Verhandlungsmöglichkeit und Gestaltungsmacht zu nehmen. Vgl. Maria Mies und Claudia von Werlhof (Hrsg.), Lizenz zum Plündern, Hamburg 1998.

(48) Schöne Definition zur Unterscheidung formaler und prekärer Arbeit, von Solomon Quaye, Taxifahrer in Berlin: "Als ich nach Deutschland kam, hatte ich erst nur Jobs, bei denen ich schon um Erlaubnis bitten musste, wenn ich mal pinkeln wollte." SPIEGELreporter, 10/2000, S. 47.

(49) Richard Douthwaite, Short Circuit. Strengthening Local Economies for Security in an Unstable World, Dublin 1996.

Dritter Teil, zweites Kapitel

Libreria delle donne di Milano, Wie weibliche Freiheit entsteht, S. 147.

(50) Kafka beschreibt die Moderne als eine soziale Welt, in der es kein Verhandeln gibt. Das macht das Grauen aus, das wir in der Welt empfinden, wie er sie beschreibt. Die postmoderne Kritik macht dagegen das Verhandeln zur zentralen Praxis. Es ist die "positive" Konsequenz aus der "negativen" Bestreitung von absoluten Geltungsansprüchen. - Wenn wir etwas zu verhandeln haben, haben wir wenigstens einen Grund, auf dem wir stehen können. Deshalb beschreiben Gefangene, dass sich ihre persönliche Situation durch den ersten Hungerstreik nachhaltig verändert hat, dass er sie buchstäblich gehindert hat verrückt zu werden. Das moderne "Verhandelt wird nicht" hallt nach bis in die "Fortezza"-Politik, die sich die NATO-Staaten in der Auseinandersetzung mit dem politischen Terrorismus der 70er gegenseitig verordneten.

(51) vgl. das Baby-Blues-Kapitel in Spehr, Die Aliens sind unter uns!, München 1999 ("Jenseits der Hormone", S. 237 ff.)

(52) vgl. Gustavo Esteva, Entwicklung, in: Wolfgang Sachs (Hrsg.), Wie im Westen so auf Erden, Reinbek 1993, S. 107 ff.

(53) vgl. Gérald Berthoud, Markt, in: Wolfgang Sachs, vgl. Anm. 50, S. 218 ff.; Karl Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt/Main 1978.

(54) bell hooks, Postmodernes Schwarzsein, in: Sehnsucht und Widerstand, Berlin 1996, S. 41 ff.

(55) "Eine Anerkennung der Differenzen zwischen den Individuen der Diaspora ist nur möglich, wenn das binäre Muster von Ich und Nicht-Ich aufgebrochen wird. Ich meine, man muss nicht hingehen, um es zu finden." Kobena Mercer, Unterm Teppich. Homosexualität als Focus schwarzer Politik und Ästhetik, alaska 215, September 1997, S. 37.

Dritter Teil, drittes Kapitel

Octavia Butler, Rituale, 3.Band der "Xenogenesis"-Trilogie. Deutsche Ausgabe in einem Band: Butler, Die Genhändler, München 1999, S. 337.

(56) Das ist es, worauf Spivak hinauswill, wenn sie sagt: "Try to behave as if your are part of the margin" (und hinzufügt: "In the language of commercials, one would say: Try it, you might like it."). Spivak, The Post-Modern Condition, s. Anm. 33, S. 30.

(57) Ebenda, ebenso in Spivak, Criticism, Feminism, and The Institution, in: The Post-Colonial Critic, s. Anm. 33, S. 9. Unsere Privilegien verlernen und als Defizite erkennen, bedeutet erstens, dass wir uns klarmachen, dass wir Privilegien haben, das heißt von der Unterdrückung und dem Ausschluss anderer real profitieren; zweitens, dass wir verstehen, wie diese Privilegien uns in unserem Weltverständnis und unserer Kooperation mit anderen subjektiv behindern und verdummen; drittens, dass wir mit anderen zusammen die betreffende Privilegienstruktur in der gesellschaftlichen Realität abzutragen versuchen. Wenn wir eines dieser Elemente auslassen, wird es schief.

(58) Es gibt, finde ich, keine brauchbare deutsche Übersetzung von leadership.

(59) Steve Biko, What is Black Consciousness? in: I Write What I Like, Oxford 1987, S. 99 f.

(60) "Selbstbeauftragung" ("autoincarico) heißt, wenn man den Berichten glauben darf, eine kreative Praxis italienischer Handwerker, reparaturbedürftige Objekte selbst zu entdecken, auf eigene Faust instand zu setzen und den Besitzern dann eine Rechnung zu stellen. Letzteres lässt sich allerdings aus der Theorie der freien Kooperation nur sehr bedingt rechtfertigen. Werner Raith, Handwerkers Gewinnsteigerung, taz Nr. 4116, 20.09.1993.

(61) Die Lektüre der gesamten Trilogie (s. Anm. vor 56) ist unbedingt zu empfehlen; in meiner Sichtweise handelt sie von vielem, wovon auch dieser Essay hier handelt. Schon die erste Szene handelt vom (erfolglosen) Versuch zu verhandeln, und Fragen des Verhandelns, der freien und der erzwungenen Kooperation, der Regeln und ihrer Veränderung, durchziehen die gesamte Trilogie. Die Bilder, auf die hier angespielt ist, sind: die Angleichung, die die konstruierten Ooloi an ihre menschlichen Gefährten erfahren, bzw. die völlige Selbstauflösung, die Aaor erfährt (S. 804 f.); die chemische Bindung, die zwischen Ooloi und ihren PartnerInnen entsteht; das Hadern von Lilith mit der Tatsache, dass sowohl ihre persönliche Kooperation mit Nikanj, als auch ihre gesamte Kooperation mit den Oankali aus einer Situation erzwungener Kooperation hervorgegangen ist (S. 328).

(62) Andy und Larry Wachowski, The Matrix, Szene im "Konstrukt".

Dritter Teil, viertes Kapitel

Claudia Bernhard, Kritik der historischen Demokratie, in: Schwertfisch (Hrsg.), Zeitgeist mit Gräten. Politische Perspektiven zwischen Ökologie und Autonomie, Bremen 1997, S. 222.

(63) Zur begrifflichen Unterscheidung von Macht und Herrschaft siehe Spehr, Die Aliens sind unter uns, s. Anm. 28, S. 104.

(64) Der Gedanke der Chancengleichheit beruht darauf, die herrschenden Regeln und die durch sie erzeugte Welt zu retten, indem man "Ausnahmen" macht - das Spiel soll dasselbe bleiben, nur dass alle Hütchen vom selben Feld starten. Weil aber einige der Hütchen das Spiel entworfen und gestaltet haben, passen seine Regeln gut für diese Hütchen und weniger gut für andere Hütchen, die das Spiel nicht entworfen und nicht gestaltet haben; so dass dieselben Hütchen gewinnen wie eh und je. In der Praxis versucht eine Politik der Chancengleichheit allerdings nicht einmal, alle vom selben Feld starten zu lassen (was ja hieße, dass jede Generation mit einer vollkommen nivellierten Einkommens-, Eigentums- und Verfügungsstruktur startet), sondern begnügt sich damit, einige von den weiter hinten startenden Hütchen ein bisschen weiter an die vorn startenden Hütchen heranzurücken.

(65) Die ausgleichende Ungerechtigkeit ist nicht nur ein symbolischer Akt, wie Cheryl Benard es anhand des absoluten Redeverbots für Männer auf der ersten "Women's Rights Convention" in Salem 1850 darstellt: "Vieles an der Vorgehensweise oppositioneller Bewegungen scheint dieses Ziel zu haben: den Übergeordneten die Erfahrung der Unterdrückung, des Pauschalurteils, des Vorurteils, der Gewalt, die den einzelnen, die einzelne nicht als Person, sondern als Mitglied einer fremddekretierten Kategorie trifft, zu vermitteln - und mit der Erfahrung die Empathie, die Kritikbereitschaft, die Einsicht." (Bernard, Die geschlossene Gesellschaft und ihre Rebellen. Die internationale Frauenbewegung und die Schwarze Bewegung in den USA, Frankfurt/Main 1981, S. 190) Es geht nicht um pädagogische Akte, sondern um sehr materielle Aspekte. Angehörige der privilegierten Gruppe sind wie Altöl: ein Tropfen davon kann die Debatte eines ganzen Saals ruinieren.

(66) Vgl. Argument 213 "Political Correctness", Januar 1996.

(67) Ludovica Scarpa, Es lebe der Staatsbankrott. Es lebe Italien! Ästhetik und Kommunikation 93, Oktober 1996, S. 45.

Dritter Teil, fünftes Kapitel

Audre Lorde, Zwangsheterosexualität und lesbische Existenz, in: Adrienne Rich und Audre Lorde, Macht und Sinnlichkeit. Ausgewählte Texte, Berlin 1983, S. 160.

(68) Spivak, The Post-modern Condition, s. Anm. 33, S. 22. Spivak sagt, sie zitiere damit Derrida, die Stelle ist mir aber nicht bekannt.

(69) Das bekannte zapatistische Zitat lautet: "Es ist nicht nötig, die Welt zu erobern; es genügt, dass wir sie neu erfinden."

(70) Das "Ökonomische" ist hier nicht ausgeklammert. Die Nennung "ökonomischer" Auseinandersetzung legt jedoch die irrige Annahme nahe, alle anderen Auseinandersetzungen seien nicht-ökonomische. Nach der hier vertretenen Auffassung von Ökonomie sind jedoch alle Auseinandersetzungen um Regeln immer auch ökonomische, denn sie handeln immer auch von der Verteilung und Verfügung gesellschaftlichen bzw. kooperativen Kapitals.

(71) Jacques Derrida, Bemerkungen zu Dekonstruktion und Pragmatismus, in: Chantal Mouffe (Hrsg.), Dekonstruktion und Pragmatismus. Demokratie, Wahrheit und Vernunft, Wien 1999, S. 183.

(72) Ich habe keine abschließende Meinung zur begrifflichen Überschneidung von "Intervention" im Sinne dieses Abschnitts und im Sinne des 1. Kapitels ("Intervention verhindern"). Einerseits handelt es sich einfach um das gleiche Wort für zwei verschiedene Sachverhalte, aber so wird es nun mal gebraucht. (Es ist eine bedeutsame Verschiebung, dass heute zunehmend von "Intervention" statt von "Aktion" gesprochen wird, wenn es um politische oder künstlerische "Eingriffe" geht; eine Verschiebung, die mir auf etwas Richtiges im Sinne dieses Kapitels hinzuweisen scheint.) Andererseits ist die begriffliche Überschneidung vielleicht nicht rein zufällig und weist doch auf Ähnlichkeiten hin. Auch die moderne Interventionspolitik der Macht - militärisch, ökonomisch, symbolisch - verfolgt ja zunehmend ein Konzept, das nicht effektiv die Regeln ändern und dafür in der Verantwortung stehen will - man bombardiert Bagdad und Belgrad, aber man will das Land nicht besetzen; man streicht ökonomische Garantien, aber überlässt es der Gesellschaft, wie sie damit umgeht; man stellt mit viel Geld und Macht im Rücken öffentlich sogenannte "unbequeme Fragen" und "fordert gesellschaftliche Tabus heraus", ohne sich auf die Ergebnisse festzulegen. Über diese Ähnlichkeit zwischen der Interventionspolitik der Macht und der Intervention als kritischer Artikulation nachzudenken, könnte dann dazu führen, auch die eigenen "Interventionen" immer wieder kritisch darauf zu durchleuchten, wo sie Elemente von Gewalt, Dominanz und Ignoranz gegenüber den Beteiligten oder "Adressaten" enthalten.

(73) Audre Lorde, The Transformation of Silence into Language and Action, in: Sister Outsider. Essays and Speeches, Freedom 1984, S. 41.

(74) Politische Organisierung erfordert daher auch einen gewissen Respekt vor der Tatsache, dass es schwierig ist etwas auszudrücken, das nicht der Logik der herrschenden Verhältnisse entspricht. Das ist der subtile, infame Sinn der BILD-Werbung: "Wer etwas Wichtiges zu sagen hat, macht keine langen Sätze." Wer mit den herrschenden Regeln vollständig übereinstimmt und auf den Privilegien schwimmt, die sie verleihen, kann sich in der Tat leicht kurz fassen. Wo es um die Äußerung von Kritik und emanzipativen Ansprüchen geht, müssen wir uns dagegen schon die Mühe machen, einander auch mit etwas Anstrengung zuzuhören und zu verstehen versuchen.

(75) Die Marxsche Formulierung ist die von den Verhältnissen, denen man ihre eigene Melodie vorspielt, um sie zum Tanzen zu bringen; was mir aber die existenzielle Dimension für die im Schweigen gefangenen Individuen zu wenig ausdrückt. Wir müssen uns den gesamten Prozess heute in der Tat weit mehr als ein schwieriges, "testweises", nicht objektiv ableitbares Wagnis vorstellen.

(76) Libreria delle donne di Milano, Wie weibliche Freiheit entsteht, s. Anm. 19, S. 141.

(77) Darüber löst sich auch das bekannte Paradox, welche Motivation wir haben können, uns positiv auf eine Sache zu beziehen, die unsere eigenen Privilegien angreift und abschaffen will (z.B. unsere Privilegien als Männer, Weiße, Heteros/as, nach Geburtsland und nach Einkommen/Besitz usw.). Es hat einen individuellen Nutzen für uns, es ist nur nicht "rational" nach den herrschenden Regeln und der herrschenden "Vernünftigkeit"; und wenn es das ist, dann ist es falsch. Die Frage, die mit stetigem Misstrauen zu prüfen und "überwachen" ist, ist also nicht die, ob eine solche Motivation möglich ist, sondern die, ob der individuelle Nutzen, der hier gewonnen wird, der richtige ist (und nicht eben doch einer der modernen Ausbeutung, des raffinierten Vorsprunggewinnens und der "aufgeklärten" Selbstaufbesserung, um besser weitermachen zu können wie bisher).

(78) Auch hier soll nicht der Eindruck erweckt werden, auf konkrete Emanzipationsprozesse herabzuschauen. Es gibt viele Gründe für unmittelbares Handeln, aktive Selbstverteidigung, eruptive Prozesse und persönliche Unbedingtheit. Es gibt meist keine "gelassene" Form, Regeln zu brechen und in Frage zu stellen. Aber politische Organisierung, wie sie hier verstanden wird, geht darin nicht auf und bezeichnet eine zeitgleiche, andere Ebene, ohne die es eben auch nicht geht.

Danke

An Claude, der gut die Hälfte von dem geschuldet ist, was ich schreibe, auch wenn ihr nur etwa ein Drittel davon gefällt; und die mich mehr oder weniger erträgt, wenn ich schreibe, obwohl sie selber nie mehr als 30.000 Zeichen braucht.

An Renée und Alexander für Anschauungsunterricht in Sachen freie Kooperation. An Heike und Nina, ohne die ich wahrscheinlich nicht fertig geworden wäre. An diejenigen, die mir in der letzten Zeit Diskussionen und Lesungen ermöglicht haben, allen voran die FreundInnen des Maquis.

Und an die Stiftung, die, eine freundliche Geste gegenüber allen AutorInnen, Rousseaus zweite Abhandlung zum Vorbild genommen hat - die, die nicht "gewonnen" hat.


Copyright (c) 2001 Christoph Spehr


Quelle: http://www.opentheory.org/proj/gleicher1/v0001.phtml