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Fri Sep  4 00:19:17 1998
 

Manuskript für: Redaktion Neue Zürcher Zeitung

Thema:
Brandanschlag in Lübeck (BRD)/Ermittlungen der Staatsanwaltschaft

Erinnert sich noch jemand an den Brand des Ausländerwohnheims in der norddeutschen Stadt Lübeck in der Nacht zwischen dem 17. und dem 18. Januar, bei dem zehn Menschen ums Leben kamen und viele schwer verletzt wurden?

In unmittelbarer Nähe des Hauses wurden, während man noch mit der Rettung der überlebenden Bewohner und den Löscharbeiten beschäftigt war, von der Polizei die Personalien von drei jungen deutschen Männern aus der nahegelegenen Kleinstadt Grevesmühlen überprüft, die den Brand aus der Entfernung beobachteten. In seiner späteren Vernehmung sollte einer von ihnen, Maik W., zugeben, dass er noch wenige Monate zuvor Sympathien für die Rechte gehabt habe, was von mehreren seiner Bekannten nicht nur in bezug auf die Vergangenheit bestätigt wurde, und nicht nur das, sondern er wurde recht eindeutig als Hitler-Verehrer charakterisiert. Einer jener Bekannten, ein ehemaliger Mitbewohner von W., sprach sogar von dessen Absicht, irgendwo irgend etwas anzustecken... Zwei weitere der Überprüften sowie ein dritter junger Mann, der gemeinsam mit den ersteren in der Brandnacht in einen Autodiebstahl verwickelt war, hatten nach einem rechtsmedizinischen Gutachten frische Brandspuren an den Haaren, an den Wimpern und an den Augenbrauen. Maik W. erklärte das, indem er aussagte, er hätte sich eine Art `Spässchen' mit einem Hund erlaubt, auf den er eine Sprühdose gehalten hatte, deren Strahl er dann angezündet habe. Der zweite, Dirk T., behauptete, er habe sich eventuell wohl beim Anzünden eines Ofens die Haare verbrannt, und der dritte, Rene B., hatte nach seiner Darstellung versucht, mittels eines Feuerzeugs genauer den Fluss des Benzins zu beobachten, das er über einen Schlauch vom Tank seines Mopeds in einen Kanister geleitet hatte.

Die Aussagen der vier jungen Männer aus Grevesmühlen enthalten nicht nur solche leicht improvisiert erscheinende Erklärungen, sondern auch reichlich Widersprüche. Rene B. z.B. erzählt der Polizei, er habe nach der Ankunft in Lübeck in jener Nacht den Wagen, einen Wartburg, an einer bestimmten Stelle angehalten, an der zwei seiner Kumpane ausgestiegen seien und sich entfernt hätten. Als der vernehmende Beamte ihm dann den Ort auf einer Karte zeigt und feststellt, dass er in unmittelbarer Nähe des - später brennenden - Wohnheimes läge, “korrigiert” B. seine Aussage insofern, als er sie zunächst falsch wiedergibt (er sei nämlich selbst zusammen mit Heiko P. ausgestiegen), um sie dann zu widerrufen, indem er behauptet, er habe die Sache erfunden, um Dirk T. zu decken. Heiko P. dagegen gibt an, die vier hätten auf ihrem Weg nach Lübeck eine gänzlich andere Route genommen. Über diese ein wenig verdächtigen Widersprüche hinaus spricht eine Freundin von Dirk T. von einem fast neuen Rucksack, den dieser am Morgen nach dem mutmasslichen Verbrechen bei ihr zu Hause abgestellt habe: In derselben Nacht wurde in der Nähe des in Brand gesteckten Hauses ein Mann mit einem Rucksack gesehen, der offensichtlich etwas am Straßenrand suchte und dort schließlich ein Beil fand, mit dem er dann jemand anderem, der weiter entfernt und dem Betrachter der Szene nicht erkennbar war, Zeichen gab, indem er es über dem Kopf schwang. Trotz alledem und trotz weiterer Indizien befinden sich die vier schon am auf den Tag des Brandanschlags folgenden Morgen wieder auf freiem Fuss, und die Ermittlungen gegen sie werden eingestellt. Sie haben ein “perfektes Alibi”, wie der Spiegel (Nr. 23/96) schreibt: Ihr Wartburg war von der Besatzung einer Polizeistreife an einer Tankstelle gesehen worden, und zwar gegen 3.15 Uhr, d.h. zur Zeit des Brandes. An anderer Stelle jedoch wird angenommen, dass das Feuer um 3.30 Uhr bzw. “geraume Zeit davor” ausgebrochen sei. Und anzumerken ist dazu auch, dass der Autodieb Dirk T. sich nicht zusammen mit den anderen drei Männern an der Tankstelle befand, sondern sehr wahrscheinlich irgendwo mit dem gestohlenen schwarzen Golf GTI unterwegs war.

Bei der “anderen Stelle”, von der gerade die Rede war, handelt es sich um den zweiten Haftbefehl gegen den jungen Safwan Eid, den “wahren” Brandstifter. Dieser hat im Gegensatz zu den vorgenannten vier deutschen Jugendlichen den “Vorteil”, dass er, wie Otto Köhler in konkret (H. 5/96) berichtete, bereits ein vollständiges “Geständnis” abgelegt hat, und das nicht nur gegenüber seinem Gott, um genau zu sein in einem Vaterunser, wenn auch in sehr allgemeiner Form, wie das bei Vaterunsern nun mal so ist (die Staatsanwaltschaft hatte eine Wanze in seiner Zelle angebracht); sondern der 20-jährige Libanese, der verdächtigt wird, Urheber des Brandanschlags auf jenes Gebäude zu sein, in dem nicht nur seine eigene Familie und viele andere Menschen ohne deutschen Pass, sondern auch er selbst wohnte, soll die Tat auch gegenüber einer natürlichen Person gebeichtet haben, nämlich einem Sanitäter, und zwar noch in dem Bus, der einige leichtverletzte Opfer des Brandes zum Krankenhaus beförderte, und zwar in perfektem Deutsch: “Wir waren das, wir haben das gemacht”. Der Sanitäter informierte unverzüglich die Behörden. Unverzüglich: d.h. nachdem eine Prämie über 50000 Mark für Hinweise zur Ergreifung des Täters ausgesetzt worden war. Der Sanitäter leugnet jedoch, etwas von der Belohnung gewusst zu haben und hat offenbar in der Zwischenzeit weder Zeitung gelesen noch ferngesehen oder Radio gehört, und das, obwohl er durch das vermeintliche Geständnis Safwan Eids sozusagen zum Mitwisser geworden war. Auch erscheint es allerdings als ziemlich sonderbar, dass er, wie Otto Köhler schrieb, nicht gleich den im Bus mitfahrenden Polizeibeamten benachrichtigte.

Am vergangenen 3. April erhielt der junge Libanese Safwan Eid, der im Verdacht stehen soll, das Risiko in Kauf genommen zu haben, seine eigenen Familienmitglieder und die anderen Bewohner des Gebäudes zu töten, obwohl ein greifbares Motiv, abgesehen von einer von der Staatsanwaltschaft ins Feld geführten “enttäuschten Liebe” und einem im Fernsehen gesehenen Eifersuchtsdrama, dank des Engagements einer unabhängigen internationalen Kommission eine neue Rechtsanwältin, die Hamburgerin Gabriele Heinecke. Diese fragte ihn in Anwesenheit einer Dolmetscherin, was er denn genau gegenüber dem ihn belastenden Sanitäter gesagt habe. Und Safwan wiederholte es, woraufhin die Anwältin einen recht undeutlichen Klang hörte und wahrscheinlich ihren Ohren nicht mehr traute und ihn bat, es niederzuschreiben: Und Safwan schrieb: “Dir waren das, dir haben das gemacht”. Damit kamen erneut jene Nonsense-Sätze ans Licht, die höchstwahrscheinlich den Anlass für das Missverständnis des Sanitäters lieferten, der statt “dir” das Wort “wir” (mit “w” wie in “wollen”) gehört haben will. Der Inhalt der von Safwan Eid in seiner ersten Vernehmung gemachten Aussage, der, u.a., weil er nur für ein halbes Jahr eine deutsche Schule besucht hat und doch nicht ganz so gut, wie angeblich von ihm der Polizei gegenüber behauptet, deutsch spricht, bestätigt allerdings, dass die Annahme seiner Schuldigkeit einzig und allein auf diesem “kleinen” Missverständnis beruht. Zu jener Gelegenheit - und auch dort auf die Aufforderung hin, genauer zu benennen, auf wen er sich dabei bezog - erklärte er, er habe von seinem Vater ausgesprochene Sätze zitiert, der eine halbe Stunde vor der Explosion, die nach seiner Aussage dem Feuer vorausging, verdächtige Geräusche am Zaun des Grundstücks gehört hatte. “Die waren das, die haben das gemacht!”, wäre also der intendierte Sinn der Sätze gewesen.

Allerdings ist nach dem augenblicklichen Stand der Ermittlungen - zumindest dem erwähnten Spiegel-Artikel zufolge - Safwans Vater der einzige, der den Knall einer Explosion gehört haben will, oder ein lautes Geräusch: “wumm”, wie er es beschrieb, während es scheint, dass zur Stunde, in der das Feuer ausbrach, die meisten Hausbewohner schliefen und erst durch die Flammen und das Feuer bzw. durch die Schreie derjenigen, die als erste erwacht waren, geweckt wurden. Das reicht den Ermittlern jedoch, um die Hypothese einer Explosion auszuschliessen und den Vater zu verdächtigen, er wolle mit seiner Aussage schlicht und einfach seinen Sohn schützen. Die Staatsanwaltschaft geht nämlich davon aus, dass der Brand im ersten Stock des Hauses ausbrach und nicht im Erdgeschoss.

Eine Explosion oder ein plötzlicher, gewaltsamer Ausbruch des Feuers, das nach einem Schwelbrand durch das Öffnen einer Tür oder eines Fensters plötzlich vermehrte Nahrung erhalten haben könnte, würde ebenfalls eine plausiblere Anwort auf die Frage liefern, wie ein Bewohner des Heims im Erdgeschoss zu Tode kommen konnte, ohne dass an seinem Körper die Einatmung von Rauch oder tödliche Verbrennungen festgestellt werden konnten, wie in einem von der Staatsanwaltschaft selbst in Auftrag gegebenen rechtsmedizinischen Gutachten festgestellt wurde. Die Staatsanwaltschaft hält jedoch trotz aller ungeklärten Widersprüche an der Täterschaft Safwan Eids fest, indem sie allerdings noch Mittäter vermutet, während sie im Zusammenhang mit den vier deutschen `ehemaligen Verdächtigen' auf eine solche Idee wohl nicht gekommen ist und - natürlich - auch nicht auf die der eventuellen Existenz von Anstiftern oder Hintermännern.

“Schuldig” - gleichwohl, wie es den Anschein hat, einzig und allein und schlimmstenfalls, schuldig, nicht perfekt deutsch zu können - ist für sie dagegen Safwan Eid, der nunmehr seit über fünf Monaten unter extremer Beschränkung der Besuchszeit in seiner Zelle auf einen Prozess wartet - oder auf ein Wunder, dessen es nach alledem offenbar bedarf. Denn fest steht offensichtlich für die wenn auch ein wenig an Beweisnot krankende Lübecker Staatsanwaltschaft: “Die”, etwa die vier deutschen Jungs, die schlimmstenfalls alle bzw. z.T. unter ein paar kleinen Spleens wie Ausländerhass, Führerverehrung und Autoknackertum leiden - sind es nicht gewesen, sondern “wir”, die Ausländer, die sich und ihre Häuser - wohl aus Selbsthass - nun schon selber anstecken. “Wie die Serben von Sarajewo”, möchte man da fast hinzufügen.

Einigermassen fest steht das auch für Medien wie den Spiegel. Obwohl in ihm auch über einige der merkwürdigen Widersprüche berichtet wird, beginnt der bereits erwähnte Artikel gleich mit einem “Geisterhaus”, das das Brandhaus nun sein soll - also handelt es sich bei der ganzen Geschichte offenbar ohnehin nur um einen Spuk -, doch zum Glück sind die Geister, nach dem Brand und dem Tod von zehn Menschen, nun von einem “übermannshohen Zaun” umringt (und die Ausländer da raus, was man natürlich, ebensowenig wie wir eigentlich böse Absichten unterstellen sollten, nicht mehr unterstreichen muss), lässt sich im folgenden - muss rein in so einen Artikel über andere kleinkriminelle Taten wie Tötung von Ausländern - u.a. darüber aus, dass die Eids (da sieht man's wieder!) dank des zuständigen Sozialamts im Verdacht des “Sozialhilfebetrugs” (“etwa mit Autohandel”) stünden (“Dieses Verfahren läuft noch”), und fügt - obwohl die überlebenden ehemaligen Bewohner gerade das bestreiten - die “Tatsache” hinzu, es habe in dem Haus - tja, es handelte sich eben nicht um ein harmonisches deutsches Haus - “eine Menge Streit” gegeben, sowie diejenige, dass die Familie Eid es gewagt hat, gegen die Stadt Lübeck auf Unterstützung bei der Anmietung einer grösseren (und nicht mehr Ghetto-) Wohnung zu klagen (“das Verfahren ist am Tag der Feuersbrunst noch anhängig”).

Der Artikel endet aber mit einer tröstlichen Aussicht: “Sollte der Mann in einem Prozess freigesprochen werden, beteuert sein Ankläger Schultz, “wäre das `für uns keine Niederlage'.” Da bleibt einem natürlich die Frage im Halse stecken, ob denn die Einstellung der Ermittlungen gegen die vier jungen deutschen Männer dagegen wohl als Niederlage empfunden worden ist.

Bei der “Täterschaft” der Ausländer selbst handelt es sich anscheinend um keine grosse Neuigkeit mehr: Die deutschen Ermittlungsbehörden verzichten - trotz entsprechender Hinweise und Indizien - seit längerem auf die Verfolgung gewisser rassistischer und neonazistischer Spuren, um sich mit ungeteilten Kräften dem “Beweis” eines “neuen”, offenbar für sie vorrangigen Theorems zu widmen: der Schuldigkeit der Opfer. Schließlich ist ein reines Gewissen auch ein besseres Ruhekissen als die Gewissheit, dass “wir” - in gewissem Sinne - “das selber waren”. Das geht mitunter soweit, dass, wie z.B. Gaby Hommel in konkret (Nr. 3/96) berichtet hat, Ausländer in ähnlichen Fällen schon des (Feuer-)Versicherungsbetrugs beschuldigt werden, obwohl sich das - vor allem, weil die Betreffenden nie eine solche abgeschlossen hatten - dann schließlich doch nicht beweisen liess. Doch das steht dann wieder auf einem anderen Blatt, jedoch gewiss nie mehr auf der Titelseite, wenn es denn überhaupt noch irgendwo berichtet wird. Was hängenbleibt, ist ziemlich klar das, was bei unserem Sanitäter auch hängengeblieben ist - ohne dass dann meistens noch genauer nachgefragt wird. So dass “für uns”, wenn uns das allzu anklagend erscheinende “dir” zu sehr nach “ihr” klingt, eben ein “wir” daraus wird - ganz einfach. Umso schöner wird es dann noch, wenn es für eine solche Missverstandesleistung schließlich auch noch eine saftige Belohnung gibt.

Doch - wir wollen an dieser Stelle der Entscheidung des Gerichts selbstverständlich keineswegs vorgreifen.

P.S.: In einer Erklärung vom 23. Juni teilt die “Internationale Unabhängige Kommission” mit, sie habe “die wenig beruhigende Information erhalten, dass das Brandhaus von der Polizei nicht zuverlässig gesichert wird und Unberechtigte Zutritt zu dem Brandhaus haben. Möglicherweise sind auf diese Weise wichtige Beweise bereits vernichtet. Noch besorgniserregender sind Informationen, dass es Pläne gibt, das Brandhaus überhaupt ganz abzureissen.” Hatte da jemand von einem “Geisterhaus” gesprochen? Von einem “übermannshohen Zaun”?

Spenden für die internationale unabhängige Kommission werden erbeten auf das Konto Nr. 1251 453 500 bei der Hamburger Sparkasse (BLZ 200 505 50).


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Ralph Raschen
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