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Fri Sep  4 00:27:42 1998
 

 

Jetzt habe ich weniger als nichts

LÜBECK II Der 49jährige Jean-Claude Makodila, der bei dem Brandanschlag seine
ganze Familie verlor, überlebte nur durch einen Zufall. Zuvor hatte er vergebens versucht, aus dem Wohnheim auszuziehen

DEUTSCHLAND Wer hat die Kraft, das Unfassbare mitzuteilen? Was sagt man einem Mann, der seine ganze Familie verloren hat?

Seit drei Stunden frieren zehn Männer aus Zaire in der Lübecker Bahnhofshalle.
Sie warten auf ihren Freund Jean-Claude Makodila. Am Telefon haben sie ihm gesagt. er solle sofort nach Hause kommen: Seine Frau ist tot. Als der Zug um 1.2t Uhr einrollt weiß Makodila noch nicht, daß auch seine fünf Kinder verbrannt sind. » Wo sind meine Kinder?« will der 43jährige auf dem Bahnsteig wissen. Seine Freunde pressen die Lippen zusammen, starren auf den Boden. Als er im Flüchtlingsheim an der Rabenstraße die Wahrheit erfährt, knicken dem kräftigen Mann die Beine weg.
Vor sechsJahren kam Jean-Claude Makodila aus Zaire nach Deutschland, weil er Schutz vor dem Terror-Regime des Diktators Mobutu suchte. In der Hauptstadt Kinshasa hatte seine Familie eine schöne Wohnung undjeden Tag ein warmes Essen auf dem Tisch. » Jetzt habe ich weniger als nichts«, wimmert Makodila. » Nur der Trainingsanzug, den ich trage, ist mir geblieben.«
Eine Reise hat Makodila das Leben gerettet. Am Tag vor der Lübecker Feuernacht ist er nach Aachen gefahren, hat dort eine Rede für die Christlich Demokratische und Soziale Partei Zaires gehalten und um eine Tote getrauert: Vor Wochen war ein Verwandter verunglückt, als eine Transportmaschine auf einen Markt in Kinshasa stürzte. Eine Beruhigungsspritze hat er bekommen und einen Becher mit Milch und Valium.
Doch Makodila schläft nicht ein, windet sich aufdem Sofa. Sein Körper bebt, das Gesicht ist verzerrt. Makodilas Schreie sind noch auf der Straße zu hören: »Mama-Mami!« bricht es aus ihm heraus. Draußen vor der Tür toben die Kinder anderer Flüchtlingsfamilien, Mütter wiegen ihre Babys im Arm. Ein Mann aus Angola sitzt aufeinem Stuhl undschaut in eine Kamera. Seine siebenjährige Tochter ist in den Flammen gestorben, auch seine Frau ist tot: Sie ist aus dem zweiten Stock gesprungen und mit dem Kopf auf den Boden
geschlagen. » Können Sie mir auf Deutsch sagen, wie es Ihnen jetzt geht?« fragt der Reporter vom NDR. » Kannst du fühlen, was es bedeutet. Frau und Itind verloren?« fragt ihn der Übersetzer. » Er ist illegal hier«, stellt der Reporter fest. Jean-Claude Makodila ist auf dem Sofa zusammengesunken und knetet ein Frotteehandtuch; eine Frau wischt ihm die Tränen aus dem Gesicht. Zwei Freunde sitzen neben ihm, schweigen, schauen auf den Schneemann aus Papier, der am Fensterklebt, und auf den Autltleber am Kühlschrank: »See me - hear me - touch me« steht da auf einer Deutschland-Karte in Schwarzrotgold.
Seit einem Jahr wollte Makodila fort aus seiner Unterkunft an der Lübecker Hafenstraße 52 - raus aus der Bleibe zwischen Holzstapeln, Frachtern, Speditionen und Spielhalle: zwei winzige Zimmer im zweiten Stock, eines für seine Kinder, eines für seine Frau Francoise, 32, und ihn. Wieder und wieder hat er mit dem Ordnungsamt gesprochen. DerArzt seiner Kinder hat geschrieben und sein Anwalt. » Aber die Leute haben nein gesagt«, flüstert Makodila. Es kam zum Prozeß, der Afrikaner verlor. » Der Herr vom Ordnungsamt hat Schuld« schreit Makodila auf. » Nur die Deutschen entscheiden, wie wir Ausländer hier leben.« Das Feuer in der Hafenstraße hat im zweiten Stock nur verkohlte Leichen zurückgelassen. In Kinshasa war Makodila Buchhalter, in Lübeck hat er erst nach vier Jahren die Erlaubnis bekommen zu arbeiten, immer wieder ist er zum Arbeitsamt gegangen; auch dort haben sie ncin gesagt. Seit kurzem durfte Makodila Schränke vom Möbellager in deutsche Stuben fahren.
Seine Heimat hat er seit seiner Flucht nicht mehr gesehen. Seine Söhne 1.egrand, 5, und Jeada, 3 kamen in Lübeck zur Welt, sprachen besser Deutsch als Lingala. SeineTochter Christelle hat zwei Tage, bevor sie starb, ihren achten Geburtstag gefeiert und endlich einen Gameboy bekommen; Miya, 14, besuchte mit Kindern aus 17 Ländern die Francke-Schule. und Christine, 16, hatte gerade einen Sprachkurs begonnen. » Meine Frau und ich hatten eine perfekte Ehe«, schluchzt Makodila. Sonntags sind sie mit den Kindern an den Ostseestrand gefahren. Oder sie haben Hamburger bei McDonalds gegessen, in der evangelischen St. Gertrud-Kirche gebetet.
Im Keller des Flüchtlingshauses an der Rabenstraße haben sie sich jetzt versammelt: Afrikaner aus Lübeck, Hannover und Büsum. Makodilas Schwager ist aus der Schweiz gekommen. Zwei Lübecker Frauen haben Brötchen mit Mettwurst Emmentaler und Hähnchensalat gebracht. An die zwanzig Afrikanerinnen kauern auf Matten, sie heulen, sie schreien, sie klagen; ihre Kinder kurven um sie herum. » Warum war Jean-Claude nicht im Haus?« jammert eine Frau, »er hätte die Tür auftreten können.«
Der Tod seiner Familie öffnet Makodila Türen, die ihm bislang verschlossen waren. Freunde schleppen ihn mittags um zwölf ins Lübecker Rathaus - der Bürgermeister, Michael Bouteiller erwartet ihn. Makodilas Flehen durchdringt die Fußgängerzone vor dem Ratskeller - Passanten bleiben unangenehm berührt stehen. Makodila hört nicht, was Herr Bouteiller am Mikrofon sagt - seine Freunde brauchen ihre ganze Kraft ihn auf de,cm Stuhl zu halten. Vor seiner Reise nach Aachen hat Makodilas Frau gesagt: »Du mußt immeran Gott glauben!« Nach 40 Tagen ist die Trauerzeit vorbei. Dann wird ihm ein Witwer nach alter Bantu-Tradition ein Stück Seife geben und sagen: »Geh dich waschen!« So soll das Unglück fortfließen von Jean-Claude Makodila.

ANDREAS SCHMIDT


Quelle: STERN
Datum: 25-01-1996
Ausgabe: 5
Seite: 90
Autor: *Andreas Schmidt*

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