...zum möglichen Naziaufmarsch am 1. Mai 2002 in Göttingen

danach ist davor

Diskussionsbeitrag der Autonomen Antifa [M] zum 16.6.2001 in Göttingen

Der Blick zurück ist immer auch ein Blick nach vorn!

Für den 1. Mai 2002
haben NPD und "Freie Kameradschaften" zu Aufmärschen in Berlin, Frankfurt/M, Nürnberg, Dresden und -das ist Anlaß dieses Papieres- auch nach Göttingen aufgerufen. Grund genug für uns die Diskussionen um die Erfahrungen mit (versuchten) Naziaufmärschen in Göttingen und mögliche Aktionsformen, zunächst regionalpolitisch, wieder aufzunehmen. Wir haben unsere gruppeninternen Diskussionen nach dem 16. Juni 2001 bisher nicht veröffentlicht: Es war einiges los im Sommer/Herbst 2001 und zugegeben: Uns fehlte auch die Motivation. Zum Thema hier nun ein Zusammenschnitt von Rückblicken und Einschätzungen der Autonomen Antifa [M].

Faschistische Aufmärsche
sind auf Grund ihrer Durchsetzung durch den Polizeistaat in der Regel nicht zu verhindern. Realistisch ist, den Preis für Naziaufmärsche bei Staat und Faschisten in die Höhe zu treiben und entlang der sich daran ergebenden Konflikte die Ausgangsbedingungen für linksradikale Politik zu verbessern. In Göttingen hatten für uns diese Grundüberlegungen die verschiedensten öffentlichen Aktionsstrategien und Bündniskonstellationen zum Ergebnis: Am 6.11.1999 eine gemeinsame Demo mit dem bürgerlichen Bündnis. Am 29.1.2000 eine eigene Auftaktkundgebung und eine Demo im linksradikalen Unibündnis zur gemeinsamen Abschlußkundgebung des Bürgerbündnisses, hier drang eine vermummte Rednerin der Autonomen Antifa [M] in die mediale Öffentlichkeit. Am 15.4.2000 eine linksradikale Bündnisdemo. Am 15.7.2000 die kulturpolitische Initiative "fett gegen Nazis". Am 20.4.2001 während des Antifakongresses 2001 "in der Mittagspause Kontakt aufnehmen".

Eine Beteiligung an den bürgerlichen Antifabündnissen unter Leitung des DGB war und bleibt für uns zweifelhaft. Richtig, um die eigene Politik zu vermitteln und den eigenen Handlungsspielraum zu erweitern. Falsch, weil die radikale Linke hier schlechtesten Falls zum Schmiermittel für einen reibungslos laufenden Standort Deutschland verkommt. Jeder radikal kritische und emanzipatorische Gehalt kann im Bündnis für ein besseres Deutschland mit DGB, Grünen und Sozialdemokratie untergehen. Diesem Vorwurf muß sich die Antifabewegung der 90er Jahre latent stellen, spätestens seit dem Antifasommer 2000 hilft da kein Achselzucken. Inhaltlich sind wir im vergangenen Jahr dieser Problemstellung begegnet, indem wir unter der Parole "fight racism. smash capitalism" verschiedene Spielarten von völkischem- und Verwertungsrassismus als verbindende Ideologie zwischen Neonazis und gesellschaftlicher Mitte ins Zentrum unserer Kritik gerückt haben. Um diese Stoßrichtung mit praktischer Politik zu untermauern, hat sich eine gekoppelte Mobilisierung gegen den Besuch des bayrischen CSU-Innenministers Günther Beckstein am 30. Mai und gegen den Naziaufmarsch am 16. Juni angeboten.

Hoch gepokert
haben wir vor dem Hintergrund unserer oben skizzierten politischen Analyse, am 16. Juni 2001 der radikalen Linken einen eigenständigen Ausdruck zu verschaffen: Eine unabhängig vom bürgerlichen Bündnis frühzeitig auf dem Unicampus beginnende Demo, mit dem erklärten Ziel, sich in Richtung der Nazis zu bewegen. Hier ist niemand unwissentlich "verheizt", kein anderes Konzept behindert worden. Die Alternative war und bleibt auch in Zukunft einen Großteil des hier mobilisierten Spektrums politisch aufzugeben und dem liberalen Bürgertum zu überlassen. Dass es gelungen ist, an dieser Frage das politische Kräfteverhältnis in Göttingen zu dokumentieren, bewerten wir als einen Erfolg des Tages.
Die Mehrzahl der 2.000 Menschen auf dem Unicampus hätten sich nicht in Kleingruppen organisiert und an einer Autobahnraststätte den Nazis aufgelauert. Wer das will und dazu in der Lage ist, der konnte und kann das tun. Mit der/dem stehen wir nicht im Widerspruch, sondern für die/den haben wir wie ein Magnet die Bullen angezogen und für diese Art militanten Antifaschismus bieten wir uns medial als politischer Ausdruck an. Wenn, wie bei jedem alltäglichen Kleinstadtnaziaufmarsch üblich, in Göttingen die Nazis weder nennenswerten Personen- noch Sachschaden zu beklagen hatten, fragen wir uns -auch für die Zukunft- was hier das zum Teil großspurige Gerede von dezentralen Konzepten und Strukturen sollte. Außer Selbstdarstellung nichts gewesen. Wir haben politisch nachvollziehbar Verantwortung übernommen.
Tief gefallen sind wir auf Grund unserer offensichtlichen Fehleinschätzung bezüglich der Eskalationsbereitschaft der Polizeiführung. Die Demonstration wurde noch auf der angemeldeten und genehmigten Route auf der Berliner Straße angegriffen und eingekesselt; buchstäblich zerschlagen. Dem hatten wir nichts entgegenzusetzen. Das Problem besteht dabei nicht darin, dass es nicht tatsächlich gelungen ist zwei, drei, viele Polizeisperren zu durchbrechen, um dann vor den gesellschaftlichen Randakteuren der NPD zu stehen. Ähnlich wie der innige Wunsch von GlobalisierungskritikerInnen etwa "die Absperrungen einer roten Zonen zu überwinden, um dann..." hinterlässt diese Perspektive Fragezeichen bei der militärischen Unmöglichkeit in Deutschland/2001 und der personalisierten Analyse von Gesellschaft, die bestenfalls reformistisch intervenierende Folgen haben kann. Uns geht es darum in der Konfrontation mit dem Staat gesellschaftliche Konflikte zuzuspitzen und offen erkennbar zu machen, Bewußtsein zu schaffen anstatt es zu verschütten; zu polarisieren und bei den Einzelnen die Notwendigkeit und Möglichkeit zur Positionierung, den radikalen Bruch mit den Verhältnissen zu provozieren. Das ist uns am 16. Juni 2001 nicht gelungen. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Demo wurde die Aussichtslosigkeit ihres Unterfangens schmerzhaft vor Augen geführt. Die Konsequenz des Vormittags hieß Rückzug und nicht "es lohnt sich zu kämpfen". Darin liegt unser politisches Scheitern am 16. Juni 2001. Darum werden wir ein solches Konzept so nicht wiederholen.

Winner No.1
waren damit Polizei und Ordnungsbehörden. Hüter der Ordnung, einer jeden Führung zu Diensten, hier: Der repressive Flügel des rot/grünen Projektes. Ausdrückliches Anliegen von Polizeichef Friedrich Niehörster, Oberstaatsanwalt Hans-Hugo Heimgärtner und Oberbürgermeister Jürgen Danielowski, Seite an Seite in der Einsatzleitstelle anwesend, war es eine Konfrontation zwischen "linken und rechten Extremisten zu verhindern" und "einen geordneten Ablauf der verschiedenen Veranstaltungen zu gewährleisten". Das ist ihnen gelungen. Jeder Gedanke an Widerstand, der sich außerhalb der ausdrücklich erwünschten Zivilcourage bewegte, wurde im Ansatz unterbunden. Die dafür notwendig erachtete Staatsgewalt, musste sich im nach hinein keiner bedeutenden Kritik unterwerfen.

Das solidarische Verhalten
einer Mehrheit der 2.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der bürgerlichen Kundgebung am Bahnhofsvorplatz hat dazu geführt, körperlich und juristisch Schlimmeres zu verhindern. Bereitgestellte Wasserwerfer wurden wieder vom Polizeikessel auf der Berliner Straße abgezogen, der Lautsprecherwagen des linksradikalen Antifabündnisses nicht beschlagnahmt, die Festnahmen durch Greiftrupps eingestellt und der Polizeikessel schließlich geöffnet. Politisch wurde hier allerdings gewaltsam das durchgesetzt, was im Vorfeld vom linksradikalen Antifabündnis und den 2.000 Antifaschistinnen und Antifaschisten der "Campusdemo" verweigert wurde: Das Einreihen in die Zivilgesellschaft. Weder die Uhrzeit, noch die tatsächlichen Polizeiabsperrungen hielten die Mehrzahl der Portestierenden jetzt davon ab, auf die Westseite der Stadt "zu den Nazis durchzusickern". Offenbar waren jedoch viele dermaßen erleichtert noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen zu sein, dass sie das Angebot sich doch noch in den Umzug der Zivilgesellschaft, weg von den Nazis (und der Konfrontationen mit der Staatsgewalt) zur Stadthalle zu ziehen, angenommen haben. In dieser symbolhaften Geste konstituierten sich die Gewinner No. 2 des Tages: Das bürgerliche Antifabündnis in der Rolle des besseren Deutschlands, der Zivilgesellschaft, des liberalen Flügels des rot/grünen Projektes.

Looser of the day
blieben die Nazis. Kaum 500 wackere Kameraden wagten sich nach Göttingen, um schon nach wenigen hundert Metern den Kniefall vor einer antifaschistischen Sitzblockade am Hagenweg zu üben. Die Polizei griff diesen Fingerzeig couragierter Antifaschistinnen und Antifaschisten auf, um die ungeliebten Nazis vorzeitig nach Hause zu geleiten. Als ein NPD-Kreisverband einmal eine "rote Hochburg" einnehmen wollte, mußte dieser feststellen, dass das im eigenen Lager nur wenige vom Hocker riss und nur unter enormen Polizeischutz möglich war. Das reale Kräfteverhältnis "auf der Straße" bleibt in Göttingen nach dem 16. Juni 2001 ebenso eindeutig zu Ungunsten der Nazis fest geschrieben, wie ihre gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit.

In einer Presseerklärung zu den Ereignissen des Tages schrieben wir am 16.6.2001: "Die Faschisten haben heute höchstens einen Fuß in die Tür bekommen. Wir werden auch zukünftig dafür sorgen, dass ihnen diese Tür gehörig vor den Kopf knallt." Dem bleibt nichts hinzuzufügen.

Autonome Antifa [M]
im Februar 2002

 

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