Redebeitrag vom 2.10.98, Göttingen

Liebe Freundinnen und Freunde,

liebe Genossinnen und Genossen,

Hallo!

Heute, am Vorabend der nationalen Jubelfeiern zum 3. Oktober in Hannover, demonstrieren wir hier in Göttingen unter dem Motto " Solidarisch kämpfen - dem rechten Vormarsch entgegentreten". Für uns gibt es auch 9 Jahre nach der sogenannten "Wiedervereinigung" keinen einzigen Grund, an diesem Tag zu feiern. Im Gegenteil!

Den Herrschenden ist es in den letzten Jahren gelungen, in weiten Teilen der Gesellschaft einen rechten Konsens herzustellen. Unter dem Deckmantel der sogenannten "Inneren Sicherheit" wird auf die verschärfte soziale Lage vieler Menschen zunehmend mit Ausgrenzung und polizeilichen Maßnahmen reagiert. Grundrechte werden eingeschränkt oder ganz abgeschafft.

Dabei werden heute von CDU bis SPD Stammtischparolen verwendet, die vor wenigen Jahren nur bei Parteien wie NPD oder Republikanern zu finden waren. Daher verwundert es auch nicht, daß faschistische Parteien bei der Bundestagswahl vom letzten Sonntag keine dramatischen Wahlerfolge feiern konnten. Ihre "Sündenbock-Politik" ist längst politischer Alltag geworden, von Edmund Stoiber bis Gerhard Schröder.

Dennoch stellen die Faschisten nach wie vor eine ernstzunehmende Größe dar. In den letzten Monaten fand an fast jedem Wochenende ein Nazi-Aufmarsch statt, zuletzt in Rostock und in Passau mit mehreren Tausend Teilnehmern. Das Mobilisierungspotential der Nazis wächst und stellt eine reale Bedrohung für viele Menschen dar. Flüchtlinge, Obdachlose, sozial Ausgegrenzte - also genau die Menschen, die auch durch den Staat ausgegrenzt und aus der Öffentlichkeit verdrängt werden.

Unsere Antwort darauf lautet: Solidarisch kämpfen - dem rechten Vormarsch entgegentreten!

Doch Solidarität ist mehr als nur ein Wort. Solidarität äußert sich im Alltag, heißt eingreifen statt wegschauen! Heißt auch, für eine solidarische Gesellschaft zu kämpfen, in der nicht ein Arbeitsplatz oder ein voller Geldbeutel allein darüber entscheidet, ob jemand genügend zu Essen, Kleidung oder ein Dach über dem Kopf hat.

Viele Menschen erwarten sich mehr soziale Gerechtigkeit durch den Wahlsieg der SPD und einen Kanzler Gerhard Schröder. Nun, wir dürfen gespannt sein auf die "neuen Ideen" von Herrn Schröder. Denn bereits vor Schließung der Wahllokale stand der eigentliche Sieger der Wahl fest: Das Kapital in der BRD, das auch in Zukunft nicht um seine Profitraten bangen muß.

Hier ein Zitat aus der Frankfurter Rundschau, 2 Tage nach der Bundestagswahl:

Zitat: " Im Erdgeschoß des höchsten Bürohauses Deutschlands steigt eine Party von 500 Finanzstrategen. Die Stimmung ist gedrückt, doch unterkriegen läßt sich niemand. Der Dresdner Bank Vorstand Ernst-Moritz-Lipp faßt das Credo (...) in Worte: "Deutschland ist ein Supertanker, und im Führerhäuschen sitzt nicht der Bundeskanzler, sondern die Leute, die hier auf dem Podium sind!". Zitatende.

Deutlicher kann nicht gesagt werden, wer hier tatsächlich über die Politik bestimmt.

Doch die Tanker-Kapitäne befinden sich in einem Dilemma.

Durch den stetigen Fortschritt der Technologie können mit weniger Arbeitsplätzen immer mehr Waren produziert werden. Bei dieser Entwicklung stehen wir erst ganz am Anfang, so daß in Zukunft immer mehr Menschen für den Profit der herrschenden Klasse "überflüssig" werden.

Weil der Mensch aber gerne existieren möchte, wird die Kluft zwischen denen, die am Reichtum der Gesellschaft teilhaben können, und denjenigen, die für das System nutzlos geworden sind, immer größer. Eine Strategie der Einschüchterung ist die Antwort der Herrschenden auf diesen im Kapitalismus selbst angelegten Widerspruch..

Sie tritt in Form zunehmender Gewalt gegen die auf, die das "saubere Stadtbild", den Kaufrausch der Besitzenden in den Konsummeilen, stören: In Polizeiübergriffen auf Flüchtlinge, Obdachlose, Straßenkids oder auch auf Demonstrationen wie diese!

Eine andere, nicht weniger brutale Seite der Medaille, ist die Wiedereinführung von Zwangsmaßnahmen für Langzeitarbeitslose und SozialhilfeempfängerInnen. Sicherlich ein Paradebeispiel für sozialdemokratische Befriedungspolitik, das Gerhard Schröder bereits zur Senkung der Arbeitslosenzahlen in Aussicht gestellt hat.

Nach dem Motto: "Wer nichts zu beißen hat, der soll sich auch sonst nicht langweilen!" werden wohl in Zukunft immer mehr Menschen bei einem prächtigen 3 DM-Stundenlohn ihre Zeit vertreiben, um bloß nicht auf dumme, möglicherweise revolutionäre Gedanken zu kommen!

Wie eingangs erwähnt, gibt es für uns unter diesen Umständen keinen Grund zum Feiern. Was wir tun können, ist uns zusammenzuschließen, zu wehren, uns zu organisieren!

So lange es gesellschaftliche Verhältnisse gibt, in denen "der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist" (Zitat Karl Marx),

solange jeden Tag aufs neue kapitalistische Barbarei produziert wird,

solange wird es auch den weltweiten Kampf um Befreiung, für eine sozialistische Perspektive geben, dessen Teil wir sind.

Erst wenn dieser Kampf gewonnen ist, werden wir feiern - ein Leben lang!

Autonome Antifa (M), 2. Oktober 1998