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Nachrichten aus Deutschland und der Welt vom 22. Januar 1996


"Ein Schock, sollte es einer von uns sein"

Afrikaner in Lübeck: Die neuen Erkenntnisse ändern nichts an der großen Trauer

Lübeck (AP/EB) Die Stimmung unter den Afrikanern im Lübecker Flüchtlingsheim Rabenstraße ist düster: In der Vorhalle sitzen sieben Männer, sie rauchen schweigend. Wenn Reporter sie ansprechen, wehren sie ab. "Nein, ich glaube nicht, daß es der Libanese war", sagt einer. Seinen Namen will er nicht nennen, er sei aus Kiel gekommen, um bei seinen Freunden zu sein. In einem Zimmer steht Joao Bunga aus Angola. Er verlor Frau und eine Tochter bei dem Brand am Donnerstag. Auch er will nichts sagen. Die sieben anderen Afrikaner, die in dem kleinen Zimmer sitzen und rauchen, machen klar, daß man unter sich sein will.

Es scheint, als hätte die Nachricht vom Tatverdacht gegen den 21jährigen Hausbewohner aus dem Libanon die Flüchtlinge noch tiefer in Verzweiflung gestürzt. "Die neuen Erkenntnisse ändern nichts an der großen Trauer", sagte der Senegalese Bacar Gadji am Rande der Polizeipressekonferenz. Er ist der Sprecher der Afrikanischen Gemeinschaft in Lübeck. Aber er fügt hinzu: "Es wäre ein Schock, sollte es einer von uns sein." Die Staatsanwaltschaft spricht von Konflikten innerhalb des von mehreren Nationalitäten bewohnten Hauses als ein mögliches Motiv.

Die extreme Einsturz-
gefahr des ausgebrannten Asylbewerberheimes Lübeck erschwerte die Ermittlungsarbeiten der Polizei am Wochenende. "Wir können uns nur sehr langsam ins Haus vorarbeiten und müssen ständig auf herunterbrechende Deckenteile gefaßt sein", erklärt Polizeisprecher Manfred Sahm. Direkt nach Beendigung der Löscharbeiten nahm eine fünfzigköpfige Sonderkommission die Ermittlungen am Brandort auf und sicherte mögliche Spuren.

"Alles könnte von Bedeutung sein: Scherben, Metallstücke und andere Kleinteile", erläuterte Sahm. Um nichts zu übersehen, werde mit Hilfe großer Siebe die feine Asche aus dem Schutt gewaschen und anschließend von Hand weitersortiert. Im Labor untersuchen andere Mitarbeiter die Fundstücke auf einen eventuellen Zusammenhang mit dem Brandanschlag.

Daß es sich um einen solchen handelt, steht mittlerweile definitiv fest. Nachdem bereits das Erdgeschoß und der erste Stock des Hauses in der Hafenstraße untersucht worden sind, konnte die Polizei mit Sicherheit den Brandherd im ersten Obergeschoß ausmachen. Eine anfängliche Spur möglicher Täter nach Grevesmühlen hat sich als falsch erwiesen.

Noch bevor ein 21jähriger Libanese unter dem dringenden Tatverdacht der Brandstiftung und des zehnfachen Mordes verhaftet worden war, versammelten sich am Sonnabend mehr als dreitausend Menschen zu einer Demonstration gegen Ausländerfeindlichkeit und für eine bessere Unterbringung von Flüchtlingen.

Auf dem Lübecker Markt formierten sich die Demonstranten zu einem Protestzug. Die Plakate wiederspiegelten die bis dahin verbreitete und selbst von Bürgermeister Boutellier geäußerte Meinung, daß die Täter der rechtsradikalen Szenen zuzuordnen seien. Vor dem Haus in der Hafenstraße legte der Zug eine Schweigeminute ein.

Neben vielen Deutschen hatten sich auch andere Nationalitäten, u. a. Kurden, Türken, Bosnier, eingereiht. Ein Block schwarzgekleideter Autonomer rief "Gestern Solingen, heute Lübeck". Vor allem für die ausländischen Demonstranten stand fest, daß der Brand auf einen fremdenfeindlichen Anschlag zurückgeht. Wer daran erinnerte, daß die Feuerursache zu der Zeit noch ungeklärt sei, erntete Hohngelächter.

Wohl hundert Lübecker und andere Bürger haben in Sichtweite der leblosen Ruine eine Art Gedenkstätte eingerichtet. Jemand hat eine Schachtel Marzipanherzen mit einem Trauerflor umwickelt und dort abgelegt.


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