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IUK

Internationale Unabhängige Kommission

Mitglieder der Internationalen Unabhängigen Kommission:
Mario Angelelli, Rom • Geoffrey Bindman, London • Christian Bruschi, Marseille • Angiolo Gracci, Florenz • Beate Klarsfeld, Paris • Hans Langenberg, Utrecht • Felicia Langer, z.Zt. Tübingen • Gaetano Pecorella, Mailand • Arturo Salerni, Rom.
Sitz: Schoolplein - Advokatenkollektief, Schoolplein 5A, 3581 PX Utrecht

Korrespondenz in der BRD:
Anwaltsbüro Heinecke und Partner, Budapester Straße 49, 20359 Hamburg
Telefon: +49-(0)40-439 60 02; Telefax: +49-(0)40-439 31 83

Kto.Nr. 1251 453 500, Hamburger Sparkasse, BLZ 200 505 50,
Kontoinhaberin: Gisela Wiese, Stichwort: IUK Lübeck


Die Internationale Unabhängige Kommission (IUK) zur Untersuchung des Brandes am 18. Januar 1996 in Lübeck in der Neuen Hafenstraße 52 hat sich am 22. und 23. Juni zu ihrer zweiten Plenarsitzung getroffen.

Die IUK hat beschlossen, einen Zwischenbericht zu erstellen, vorab aber ihrer begründeten Besorgnis über Art und Ergebnis der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen Ausdruck zu geben.

Erklärung

Internationale Unabhängige Kommission
Lübeck, 23. Juni 1996


I. Die Bewohner des Gebäudes Neue Hafenstraße

Die IUK hat zur Kenntnis genommen, daß die überlebenden ehemaligen Bewohner des Brandhauses, viele von ihnen durch den Brand schwer verletzt, als Ausländer Einschränkungen hinsichtlich ihres Aufenthaltsstatus unterliegen. Alle diese Menschen sind ohne Ausnahme Zeugen der Tragödie gewesen. Um die Tragödie wirklich aufzuklären, und die Verantwortlichen dingfest zu machen, müssen sie alle verfügbar sein, um ihre Zeugenaussagen zu machen.

Die IUK nimmt deshalb mit Beunruhigung zur Kenntnis, daß einige der ehemaligen Bewohner immer noch von Abschiebung bedroht sind, und dies obwohl das laufende Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft gegen Safwan Eid noch nicht einmal abgeschlossen ist. Der Kommission ist sogar bekannt, daß ein ehemaliger Bewohner, Victor Atoe, bereits im Mai 1996 nach Nigeria abgeschoben wurde.

Mögliche Zeugen abzuschieben oder auch nur zuzulassen, daß sie vor Abschluß eines Verfahrens, in dem ihre Aussagen von Bedeutung sein könnten, von Abschiebung bedroht sind, untergräbt den Rechtsfindungsprozeß. So ist Rechtssprechung nicht möglich.

Wir empfehlen, daß allen Betroffenen verbindlich zugesagt wird, daß ihr Aufenthalt in der Bundesrepublik gesichert ist, und zwar in jedem Fall so lange, bis alle denkbaren Ermittlungen, die sich aus dem Brand in der Neuen Hafenstraße ergeben, abgeschlossen sind. Victor Atoe sollte unverzüglich die Erlaubnis erhalten zurückzukehren, falls er dies wünscht. Es sollte öffentlich bekannt gegeben werden, daß Emmanuel Uwaila nicht abgeschoben oder bestraft wird, damit er sich hoffentlich in der Lage sieht, seinen Aufenthaltsort bekanntzugeben.


II. Tatverdächtige

Die IUK ist naturgemäß nicht in der Lage, die Identität der für den Brand verantwortlichen Person oder Personen festzustellen. Es wäre weder sinnvoll noch angemessen, wenn die IUK sich dies zur Aufgabe machte, ist dies doch Aufgabe der Strafverfolgungsbehörden, die nach bundesrepublikanischem Recht vorgehen werden. Die IUK hält es aber für unabweisbar, ihre Besorgnis über bestimmte Aspekte der Ermittlungen und eine Herangehensweise auszudrücken, bei der es nach Auffassung der IUK an Ausgewogenheit und Objektivität fehlt.

Es entbehrt ganz offensichtlich jeder inneren Logik, daß jemand das Haus anzündet, in dem er wohnt und dann mit seiner gesamten Familie darin bleibt, wenn er nicht gerade selbstmörderische und mörderische Neigungen hat. Die Staatsanwaltschaft gibt zu, daß Safwan Eid, was auch immer er getan haben mag, keine Mordabsicht hegte.

Die Staatsanwaltschaft, die es fertig gebracht hat, den Beschuldigten seit dem Brand in Haft zu halten, betreibt diesen Fall gegen einen zwanzigjährigen Heranwachsenden, der nur 6 Monate in der Bundesrepublik zur Schule gegangen ist und daher nur schlecht Deutsch spricht. Sie tut dies aufgrund einer einzigen Aussage, die zu einem Geständnis hochstilisiert wird und gegenüber einem einzigen Zeugen angeblich gemacht wurde. Sie tut dies, obwohl der Beschuldigte nach Angaben eben dieses Zeugen durchaus durch den Brand unter Schock gestanden haben kann. Die Staatsanwaltschaft stützt sich auf dieses angebliche Geständnis, obwohl vier Personen bezeugen, der Beschuldigte habe unmittelbar nach dem Brand erklärt, es habe sich um einen Anschlag von außen gehandelt. Darüber hinaus übergeht die Staatsanwaltschaft eine Reihe von Widersprüchen in der Darstellung von Safwan Eids angeblichem Geständnis gegenüber anderen Personen durch den Sanitäter, bevor dieser von der Polizei vernommen wurde.

Im Gegensatz dazu wurden die zunächst Verdächtigten, Jugendliche, die neonazistische Verbindungen oder Sympathien haben, nach der Festnahme von Safwan Eid sofort freigelassen - trotz folgender Tatsachen:

  1. Bei der gerichtsmedizinischen Untersuchung nach ihrer Festnahme wurde festgestellt, daß die Jugendlichen frisch versengte Haare, Augenbrauen und Wimpern hatten.
  2. Sie wurden in der Brandnacht in unmittelbarer Nähe des Brandortes gesehen.
  3. Die Mehrzahl von ihnen hat bereits ein stattliches Vorstrafenregister bei Gewalt- und Diebstahlsdelikten. Einer von ihnen ist zur Zeit wegen der Schändung jüdischer Gräber angeklagt.
  4. Der genaue Zeitpunkt des Brandausbruchs und damit das Alibi ist ungewiß.

Der IUK lag eine Stellungnahme der Staatsanwaltschaft vor, in der diese ihre Gründe für die Einstellung der Ermittlungen gegen diese drei Verdächtigen darstellt. Alle Gründe, die die Staatsanwaltschaft hierin anführt, werfen nur weitere Fragen auf:

1. Die Staatsanwaltschaft sagt, daß die Verdächtigen sich an einer Shell-Tankstelle und am Bahnhof und nicht in der Nähe des Tatorts aufhielten, als das Feuer ausbrach. Da nicht bekannt ist, wann der Brand ausbrach und der Bahnhof nur wenige Fahrminuten vom Tatort entfernt ist, erscheint dies nicht schlüssig und bedarf weiterer Aufklärung.

2. Die Erklärungen der Verdächtigen für ihre angesengten Haare, die natürlich auf einen kurz zurückliegenden Aufenthalt an einem Brandort schließen lassen, sind wirr, widersprüchlich oder unglaubwürdig. Weitere Ermittlungen zum Wahrheitsgehalts dieser Aussagen wurden aber überhaupt nicht erst angestellt. So behauptete ein Verdächtiger zum Beispiel, er habe seine Augenbrauen und sein Haar bei dem Versuch versengt, einen Hund anzuzünden (eine "Erklärung", die von einem anderen Verdächtigen bestritten wird). Es gibt keinerlei Hinweis darauf, daß versucht wurde, diesen Hund zu finden. In der Tat scheint die Staatsanwaltschaft selbst der Erklärung des Beschuldigten nicht zu glauben, da sie behauptet: "Möglicherweise rühren die Versengungen der Beschuldigten daher, daß sie gestohlene Fahrzeuge ansteckten, nachdem diese ausgeschlachtet worden waren." Kein einziger der Verdächtigen hat so etwas je behauptet, sie gaben lediglich zu, daß sie öfters Autos stehlen. Es scheint keinerlei Beweis zu geben, der die Theorie der Staatsanwaltschaft stützt.

Die IUK ist ernstlich besorgt, daß die Staatsanwaltschaft offensichtlich weder geneigt noch imstande zu sein scheint, diese und andere Hinweise hinsichtlich der Verdächtigen aus dem nahegelegenen Grevesmühlen weiter zu verfolgen. Es sticht ins Auge und macht uns sehr besorgt, daß die Staatsanwaltschaft einerseits handfesten Hinweisen gegen diese Personen nicht nachgeht, andererseits Safwan Eid aufgrund eines angeblichen Geständnisses verfolgt.

Die IUK empfiehlt, daß die Ermittlungen gegen die Verdächtigen aus Grevesmühlen wieder aufgenommen werden


III. Der Hauptzeuge der Staatsanwaltschaft

Weiter oben in dieser Erklärung wurde bereits erwähnt, daß sich die Staatsanwaltschaft auf die Aussage eines ehrenamtlichen Sanitäters stützt, der sich am Brandort befand. Die IUK hat nicht die Absicht, dessen Glaubwürdigkeit in Zweifel zu ziehen. Er hat den Brandopfern ganz offensichtlich wertvolle und mutige Hilfe geleistet. Die IUK stellt jedoch mit Besorgnis fest, daß seine Berichte über das, was Safwan Eid ihm gegenüber geäußert haben soll, in sich widersprüchlich sind, und es keinerlei unabhängige Bestätigung für die Berichte dieses Zeugen gibt.


IV. Der Brandausbruch

Die IUK ist besorgt darüber, daß Unklarheiten und Widersprüche über Ursache und Ausbruchsort des Brandes nicht weiter aufgeklärt wurden. Es sieht so aus, als sei die Staatsanwaltschaft schon sehr früh zu ihrer Meinung gekommen, das Feuer sei im ersten Stock ausgebrochen. Sie behauptet auch, daß dies durch Safwan Eids angebliches Geständnis bestätigt werde. Dies trifft nicht zu.

Im Gegensatz zum Sachverständigengutachten, auf das sich die Staatsanwaltschaft stützt, läßt die Aussage von Professor Achilles es als mindestens ebenso möglich erscheinen, daß der Brand im Erdgeschoß ausgebrochen ist. Nicht nur das: Es erscheint durchaus möglich, daß der Brand von Personen gelegt wurde, die ins Haus eingedrungen sind, oder von einer Person oder mehreren Personen, die einen Brandsatz durch ein Fenster geworfen haben.

Die IUK nimmt zur Kenntnis, daß Professor Achilles vom Gericht als Gutachter bestellt worden ist. Die IUK geht davon aus, daß er ein zusätzliches Gutachten erarbeiten wird, von dem die IUK hofft, daß es zur Aufklärung der gegenwärtigen Widersprüche in der Beweislage hinsichtlich des Brandausbruchs beiträgt.

Die IUK hat die wenig beruhigende Information erhalten, daß das Brandhaus von der Polizei nicht zuverlässig gesichert wird und Unberechtigte Zutritt zu dem Brandhaus haben. Möglicherweise sind auf diese Weise wichtige Beweise bereits vernichtet. Noch besorgniserregender sind Informationen, daß es Pläne gibt, das Brandhaus überhaupt ganz abzureißen.

Wir empfehlen dringend, daß alles unternommen wird, um sicherzustellen, daß das Brandhaus solange erhalten wird, bis alle Ermittlungen, die sich aus dem Brand ergeben, abgeschlossen sind.

Wir empfehlen auch, daß Professor Achilles oder, falls dies sachdienlicher sein sollte, ein anderer internationaler Sachverständiger gebeten wird, Richtlinien für Untersuchungen beim Verdacht von Brandanschlägen zu erarbeiten, um zu gewährleisten, daß zukünftige Vorfälle voll und eindeutig aufgeklärt werden können.


V. Der Lauschangriff

Die Staatsanwaltschaft hat die Gespräche zwischen Safwan Eid und seinen Verwandten im Gefängnis abgehört.
Auszüge aus diesen abgehörten Gesprächen werden in der Anklageschrift zitiert. Es wird behauptet, daß sie ein Geständnis von Safwan Eid enthalten.

Der Rückgriff auf Abhörmaßnahmen ist überraschend. Widerspricht das nicht dem Recht auf Privat- und Familienleben, das jedem Menschen zusteht, auch Beschuldigten? Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention formuliert dieses Recht mit Einschränkungen. Nach Auffassung der Kommission treffen diese im vorliegenden Fall nicht zu.

Die von der Staatsanwaltschaft gewählte Methode zur Analyse dieser Auszüge ist ebenfalls überraschend. Es ist eine einseitige Analyse, um die Auszüge zu Lasten des Beschuldigten auslegen zu können. Aber nicht einmal die Dolmetscher können sich über den Inhalt der Auszüge einigen. Das Ergebnis dieses Lauschangriffs, der die Grundrechte weitgehend mißachtet, enthält nichts, was die Schuld von Safwan beweist. Er gibt lediglich Anlaß zu Spekulationen, die die Staatsanwaltschaft als Geständnis präsentiert.

Annex
Unsere Anmerkungen und Bemerkungen beruhen auf Stellungnahmen sowohl der Staatsanwaltschaft als auch der Verteidigung. Die IUK hat Unterstützung vom Rechtsbeistand des Beschuldigten erhalten. Die IUK hat der Staatsanwaltschaft angeboten, sich mit ihr zu treffen. Die Staatsanwaltschaft hat abgelehnt. Nach wie vor ist die IUK bereit, sich mit der Staatsanwaltschaft zu treffen und sich mit allen Kommentaren oder Vorschlägen zu befassen, die diese machen möchte.


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Last modified: 03/09/98